Baldur Óskarsson: Abwege
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Baldur Óskarsson
Abwege
Zwei Gedichte aus: Dröfn og Hörgult / Woge und Flachsgelb,
Ormstunga, Reykjavík 2014
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
Abwege
Maße und Gewichte
haben ihre eigene Seele
schwer zu entschlüsseln –
schwer anzunehmen
die neuen Wörter
Es ist unser altes Blut
sagt der Dichter
Und wie kann man es erneuern?
Lassen wir die Gedanken schweifen
lassen wir sie den „Kurs“ bestimmen
ein Hund läuft hinterher –
es ist nicht schwer die Richtung zu
finden
Ein Stadion
Du stellst dir einen Tunnel vor
das Herz ist darin unterwegs
Bald wird das Herz
durchbohrt von einem gebogenen Schwert
Du prachtvoll gekleideter Torero
lass sie im Sand liegen
deine schwarze Kappe –
Die Mutter Gottes wird
kommen und dich segnen
Sei du dann so nett und komm
zu Weihnachten in die Kapelle
Baldur Óskarsson, geboren 1932
in Hafnarfjörður, gestorben 2013 in Reykjavík, wuchs in einem Gebiet im Süden
Islands auf, in dem die „Njála“, die wohl literarischste unter den
Isländer-Sagas, ihre Handlung nimmt. Er studierte zunächst in Schweden,
anschließend Kunstgeschichte und spanische Literatur in Barcelona. Zurück in
Island, arbeitete er als Journalist bei Presse und Rundfunk, von 1965 – 1973
war er Rektor der Kunstschule von Reykjavík. Nach einer
Kurzgeschichten-Sammlung und einem Roman veröffentlichte er mit Svefneyjar (Schlafinseln)
1966 seinen ersten Lyrikband; danach widmete er sich literarisch ausschließlich
dieser Kunstform und publizierte mehr als fünfzehn weitere Gedichtbände, von
denen manche auch Übersetzungen enthalten, zum Beispiel von Lorca, Eluard,
Eliot, aber auch von deutschen Dichtern. Für sein Werk wurde ihm 2011 der Preis
des Schriftstellerfonds des Isländischen Rundfunks (RÚV) zuerkannt.
Eine Auswahl seiner Gedichte erschien
ins Deutsche übertragen verstreut in mehreren Ausgaben der Zeitschrift für
Literatur, Kunst und Kritik die horen, hier zuletzt im Jahr 2011 im Band
242 Bei betagten Schiffen, einem Band über Islands Atomdichter, den
Erneuerern der isländischen Dichtung, als deren unmittelbarer Nachfolger er
gilt.
Als Ergebnis eines gemeinsamen
Übersetzer-Workshops mit deutschen Lyrikern ist Baldur Óskarsson in der 1992
publizierten Anthologie Ich hörte die Farbe Blau zu lesen sowie in der im
Jahr 2000 veröffentlichten Anthologie Wortlaut Island (beide in der edition
die horen). Ebenso im Jahr 2000 erschien im Buchkunstverlag Kleinheinrich
die hierzulande wohl umfangreichste Auswahl seiner bis dahin veröffentlichten
Gedichte: der zweisprachige Band Tímaland / Zeitland, illustriert mit
Aquarellen von Bernd Koberling.