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Augusta Laar: Nocturnes. Interventionen

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Monika Vasik

Augusta Laar: Nocturnes. Interventionen. Wien (Edition Melos) 2024. 120 Seiten. 28,00 Euro.

„den nachtstoff verdichten“


„In der übergangsphase
von schlafen und wachen

ist die grenze
an die wir uns
scheinbar erinnern
verwischt“

Augusta Laar erzählt bei Lesungen manchmal, dass sie von Schlaflosigkeit geplagt wird. Doch die Dichterin versteht es, mit ihren „fühlfelderfingern“ die Zeit des wach und halbwach im Bett Liegens produktiv zu nutzen und die wechselnden Grenzverschiebungen zwischen Bewusstheit und Unbewusstheit und die damit einhergehenden anderen Wahrnehmungs-qualitäten in Kunst zu verwandeln. Mit Nocturnes legt sie nun bereits ihren zweiten Lyrikband vor, der um das Thema Schlafstörungen kreist. Es ist wieder ein großzügig gestaltetes Buch: Hardcover, Fadenheftung, Lesebändchen und ein Papier, das haptischen Genuss bereitet. Großzügig ist auch das Format, das den Texten viel Raum gibt.
          Nocturnes besteht aus drei Elementen. Das sind einerseits die Gedichte, gegliedert in 11 kurze Kapitel, in denen oft ein lyrisches „du“ adressiert wird, manchmal ein „wir“ spricht. Zwischengestaltet ist jeweils eine „Intervention“, die fortlaufend von 1 bis 10 nummeriert ist und wie ein Gedankensplitter, eine Eingebung, eine Assoziation imponiert. Jedes Kapitel schließt mit einer Zeichnung. Laar bezeichnet diese spontanen Skizzen als Partituren, die „nachts im Dunklen, direkt aus dem Schlaf heraus“ mit Bleistift auf bereitliegendem Notenpapier entstanden sind. Man könnte diesen Prozess des Entstehens in Analogie zur „ècriture automatique“ automatisches Zeichnen nennen, ein Spielraum für das Unbewusste. Ergebnis sind nicht gegenständliche Kritzeleien, mal sehr reduziert, mal ornamental, mal geradezu ausufernd das Notenblatt nutzend. Sie sind Ausdruck halbwacher Emotionen und Eingebungen, die den Eindruck der Verlorenheit erwecken.
„im traum schläfst du nicht
spielst du tonreihen um tonreihen
stellst dinge hin und her“

Laar ist nicht nur Dichterin, sondern auch (experimentelle) Musikerin und Klavierpädagogin. Auffallend ist, dass sie für ihre Lyrikbände die Gattungsbezeichnung Lyrik und das Wort Gedichte vermeidet, stattdessen Begriffe aus dem musikalischen Kontext nutzt. Schon in ihrem Vorvor-gängerband Avec Beat (Black Ink 2020) war Musik/ Rhythmus im Titel präsent, während der Untertitel „Kurz-formen Mischungen Loops“ uns Richtung elektronische Musik wies. Für den Vorgängerband „Mitteilungen gegen den Schlaf“ (Edition Melos 2021) wählte sie „Träume Lieder Skizzen“. Im aktuellen Band hingegen wendet sie sich nicht nur in der Entlehnung von Worten deutlicher der Musik zu. Als Genrebezeichnung wählte die Dichterin diesmal „Interventionen“ und damit geplante und ungeplante Eingriffe gegen die Plage der Schlaflosigkeit.
Der Titel Nocturnes geht auf das lateinische Wort „nocturnus“ (nächtlich) zurück. Die Nocturne ist eine Musikform, die als Abend- bzw. Nachtstück im Barock entstand und als Unterhaltungsmusik bei Hof diente, aber erst in der Romantik zu ihrer Blüte gelangte. Als eigentlicher Erfinder und Motor gilt der irische Komponist John Field (1782-1837), der 18 Nocturnes schuf, einsätzige, eher langsame Solostücke für Klavier, bei denen die rechte Hand eine Melodie spielt und die linke diese mit aufgebrochenen Akkorden begleitet. Frédéric Chopin (1810-1849) war von Fields Werk beeindruckt und machte mit seinen 21 eigenen Nocturnes diese Musikform weithin bekannt, die bis heute immer wieder von Kompo-nist:innen gewählt wird. Man sagt Chopin nach, dass er seine eigenen Charakterstücke als Pianist je nach Tagesverfassung sehr unterschiedlich interpretierte, zum Beispiel die Melodie-stimme variierte und expressiv verstärkte durch geringe Änderungen des Tempos, zum Beispiel als gebundenes oder freies „rubato“, das Interpret:innen eine gewisse Freiheit im Vortrag einräumt, Töne nicht streng im Takt zu spielen, sondern sie dynamisch zu verlängern oder zu verkürzen. Das Wort „rubato“ findet man als Anweisung auch in Laars Gedicht SENZA TEMPO mit dem in Klammern gesetzten Untertitel (half asleep):

epilog:
wir nachtzeitlosen
wir nachtfresser
wir nachtäffchen (rubato)

Womit neben beider Neugier und beider Streben nach neuartiger Wirkung eine weitere Gemeinsamkeit von Chopin und Laar festgehalten werden kann, nämlich ihre spielerische Variations- und Interpretationsbreite, dort der einen (rechten) Hand und damit der Melodie, die bei Laar der Schlaflosigkeit entspricht, sowie eine reich orchestrierte Begleitung, dort etwa durch Arpeggios (Zerlegung von Akkorden in Einzeltöne) der linken Hand, hier nicht zuletzt die musikalischen und poetischen Begleitstimmen und deren Resonanzen im Gedicht. Diese Begleitstimmen bilden den eingangs erwähnten dritten Teil des Gedichtsbands und spiegeln eine Auswahl jener Play- und Readinglist wider, die Laar in vielen Stunden der Insomnie begleiteten. Es ist eine große Zahl unterschiedlichster musikalischer (Miley Cyrus, Joni Mitchell, Yoko Ono, Jim Morrison ...) und poetischer (Anne Waldman, Rae Armantrout, Christian Loidl ...) Stimmen, die für Laar zum Inspirations- und Produktionsmaterial wurden, in Form ausgewählter Zitate den Gedichten assoziativ nachgereiht sind oder in die Gedichte selbst aufgenommen wurden. Wobei:

„diese dinge passieren nicht einfach so“

sondern sind Ergebnis eines sorgfältigen Samplings und Remixings, das musikalische sowie poetische Begriffe und Verfahren zu einer Symbiose montiert, in der neben der „weltmaschine“, dem Mond und den Gestirnen auch Tschaikowskis „Schwanensee“ und Beethovens „Für Elise“ ihren Platz bekommen, dazwischen existenzialistische, surreale, gelegentlich dadaistische Wendungen stimmig eingeflochten werden. Man kann rätseln, welche Versatzstücke darüber hinaus produktiv genutzt werden. Zum Beispiel stammt das letzte Zitat aus dem Gedicht „ISS ODER SCHIESS (feat. Jonas Mekas)“. Gibt man den Titel bei Google ein, stößt man auf den gleichnamigen Titel eines Zeitungsberichts von Tobias Lehmkuhl, der sich mit den Tagebüchern dieses litauisch-amerikanischen Filmregisseurs und Paten des amerikanischen Avantgardekinos beschäftigt. Was wie beim Vorgängerband auch diesmal leider fehlt, ist ein Glossar, das Lesenden Quellen, Begriffe oder die vielen, manchen vielleicht wenig oder nicht geläufigen Namen von Musiker:innen, Künstler:innen und Poet:innen begreifbar macht.
       Doch wie lässt sich beim Sound von Posaune und Trommel, von „oboe und duplexklavier“ denken, wie „wenn alle schon schlafen“, man alleine wach, doch völlig übermüdet ist? Wie fühlt es sich an, „wenn es nichts /zu tun gibt außer / die zeit abzuwarten“, das Adrenalin „in halbtonschritten“ strömt beim

„lodern gegen den schlaf
knistern gegen den schlaf
klopfen gegen den schlaf“

wenn man zwischen polyphonen Bewusstheitszuständen hin und her gleitet, zwischen Wachen, Klarträumen und Träumen die Wahrnehmungen verschwimmen? Es ist „als ob deine nervenbahnen / außen liegen“ heißt es im Gedicht NACHTSTÜCK.

„deine fünf sinne
liegen am flur losgelöst
zucken mit ihren sensoren“

und allerlei (Alp)Traumszenarien entwickeln sich beim Fallen „von einer trance in die andere“. Doch manchmal steigt daraus die Zuversicht der Künstlerinnenseele:

„das alles war musik
und wird musik sein“


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