Bernardine Evaristo: Mr. Loverman
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Stefan Hölscher
Bernardine Evaristo: Mr. Loverman. Roman. Übersetzt von Tanja Handels. Stuttgart (Tropen Verlag – Klett-Cotta) (2013) 2023. 336 Seiten. 25,00 Euro.
Ein ereignisreiches Coming-out mit 74
Gute Komödien sind deutlich seltener als gelungene Dramen. Vielleicht, weil es nicht so einfach ist, die Leichtigkeit der Komik mit inhaltlicher Substanz zu verbinden; vielleicht, weil sprühende Leichtigkeit, die nicht kalauerhaft, nicht rührselig oder nicht ständig untergürtellinig daherkommt, an sich schon ziemlich anspruchsvoll ist; vielleicht auch, weil es im komödiantischen Metier für die Autor*innen noch wichtiger ist, eine liebevoll-wertschätzende Haltung zu ihren vielleicht ja auch ziemlich schrägen Figuren einzunehmen, um sie mit Würde ins komische Licht zu setzen und nicht einfach der Lächerlichkeit preiszugeben. Hinzu kommt, was die Sache ebenfalls nicht einfacher macht, dass der Handlung guter Komödien immer auch ein ernster und ernst-zunehmender Kern zugrunde liegt, auch wenn dessen Ummantelung gekonnt unsere Lachmuskeln reizt.
Das jüngst auf Deutsch erschienene neue Buch „Mr. Loverman“ von Bernardine Evaristo ist nach solchen und sicher auch darüber hinaus noch weiter zu nennenden Kriterien eine rundherum gelungene Komödie, auch wenn es sich dabei gar nicht um ein Stück für die Bühne, sondern um einen gut 300 Seiten langen Roman handelt, dessen Story mit wenigen Worten so wiedergegeben werden kann: Der aus ärmlichen Verhältnissen in Antigua stammende, aber seit Jahrzehnten als verheirateter Mann und Vater zweier Töchter in London lebende und infolge cleverer Immobiliengeschäfte mittlerweile auch sehr vermögende Barrington Jedidiah Walker, hat mit seinen 74 Jahren sein Coming-out, das ihn zur Trennung von seiner ungeliebten Frau Carmel und zur offiziellen Hinwendung zu Morris, seinem Freund und Liebhaber seit Jugendzeiten motiviert. So einfach, wie es klingt, geht die Sache allerdings nicht über die Bühne, und das liegt nicht zuletzt auch daran, dass Barry ein begnadeter Verdränger und Vermeider ist, der immer wieder mit dem Gedanken an ungeschminkte Wahrheit spielt, statt Klartext dann aber doch meistens virtuose Ausweichbewegungen in Wort und Tat produziert. Natürlich kommen der Umsetzung von Barrys Scheidungs- und Neuverbindungsplänen auch eine ganze Reihe äußerer Ereignisse in die Quere, zum Beispiel der Tod seines gewalttätigen Schwiegervaters, der seine Frau auf unabsehbare Zeit zurück in ihre karibische Heimat führt; der Aufenthalt seines 17jährigen ebenso bildungs- wie partybeflissenen Enkels Daniel in Barrys Haus, der in einer wüsten Eskalation gipfelt und immer wieder auch die sehr speziellen Aktionen von Donna und Maxine, Barrys erwachsenen, aber – jede auf ihre Art – reichlich neurotischen Töchtern.
In dem für sie typischen fast interpunktionslosen Fließtext gelingt es Bernardine Evaristo, uns nicht nur in Barrington einen, bei Lichte betrachtet, ziemlich komplexen Charakter äußerst lebendig vor Augen zu führen, sondern die anderen Personen aus Barrys Familie und seinem Umfeld mit all ihren Besonderheiten und Verschrobenheiten gleichermaßen. Man kann die Personen und das, was sie tun, geradezu sinnlich miterleben und bleibt angesichts der turbulenten Ereignisse, Überraschungen und Verwicklungen, die vor allem nach den ersten etwa 80 Seiten deutlich Fahrt aufnehmen, gespannt dabei. Und das, was man auf diese Weise erlebt, ist immer auch ein Stück Gesellschafts- und Kulturgeschichte – erzählt mit virtuoser Leichtigkeit. Und natürlich ein intensives Eintauchen in das individuelle Erleben der dramatis personae, so wie etwa hier in die sehnsuchtsvolle Erinnerung von Carmel, Barrys sexuell stark deprivierter Frau, die sich auf eine der wenigen Romanzen in ihrem Leben zurückbesinnt:
und du konntest gar nicht anders als dich fragen, wie’s wohl wär, einen
linken englischen Heiden mit Bart zu küssen, und wenn er Hallo, Carmel
zu dir sagte, hörtest du nur noch
Ich will mit dir schlafen, Carmel
als du ihm im Spaß sagtest, er sollte sich mal rasieren, tat er’s
als du ihm im Spaß sagtest, er sollte sich mal einen schickeren Anzug
kaufen, tat er’s
und als er ganz unaufgefordert in Schnürschuhen aus Leder ankam
(statt dieser schlurfigen Jesuslatschen)
da wusstest du, jetzt gab’s kein Zurück mehr
selbst der Gedanke an einen rosa-olivfarbenen Schniedel (welche
Farbe es wohl genau sein würd?) war auf einmal ganz reizvoll, sosehr
dich die Vorstellung, so ein seltsames Objekt zu streicheln, auch in angstvolle Aufregung versetzte
und beim Aufwachen war er in deinem Kopf, liebkoste mit seinen
Bärenhänden deine Schenkel, und
beim Duschen seifte er dir Brüste und Pobacken mit deinem Patschuli-
Badeöl ein
bis du’s, wenn’s im Büro Zeit für die Mittagspause war, kaum noch erwarten konntest, dass er auf eine Tasse Tee und ein paar süße Teilchen in dein Büro kam
du spürtest den zuckrigen Teig von Schmalzkuchen … Mangobiskuit …
Kokos-Limette-Sahne
auf der Zunge, bis er zerging in deinem
warmen speichel- und teefeuchten Mund
und du warst dankbar, so dankbar, dass dein gewaltiger Schreibtisch
eine Schranke bildete zwischen ihm und dir
mit deiner nagelneuen elektrischen Schreibmaschine, einer Smith-
Corona Typetronic, mitten drauf
und dem strammstehenden Regiment von Leitz-Ordnern direkt an
der Front
die deinen Anstand und deine Tugend verteidigten…
…und völlig verloren warst du, als auch noch das Ffffffaxgerät plötzlich
surrrrrrend ansprang
und so eindeutig, physisch, schamlos, orgasmisch
die Daten und Statistiken aus dem Finanzamt ausspie
beharrlich nicht enden wollende fließende Ströme weißen Papiers in
den Raum ergoss
ohne Anstand oder Mäßigung, zügellos
und du wusstest, du musstest es ausschalten oder jede Beherrschung
verlieren
unter seinem warmen, festen, wissenden Blick
der dich nicht losließ, denn nach einem Dreivierteljahr Geduld
hielt er nicht mehr hinterm Berg damit, was er wollte
also versuchtest du
versuchtest mit aller Kraft, dich auf das harmlos öde graue Notizbuch
zu konzentrieren
den nichtssagenden, harmlosen grauen Karteikasten
den altmodischen Bleistiftspitzer
aufrecht … festgenagelt
am vorstehenden Schreibtischrand
auf zwei Schachteln mit langweilig-harmlosem Tipp-Ex
von seiner Hand auf deine Brüste getupft wie indigene Kunst
so, wie er dich ansah, fragtest du dich, ob sich deine Brustwarzen
durch die Bluse zeigten
dein goldner Jesus am Kreuz (für dich gestorben, damit du so was
machst?), der an seiner Kette baumelte, direkt über deinem
Schokoladenschmelz-Deeeee-koooooolll-teeee
im Wissen, dass deine Panasonic-Telefonanlage mit Anrufbeantworter
stumm geschaltet war
spieltest du nervös mit den Kulis und Bleistiften in deiner Charles-und-
Diana-Hochzeitstasse, die du gutmütig gegen seine monarchiekritischen
Anwürfe verteidigt hast, als er die ersten Male vorbeikam
und als er aufstand, zur Tür ging und ganz langsam den Schlüssel
drehte
vorher kurz auf Stimmen horchte, die draußen im Flur vorbeigingen
überlegtest du noch, die Diskussion wieder aufzugreifen, dass dir
gegenüber kein Mensch Diana schlechtmachen dürfe, so eine reizende,
schöne, kultivierte Dame und außerdem sehr gut für die königliche Familie, Charles hatte großes Glück, sie zu kriegen
aber eh du dichs versahst, fasste er dich schon an, da und da und dann
überall
und du spürtest, wie dein
Ich eine andere wird
eine, die du niemals warst
dein Ich
zur Fleischfresserin bist du geworden, zur Allesfresserin, du wurdest gierig, verzehrend, verzehrt
spürtest deinen Nacken, deine kitzligen Ohrläppchen, die Unterarme,
den Bauch, den Bauchnabel, die Achselhöhlen, deine Kniekehlen, die
Wirbelsäule, dein Zauberdreieck, die Schlüsselbeine
seine Bisse
wie er das Fleisch deiner breiten, fraulichen Hüften knetet
und da, Reuben, hier … Reuben, hier, Reuben, hier und da
am Aktenschrank, von dem die Grünlilie ihre Spinnenbeine herabbaumeln ließ
dicht am Sasco-Jahresplaner – 1985 … 1986, 1987, 1988, 1989
auf dem vorschriftsmäßig robusten graugerippten Teppichboden, der
im ganzen Rathaus und sämtlichen Verwaltungsbüros im ganzen Bezirk
zum Einsatz kommt
da, von vorn, von hinten, von der Seite
und du
warst wie
e i n T i e r
Auch wenn „Mr. Loverman“ sicher nicht das ist, was man „große Literatur“ mit vermutlich lange nachklingender Wirkung nennt, so ist es doch sicher das beste Stück queerer und, eigentlich könnte man auch sagen, schwuler Prosa, das mir in den letzten 12 Monaten untergekommen ist: ein hoch-vitales, gekonnt fabriziertes Lesevergnügen, das vielleicht auch einen Hinweis darauf geben kann, dass man nicht unbedingt schwul sein muss, um einfühlsam und bildreich die Welt eines schwulen Protagonisten zu beschreiben.
Wir danken queer.de für die
freundliche Erlaubnis der Zweitverwertung dieses Beitrags.