Direkt zum Seiteninhalt

Axel Görlach: weil es keinen grund gibt für grund

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Andreas Hutt

Axel Görlach: weil es keinen grund gibt für grund. Graz (edition keiper) 2021. 120 Seiten. 16,50 Euro (Ö), 16,05 Euro (D)

„sprachland“ - Axel Görlachs Gedichtband „weil es keinen grund gibt für grund“


Wenn man sich den komplexen und inhaltsreichen Gedichten Axel Görlachs nähern möchte, ist es hilfreich, zunächst einen Teilaspekt zu betrachten. So zeichnen sich fast alle Texte in dem neuen Band „weil es keinen grund gibt für grund“ durch eine sorgfältig ausgearbeitete Bildhaftigkeit aus.
     Gleich im ersten Zyklus „slavkovský les“ – grenzland“ bewegt sich das lyrische Ich durch den böhmischen Kaiserwald und beschreibt, was ihm ins Auge fällt: Einen Berg, ein Waisenhaus, totes Getier, einen Friedhof usw. Das lyrische Ich nimmt sich zurück und zeichnet – auch metaphorisch –  auf, was es sieht. („schlafsäle atmen durch vernagelte fenster den tag/in feinen streifen ein“, S. 8) Es tritt lediglich in den letzten Gedichten des Zyklus stärker in Erscheinung, um einen Bezug zwischen sich und dem Wahrgenommenen herzustellen. („meine lider/sind seen, die von den rändern her zufrieren“, S. 13) Die Landschaft erscheint in diesen Texten nicht nur als ein Grenzland zwischen Deutschland und Böhmen, sondern auch als ein Landstrich, den sich die Natur vom Menschen zurückerobert hat, in der die Zivilisation zum Restabbild wird, das Stück für Stück verblasst, ein Grenzland der Verwilderung. Dazu passend ist auch der Bezug des lyrisches Ichs zu der Landschaft brüchig, da dessen Großvater dort Uranabbau betrieben hat, slavkovský les dem Ich bestenfalls aus Erzählungen bekannt sein dürfte.

Einen der Höhepunkte des Bandes stellt sicherlich der zurecht mit dem erostepost-Literaturpreis ausgezeichnete Zyklus „natür-liches Koma“ dar. Das lyrische Ich erscheint in diesen Gedichten in der Rolle des Gastdozenten L., der, statt einen wissenschaftlichen Vortrag über das Trauma des Verlustes zu halten, Gedichte vorträgt, die die Anreise Ls. mit dem Zug, das Nachdenken über den Verlust einer ihm nahestehenden Frau namens Clara durch einen Unfall beim Paragliding und die Entscheidung beinhalten, das Thema „Posttraumatic stress disorder in adolescents“ mit Hilfe der Lyrik zu bearbeiten. Während der Reise nimmt das lyrische Ich eine Selbst-verortung vor – wo stehe ich in der Realität im Vergleich zur einer Wirklichkeit zweiter Art, die vom Smartphone und dem Internet aufgespannt wird? („es ist nicht einfach, meine gedanken mitzuschreiben, als wären/ sie die eigenen, die echos zu ordnen, bis ich klar werde.“ S. 58)

Graphisch abgesetzt mischt sich – lyrisch überhöht – die Stimme der verunglückten Clara in die Wahrnehmungswelt des lyrischen Ichs sowie – schnoddrig, umgangssprachlich – diejenige eines Advocatus Diaboli des Alltags, der versucht, das lyrische Ich in (z.B. digitale) Scheinwelten zu locken oder es herunterzuziehen. Verluste sind nicht rational zu verarbeiten, scheinen die Gedichte sagen zu wollen, sondern bedürfen einer weniger logisch ausgerichteten Form der Reflexion, wie sie zum Beispiel Lyrik bietet. Folgerichtig entschließt sich das lyrische Ich dazu, nach einem Flashback bezüglich Claras Unfall und dem Nachdenken über seine Situation auf einen wissenschaftlichen Vortrag in der Universität zu verzichten. („wie umgehen mit der blackbox im kopf, wo apokalyptische/ hippocampusreiter meine erinnerun-gen sprengten“, S. 58) Inwiefern dieser Versuch gelingt, bleibt offen.
    Auch der letzte Zyklus „rodinia“ des Bandes zeichnet sich durch eine stark ausgearbeitete Bildhaftigkeit aus. Der Autor lässt in Gedichten, die er mit track 1, track 2 usw. bezeichnet, Kindheitsszenen Revue passieren, z. B.: die Nachwirkung des Märchenerzählens, wie es war, Zauberer zu spielen, Märsche durch Uferschlamm oder die in den achtziger Jahren präsente Bedrohung durch einen Atomkrieg. Es entsteht so ein Konzeptalbum von Kindheit und Jugend, dessen Playlist am Ende des Zyklus konkret benannt wird. Dadurch, dass Görlach dieses Kapitel mit dem Namen des Urkontinentes „rodinia“ bezeichnet, setzt er Kindheit mit einem solchen Urkontinent gleich, quasi als ersten Grund für Dasein, für die Orte, in denen ein Mensch wurzelt. Weitere kann es davor nicht gegeben haben, da Kindheit und Jugend die ersten Lebensphasen eines Menschen darstellen. Die Räume, die das lyrische Ich für sich öffnet, sind nicht nur erinnerte Räume, sondern „altes sprachland“, „seine echos versteinert in schluchten“, d.h. hier wird die Grenze zwischen geographischen und sprachlichen Räumen vermischt, weil Gedanken, mit deren Hilfe Erinnerung erfolgt, sprachlich erfasst werden.   
      Neben der Bildhaftigkeit als auffälliges Moment in den Gedichten Axel Görlachs ist noch das Melos seiner Texte zu nennen. Der Autor schreibt zumeist in einem Textblock gegliederte Gedichte, die mit wenigen Kommata als Strukturierungshilfen auskommen. Ein Gedanke geht nahtlos in den nächsten über, fast immer muss der Leser bzw. die Leserin Zäsuren setzen. Neben dem Enjambement als Stilmittel bedient Görlach sich Alliterationen und Assonanzen. („die schwermut hier/ ist eine leichte diagnose die alles/ in balance hält auf brückengeländern/ sitzen kormorane“, S. 35) So entstehen stark durchrhythmisierte Texte, die den Leser bzw. die Leserin auch auf klanglicher Ebene einnehmen.
    Axel Görlachs Lyrik wurde mit zahlreichen Preisen bedacht, unter anderem mit dem Wiener Werkstattpreis, dem Feldkircher Lyrikpreis, einem Preis beim Irseer Pegasus und zuletzt dem erostepost-Literaturpreis. Der Band „weil es keinen grund gibt für grund“ zeigt in der Retrospektive für eine breitere Leserschaft verfügbar, welche Qualitäten die Lyrik Görlachs aufweist und dass diese Würdigungen kein Zufall sind. Man kann nur eine uneingeschränkte Leseempfehlung aussprechen.

-          track 1 –

& weiter falten sich gebirge auf taumeln
schmetterlinge ihre durchgeschriebenen flügel
ins dunkel zurückbleibt eine leuchtspur
die sich auflöst zu keiner erkenntnis führt &
weiter tragen ströme altes sprachland ab
seine echos versteinert in schluchten
gestrandete zungen & was wir aufzeichnen
in unsren deutungsgebäuden wird haltlos
da wort kammern flimmern alle fenster
nach nacht lösen wir rätsel uns auf

rodinia – intro, S. 99


Zurück zum Seiteninhalt