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Barbara Köhler: Istanbul, zusehends

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Jan Kuhlbrodt


Schnitt durch die Zeitachse



Neben Klings gebrannter Performance erschien in diesem Jahr in der von der Kunststiftung NRW herausgegebenen Buchreihe im Lilienfeld Verlag auch Barbara Köhlers Buch Istanbul, zusehends. Es kombiniert Texte Köhlers mit Fotografien (Lichtbildern), die während eines Aufenthalts der Künstlerin am Bosporus entstanden sind. Schon seit den neunziger Jahren arbeitet die Autorin an den Grenzen der Genres.

An der Herstellung solcher konkreter turning points, solcher Meridiane, an denen sich Dinge und Sprachen verwandeln und zu etwas Uneindeutigem werden, das differente Sinne eröffnet, arbeitet Köhlers Dichtung fortwährend.
Das schreibt Johann Reißer in seinem Buch Archäologie und Sampling, das sich mit den künstlerischen Verfahren von Brinkmann, Kling und Köhler befasst. (Ein Buch übrigens, welches einiges zum Verständnis der Genese zeitgenössischer Dichtung beiträgt und an anderer Stelle eingehender zu würdigen wäre.)


Zurück zu Köhler: Sie befindet sich gerade zu jener Zeit in Istanbul, als sich die Auseinandersetzung um den Taksim-Platz anbahnt. Ihre Beobachtung hält den Moment, in dem sich aus dem Verkehr Widerstand herausschält:

                                           … wie
man da irgendwie durchkommt, ohne
überrollt zu werden, schaut, dass
man weiterkommt, trollt sich oder
bleibt einfach stehen – einfaches
Stehenbleiben aber kann schon als
Widerstand gelten: da steht einer

auf dem Taksim, schaut nach vorn.


...

Dieser Moment, womöglich dieser Beginn einer Erhebung, diese Beobachtung eines möglichen Beginns, sagt auch einiges über die Haltung der Autorin aus. Im Innehalten fällt der Blick auf das Übereinander der geschichtlichen Ereignisse, von der Antike bis zum Zeitpunkt, den wir als Jetzt zu bezeichnen gewohnt sind, die für den Moment sich als simultane Abläufe darstellen. Ein Verfahren, dass schon lange prägend ist für die Arbeiten Barbara Köhlers. Die Schichtung, die ein zeitliches Nebeneinander offenbart, wird an der Struktur der Stadt Istanbul sichtbar, die Antike wird gegenwärtig als Moment des Heute. Verstärkt wird das noch im Blocksatz der Texte, der mit dem Nivellierenden des optischen Eindrucks auf den Fotografien korrespondiert.

Sehr instruktiv auch das Nachwort, das ein Essay ist. Hier macht die Autorin die kulturellen Differenzen deutlich, die sie angesichts der Istanbuler Bilderflut erlebt.


Vielleicht ja bloß, dass wir davor stehen: nur Vorgestellte sind – und keine Vorbilder; weder abgebildet noch festgestellt, dass uns Raum gegeben ist, Bewegungsraum diesseits der Bilder und ihnen gegenüber, den Bildern gegenüber, die wir machen und die uns sehen machen könnten, göstermek, oder uns etwas vormachen, vorspiegeln: görünmek.

Wir benutzen eingeübte Gewissheiten, um unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen zu ordnen. Köhler lehrt uns, diesen Gewissheiten zu misstrauen.


Barbara Köhler: Istanbul, zusehends. Gedichte, Lichtbilder. Düsseldorf (Lilienfeld Verlag) 2015. 80 Seiten. 18,90 Euro.

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