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Birgit Kreipe: evolution der schatten

Werkstatt/Reihen > Reihen > Das besondere Gedicht

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Foto: Renate von Mangoldt
Birgit Kreipe

evolution der schatten
           mit Francesca Woodman (angel series/ untitled)


1
ist da eine tür, schält sich ein körper
aus der tapete, die in fetzen herabhängt?
oneiroide, seelen aus wasser. milchtür
von der die farbe in weißen pusteln abplatzt.

schüchtern hält sie tapete vor ihre scham
vor ihr gesicht. sind das füße, oder krallen
und ein schweif hängt wie ein rußstreifen an –
splitter, um das fenster herum eine corona

risse, wie blitze. dämmerung füllt das gebäude
mit kleinen nebeleinheiten, unklarer schuld
löst räume aus ihren verankerungen:

           der kamin verschiebt sich, beine ragen heraus
           eine riesige motte, groß wie ein schiild, kriecht
           über die wand als abgelöster behang

und die schemen von raubvögeln, auf milchglas geklebt
werden gefährlich. schritte wirbeln dunkle materie auf
dunkelheit, die aus dem radio kommt, oder
warum erschreckt mich das milchglas.


2
rest eines engels? zwei leintücher hängen
schräg, leeres flügelpaar, schwebende flächen
das fenster gleißt auf, eine art überlichtung
durch welche die sprossen kaum sichtbar sind.

weiße dunkelheit, eis, oder sehr helles blond
eines mädchens. durch licht erzeugte abwesenheit
explosion, oder lange belichtung, offen
die blende, in der alles, was jetzt nicht photon ist

verschwindet. hier muss die pumpe sein, im zentrum
die onyxpumpe, füllt den raum von der decke her
mit winzigen schwarzen strafen.

           geht hier ein verletzter engel um
           essenz einer elenden nachricht
           beiläufig konsumiert wie eine handvoll nüsse

drängt eine blinde erinnerung durch alle schranken?
während draußen jemand das universum
zusammenzwingt mit einer riesigen lötlampe
hinter schutzkleidung, geschwärztem glas


3
auf dem kornboden lärm, katastrophenerwartung
schimmel darüber, tupfen zerrissener spitze.
eine wolke im sturzflug, trockener kalk
das gebäude jetzt hinter mir, in schichten

weichen, grauen papiers. ihr schatten
mit ausgestreckten armen, schwindlig vom licht–
oder drehmoment, die hände zerrieseln
zu flimmern, staub.

nichts steht still
oder bricht das schweigen
während sich das universum immer mehr ausdehnt

           und alles, was jetzt nicht photon ist
           verschwindet, in einer zukunft vielleicht
           einem luftzug, raubvogel-luftzug.

für einen moment sieht es aus, als hielte
dein schatten zwei strahlen, zügel, in seinen händen.
eine schwarze schicht löst sich, asche, innen.
gesicht unkenntlich. haare in strähnen. pünktchenkleid.


In Birgit Kreipe: Aire. Gedichte. Berlin (kookbooks Verlag) 2021. 96 Seiten. 19,90 Euro.
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