Àxel Sanjosé: Die großen Amben der Ewigkeit
Gedichte > Münchner Anthologie
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Àxel Sanjosé
Die Großen Amben
der Ewigkeit
1
Ein Taxi fährt
über den Friedhof
von Osten her, wo
die Dunklung
mählich aufsteigt.
Die Seraphim
singen weh
und voller Rückkopplungen.
Asymmetrisch gegen
Ende
und in einfachen
Gebinden
kommt das Sein ins
Hauptdepot.
2
Der Hauch dünnt aus,
ungewiss wie
Autogeräusch,
das sich immer
weiteren Fernen hingibt,
wie Kerzenhalter,
die im Zwielicht
nach etwas anderem aussehen,
die beim
Einschlafen sich selbst ähneln
und dich segnen.
Die drei Treppen:
Gold,
Sehnsucht und Gnade.
Aus Àxel
Sanjosé: Das fünfte Nichts. Gedichte. Aachen (Rimbaud Verlag) 2021. 64 Seiten. 20 Euro.
Gunnar Sohn
Die großen Amben der Ewigkeit: Ein Versuch über Hermetik, poetische Verfahren und die Reise der Sprache
Es gibt ein Sprechen, das nicht mehr beschreibt. Ein Sprechen, das aufbricht. In dem Gespräch mit Axel Sanjosé, Dichter, Sprachwissenschaftler und Hermetiker wider Willen, kündigte sich ein solches Sprechen an: vorsichtig tastend, poetisch forschend, nicht erklärend – sondern klanglich erkundend.
Sanjosé, der in einem seiner Gedichtbände den Ausdruck „die großen Amben der Ewigkeit“ wählt, hat damit ungewollt das Emblem einer Philosophie der Zwischentöne geliefert. Was ist eine Ambe? Was meint dieses Wort, das zwischen Neologismus und mathematischer Kategorie oszilliert? Ist es nicht genau das: ein poetisches Verfahren, das zugleich Verweigerung und Möglichkeit ist, ein Dazwischen aus Notwendigkeit und Zufall, ein Bogen über die Modalitäten Kants hinaus, hinein in ein fünftes, nicht benanntes Feld?
„Das fünfte Nichts“ – so der Titel seines Bandes – ist mehr als nur ein Wortspiel auf die vier Kategorien Kants. Es ist eine Infragestellung des Systems durch das poetische Verfahren selbst. Eine Infragestellung, die nicht zerstört, sondern erweitert. Wenn Kant in der Modalität das Verhältnis von Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit beschreibt, dann stößt Sanjosé mit seinem „fünften Nichts“ das Fenster zu einer Sphäre auf, die nicht kategorisierbar ist – und dennoch gespürt werden kann. Vielleicht ist diese Ambe das Flimmerhärchen im Sinn Gottfried Benns: eine minimale Erschütterung der Oberfläche, eine kleinste Abweichung im Gefüge des Sagbaren.
Der hermetische Gestus, so wird im Gespräch deutlich, ist kein Rückzug in die dunkle Kammer der Unverständlichkeit. Vielmehr ist er ein tastender Versuch, im Schweigen das Sprechen hervorzubringen – oder genauer: im Unausgesprochenen jene Resonanzen hörbar zu machen, die durch reine Mitteilung verstummen würden. Sanjosés Lyrik kennt die referentielle Funktion der Sprache, Jakobsons kalte Achse des Mitteilens, und doch verweigert sie sich ihr. Sie strebt nach einer semantischen Osmose – Klang und Bedeutung, Gebilde und Gebären, alles soll sich durchdringen, alles ist ambig.
Was geschieht in einem Gedicht, das wie ein Taxi über den Friedhof fährt, in dem die Seraphim asymmetrisch singen, das Sein ins Hauptdepot zurückkehrt und Kerzenhalter sich im Zwielicht in etwas anderes verwandeln? Hier wird keine Welt beschrieben, sondern eine Welt hervorgebracht. Es ist eine Reise, die mit Worten beginnt, aber nicht mit Wissen endet. Eine poetische Bewegung, die keinen Zielpunkt kennt, sondern sich dem Verfahren selbst verdankt.
Hermetik wird hier nicht als Stil verstanden, sondern als Haltung. Als Methodologie des Uneindeutigen. Das Gedicht ist der Ort, an dem sich Sprache ihres eigenen Schweigens bewusst wird. Axel Sanjosé verweist in diesem Kontext auf Mallarmé, auf dessen Idee vom rhythmischen Knoten – jener inneren Bewegung, die jeder Mensch in sich trägt und aus der heraus sich Dichtung als Akt der Selbstauslegung und Weltberührung zugleich vollzieht. Der rhythmische Knoten ist kein Stilmittel, sondern das poetische Äquivalent zur Seele.
Im Zentrum aller hermetischen Praxis steht das Paradox des Ausdrucks: Wie kann Sprache etwas sagen, das sich dem Sagen entzieht? Diese Spannung durchzieht Mallarmés Un coup de dés jamais n’abolira le hasard, den großen Würfelwurf, der die Typographie zum Klangkörper werden ließ. Nicht das Wort sollte Bedeutung tragen, sondern seine Lage im Raum, sein Schweigen, seine Nachbarschaft, sein Echo.
Auch Paul Celan – oft zu Unrecht in die Rhetorik der Unverständlichkeit abgeschoben – wusste: Sprache ist beschädigt. Doch gerade in ihren Bruchstellen, in ihren Verrückungen, flackert Wahrheit auf. Der hermetische Text sagt nichts über das Unsagbare, sondern lässt es atmen – durch Schweigen, durch Rhythmus, durch Klang.
Vielleicht ist das die eigentliche Reise, von der Sanjosé spricht – eine Reise mit Worten, ohne Ziel. Eine Bewegung ins Innere der Sprache, wo nicht der Sinn wohnt, sondern die Möglichkeit des Sinns. Wo der Klang die Bedeutung streift, ohne sie zu fixieren. Wo jedes Wort eine Tür ist – offen, aber nicht einsehbar. Und wer hindurchgeht, sieht vielleicht nichts. Oder er sieht sich selbst – anders.
Und was heißt das im Zeitalter der permanenten Durchleuchtung, der algorithmischen Erhellung, der entblößten Semantik? In einer Zeit, in der selbst der letzte poetische Impuls dem Verdacht der Ineffizienz ausgesetzt ist? Vielleicht, dass Hermetik heute ein Akt des Widerstands geworden ist. Eine stille Schule der Verzögerung. Eine Form der Verweigerung gegen die große Klarheitsforderung. Sanjosés Gedichte sagen nicht: „Ich bin unverständlich.“ Sie sagen: „Ich nehme mir Zeit, um zu lauschen.“
Der hermetische Dichter ist kein Mystiker – er ist ein Zuhörer. Kein Wissender – ein Wandler. Er geht mit dem Sprachkörper spazieren, er hört ihm zu, er lässt ihn sein. Vielleicht ist das das Wortopfer: nicht ein Resultat, sondern eine Haltung. Nicht das Erklären, sondern das Erinnern. Nicht das Benennen, sondern das Benötigen des Unausgesprochenen.
Und wenn es ein fünftes Nichts gibt, dann vielleicht deshalb, weil das vierte aufgehört hat zu genügen. Vielleicht, weil uns zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit, zwischen Sein und Nichtsein noch etwas fehlt: der Zwischenraum, die Ambe. Ein Ort, an dem die Sprache nicht herrscht, sondern dient. Ein Ort, an dem Gedichte sich nicht rechtfertigen müssen. Sondern geschehen dürfen.
Wie Regen auf einen leeren Platz.
Gunnar Sohns Text seit dem 11. April 2025 zuerst auf ichsagmal.com - vielen Dank!