Àxel Sanjosé: Februar
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						Àxel
						Sanjosé
						
						Februar
						
						Hier sind wir
						wir.
						
						Für immer 
						
						weht der
						Schnee nach Westen,
						
						bleibt liegen
						nicht,
						
						dem Land der
						Hesperiden zu,
						
						wo alles
						aufhört,
						
						wo alles
						endlich aufhört.
						
						Im Halbhellen
						hissen wir.
						
						Àxel
						Sanjosé: Das fünfte Nichts. Gedichte. Rimbaud Verlag, Aachen 2021, hier S. 15
Michael Braun
Das
						hellere Grau
						
						Adnoten zu
						einem Gedicht von Axel Sanjosé
						
						„Vielleicht
						werden Sie halbhell. (Dann wären Sie ein Glücklicher zu nennen.)“ Diese
						aufschlussreiche Notiz findet sich in einer Geschichte des ironischen
						Expressionisten Alfred Lichtenstein (1889-1914). Verfasst hat sie dort ein
						junger Zögling in einer Anstalt für nervenkranke Kinder, kurz bevor er sich zum
						Suizid entschließt. „Halbhell werden“: Damit wird von Lichtensteins
						todessüchtigem Helden offenbar ein Zustand des Illuminiertseins bezeichnet, ein
						Zwischenbereich, gleich fern vom traditionellen Ideal der „Aufklärung“ wie vom
						geistverlassenen, abgründigen Dunkel. „Halbhell“ ist auch das existenzielle
						Lichtstadium, das Àxel Sanjosés Gedichten eigen ist, eine Helligkeitsstufe, die
						dem Morgengrauen näher ist als einem klar erleuchteten Nachthimmel.  Diese Form gedämpfter Helligkeit wird in
						einem anderen Gedicht Sanjosés als „das hellere Grau“ definiert. Dieses
						„hellere Grau“ ist an dieser Stelle sogar mit dem „ewigen Leben“ gekoppelt.
						
						     Nun heißt
						es in „Februar“, das in einen Zyklus von jahreszeitlich gefügten Gedichten
						gestellt ist, die sich zu einem kleinen Jahresring fügen: „Im Halbhellen hissen
						wir.“ Wenn wir etwas „hissen“, werden gemäß der traditionellen Wortbedeutung Segel
						oder Fahnen in die Höhe gezogen. Bei Àxel Sanjosé, dem 1960 in Barcelona
						geborenen Hermetiker, bleiben eindeutige Botschaften auf Fahnen ausgespart. In
						seinem faszinierenden Gedichtband „Das fünfte Nichts“ orientiert er sich an
						Immanuel Kants „Tafel des Nichts“ aus der „Kritik der reinen Vernunft“, um in
						Abgrenzung von den dort entfalteten vier Kategorien des Nichts für seine Poesie
						ein fünftes Element des Nichts als Vektor poetischer Energie zu gewinnen. Am
						Anfang des Bandes steht der Zyklus aus kalendarisch gefügten
						Erkenntnisaugenblicken, am Ende – und damit auf Kants Ort des Denkens und
						Lebens deutend - eine „Königsberger Phantasie“, in der sich unterschiedlichste
						Tonlagen suggestiver Dichtung – vom Kirchenlied Paul Gerhardts bis zu Eduard
						Mörikes elegischer Landschaftsmalerei, die der Philosoph Adorno als
						„geschichtsphilosophische Sonnenuhr“ zu nutzen empfahl - überkreuzen. 
						
						Die
						„Königsberger Phantasie“ setzt ein mit einem fast romantisch anmutenden Refrain
						„O Herbstlichkeit, du schöne Maid“, der zugleich das Oktobergedicht des Anfangs
						aufnimmt und nur den Ort „Triest“ durch „Taschkent“ ersetzt. Während es hier
						eine Bewegung von West nach Ost gibt, dreht das Gedicht „Februar“ die
						Bewegungsrichtung wieder um. 
						
						     In
						„Februar“ lässt Sanjosé sein lyrisches Kollektivsubjekt nämlich auf einen
						Sehnsuchtsort zusteuern, der am äußersten westlichen Rand der Welt liegt – die
						Gärten der Hesperiden, wo zugleich eine finale Erfahrung lauert: „wo alles
						aufhört,/ wo alles endlich aufhört.“ An diesem entlegenen Ort steht laut mythischer
						Überlieferung auch ein Baum mit goldenen Äpfeln, dessen goldener Schimmer
						bereits am Anfang von Sanjosés Jahresring präsent zu sein scheint („Der Rahmen
						blättert Gold ins Bild,/ hier standen wir schon lange.“). Um diesen Wunderbaum
						rankt sich ein göttliches Geheimnis: Seine goldenen Äpfel verliehen den Göttern
						ewige Jugend. Daher setzten sie alles daran, dieses Privileg zu bewahren und zu
						verhindern, dass auch die Menschen von den Äpfeln kosteten und dadurch
						unsterblich wurden. Àxel Sanjosé verweist nun auf die Hesperiden als einen Ort,
						an dem „alles endlich aufhört“. Diesen Ort am Rand, an dem Poesie ins
						Verstummen übergeht, hatte der Dichter schon in seinem Band „Anaptyxis“ (2013) markiert.
						Jetzt ist er ihm ganz nahe gekommen. 
						
						 
 
