Autobiographische Notiz
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Zeichnung
von Hans Wildermann
frei nach einem Entwurf
frei nach einem Entwurf
Christian Morgensterns zu:
Bild meines Lebens.
Christian Morgenstern
Autobiographische Notiz
1913
Ich wurde am
6. Mai 1871 als einziges Kind des Landschaftsmalers Carl Ernst Morgenstern
(Sohnes des Landschaftsmalers Christian Morgenstern) und seiner Ehefrau
Charlotte Schertel (Tochter des Landschaftsmalers Josef Schertel) in München
geboren und erlebte in unserm gegen Nymphenburg zu gelegenen – aller Kunst und
heiteren Geselligkeit geöffneten – Hause mit parkartigem Garten glückliche,
eindrucksreiche Kindheitsjahre. Meine Eltern reisten viel, zuerst aus
Lebenslust, dann aus Rücksicht auf ein beginnendes Lungenleiden meiner Mutter,
und nahmen mich schon von meinem dritten oder vierten Jahre an überallhin mit.
Besonders ist mir eine lange Reise durch Tirol, die Schweiz und das Elsaß in
Erinnerung, die im wesentlichen in einer von zwei unermüdlichen Juckern
gezogenen Kutsche zurückgelegt wurde. Dazwischen und später waren es dann die
(damals noch ländlichen) bayerischen Seedörfer Kochel, Murnau, Seefeld,
Herrsching, Weßling und noch später schlesische Dörfer am Zobten und im Vorland
des Riesengebirges, die dem sehr viel einsamen und stillfrohen Knaben
unvergeltbar Liebes erwiesen. Solch freundliches Los ward ihm zumal durch die
Lebensführung des Vaters, der als freier Landschafter sowohl, wie dann, als er
an die Breslauer Kunstschule berufen worden war, Sommer um Sommer ins Land
hinauszog; wozu noch kam, daß er ihn, als eifriger Jäger, bisweilen in seinen
Jagdgebieten und Jagdquartieren mit sich hatte.
Diese Jahre
waren grundlegend für ein Verhältnis zur Natur, das ihm später die Möglichkeit
gab, zeitweise völlig in ihr aufzugehen.
Sie waren
aber auch nötig, denn bald nach seinem zehnten Jahre, in dem er die Mutter
verlor, begann der Ansturm feindlicher Gewalten von außen wie von innen. Was
sich bisher, gehegt und verwöhnt, daheim und im Freien so durchgespielt hatte –
mein Spielen bildet für mich ein eigenes sonniges Kapitel – zeigte sich dem
äußeren Leben, wie es vor allem in der Schule herantrat, weniger gewachsen. Es
war, als wäre das Leidenserbe der Mutter, das doch erst zwölf Jahre darauf zu
wirklichem Kranksein führte, schon damals übernommen worden; denn wenn auch
mancher frische Aufschwung immer wieder weiter trieb, so setzten doch mehr und
mehr jene dumpfen Hemmungen ein, die ihn wohl nicht hätten so zu Jahren kommen
lassen, wenn nicht irgend etwas in ihm ebenso zähe für ihn gestritten und ihn
über das Schlimmste immer wieder von neuem hinweggebracht hätte. Vielleicht war
es dieselbe Kraft, die, nachdem sie ihn auf dem physischen Plan verlassen
hatte, geistig fortan sein Leben begleitete und, was sie ihm leiblich gleichsam
nicht hatte geben können, ihm nun aus geistigen Welten heraus mit einer Treue
schenkte, die nicht ruhte, bis sie ihn nicht nur hoch ins Leben hinein, sondern
zugleich auf Höhen des Lebens hinauf den Weg hatte finden sehen, auf denen der
Tod seinen Stachel verloren und die Welt ihren göttlichen Sinn wiedergewonnen
hat.
Sie mag ihm
auch den Jugend- und Lebensfreund zugeführt haben, Friedrich Kayßler,
dem die Sammlung ›Auf vielen Wegen‹ (und wieviel anderes!) mit dem Danke
gehört: ›Wär der Begriff des Echten verloren / In Dir wär er wiedergeboren‹.
In meinem
16. Jahre etwa wurde mir das erste Glück philosophischer Gespräche.
Schopenhauer, vor allem, auch schon die Lehre von der Wiederverkörperung traten
in mein Leben ein. Es folgte, Anfang der Zwanziger, Nietzsche, dessen suchende
Seele mein eigentlicher Bildner und die leidenschaftliche Liebe langer Jahre
wurde. Die Aufgabe, Ibsens Verswerke zu übertragen, führte mich 1898 nach
Norwegen. Ich lernte Henrik Ibsens teure Person kennen und durfte in den
Übersetzungen von ›Brand‹ und ›Peer Gynt‹ mich innerlichst mit ihm verbinden.
Das Jahr
1901 sah mich über den ›Deutschen Schriften‹ Paul de Lagardes. Er erschien mir
– Wagner war mir damals durch Nietzsche entfremdet – als der zweite maßgebende
Deutsche der letzten Jahrzehnte, wozu denn auch stimmen mochte, daß sein
gesamtes Volk seinen Weg ohne ihn gegangen war.
Noch sechs
Jahre darauf schrieb ich in mein Taschenbuch:
Zu Niblum
will ich begraben sein,
am Saum zwischen Marsch und Geest ...
Zu Niblum
will ich mich rasten aus
von aller Gegenwart.
Und schreibt mir dort auf mein steinern Haus
nur den Namen und: ›Lest Lagarde!‹
Ja, nur die zwei Dinge klein und groß:
Diese Bitte und dann meinen Namen bloß.
Nur den Namen und: ›Lest Lagarde!‹
Das Inselchen
Mutterland dorten, nein,
das will ich nicht verschmähn.
Holt mich doch dort bald die Nordsee heim
mit steilen, stürzenden Seen –
das Muttermeer, die Mutterflut ...
o wie sich gut dann da drunten ruht,
tief fern von deutschem Geschehn!
Inzwischen
war dem Fünfunddreißigjährigen Entscheidendes geworden. Natur und Mensch hatten
sich ihm endgültig vergeistigt. Und als er eines Abends wieder einmal das Evangelium
nach Johannes aufschlug, glaubte er es zum ersten Male wirklich zu
verstehen.
Die nächsten
Jahre – des Austragens, Ausreifens, zu Ende Denkens – überstand er so, wie er
sie überstand, eigentlich nur, weil ihm Gesundheit und Mittel fehlten, sich
irgendwohin zurückzuziehen, wo er in völliger Unbekanntheit seine Tage hätte
vollenden dürfen. Er war doppelt geworden und in der wunderlichen Verfassung,
sich, sozusagen, groß oder klein schreiben zu können. (In ›Einkehr‹, ›Ich und
Du‹ und einer Sammlung Aufzeichnungen findet sich Einiges aus diesem
Abschnitt.)
Er konnte in
einem Kaffeehause sitzen und fühlen: ›So von seinem Marmortischchen aus, seine
Tasse vor sich, zu betrachten, die da kommen und gehen, sich setzen und sich
unterhalten, und durch das mächtige Fenster die draußen hin und her treiben zu
sehen, wie Fischgewimmel hinter der Glaswand eines großen Behälters, – und dann
und wann der Vorstellung sich hinzugeben: Das bist Du! – Und sie alle zu sehen,
wie sie nicht wissen, wer sie sind, wer da, als sie, mit SICH selber redet und
wer sie aus meinen Augen als SICH erkennt und aus ihren nur als sie!‹ ...
Und doch war
solches Erkennen nur erst ein Oberflächen-Erkennen und darum letzten Endes noch
zur Unfruchtbarkeit verurteilt.
So kam das
Jahr 1908 –
›Da traf ich
Dich, in ärgster Not: den Andern!
Mit Dir vereint, gewann ich frischen Mut.
Von neuem hob ich an, mit Dir, zu wandern,
und siehe da: Das Schicksal war uns gut.
Wir fanden einen Pfad, der klar und einsam
empor sich zog, bis, wo ein Tempel stand.
Der Steig war steil, doch wagten wir's gemeinsam.
Und heut noch helfen wir uns, Hand in Hand.‹
Der Andre
war Sie, die mein Leben fortan teilte; der Pfad war der Weg
theosophisch-anthroposophischer Erkenntnisse, wie sie uns heute, in einziger
Weise, durch Rudolf Steiner vermittelt werden.
In dieser
Persönlichkeit lebt ein großer spiritueller Forscher ›ein ganz dem Dienste der
Wahrheit gewidmetes Leben‹ vor uns und für uns dar.
Vor ihm darf
auch der Unabhängigste sich von neuem besinnen und revidieren, vor ihm hat dies
jedenfalls der getan, der immer am liebsten dem Worte nachleben wollte: – Vitam
impendere vero.
In Christian Morgenstern: Stufen. Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen. Sortiert von Margareta Morgenstern, 1917.