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Ásgeir H. Ingólfsson: Sie schießen dir immer in den Rücken

Werkstatt/Reihen > Reihen > Wortlaut Island

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Foto: Wolfgang Schiffer
Ásgeir H. Ingólfsson

Sie schießen dir immer in den Rücken

Aus: (Souterranians, Full Stop Publishing, Prag 2022)

Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
 

SIE SCHIESSEN DIR IMMER IN DEN RÜCKEN

Sie schießen dir immer in den Rücken wenn du nicht zur Arbeit kommst
Sie schießen dir immer in den Rücken wenn du zu fleißig bist
Sie schießen dir immer in den Rücken wenn du zu faul bist
Sie schießen dir immer in den Rücken wenn du lügst
Sie schießen dir immer in den Rücken wenn du die Wahrheit sagst
Sie schießen dir immer in den Rücken wenn du die falsche Partei wählst
Sie schießen dir immer in den Rücken wenn du die richtige Partei wählst

Aber sie schießen dir nicht mehr in den Rücken
sie machen das nicht mehr
sie haben die Metapher entdeckt
und nun erlauben sie dir gnädigerweise zu leben

Aber du bekommst immer die schlechtesten Zinsen bei der Bank
du bekommst immer das schlechteste Essen im Supermarkt
du bekommst nie die Arbeit von der du träumst
du bekommst nie die Liebe von der du träumst
du bekommst nie das wovon du im Leben träumst
weil man dir schon in den Rücken geschossen hat

Du liegst da am Straßenrand und das Blut läuft dir aus dem Rücken
und du weißt das einfach nicht weil du denkst
dass sie damit aufgehört haben Leuten in den Rücken zu schießen

Und deshalb lebst du halt weiter wie ein Zombie
für den sich niemand interessiert und der allen völlig egal ist  
weil allen bekannt ist dass du am Straßenrand rumliegst und verfaulst

Du bist das Gespenst das nicht weiß dass es ein Gespenst ist
das Gespenst das denkt dass es lebendig sei
das Gespenst dem man in den Rücken geschossen hat und das es nicht bemerkte

Aber wir sind viele hier am Straßenrand
wir können uns eine eigene Geisterstadt bauen und durch die Nacht tanzen

Menschen reagieren merkwürdig auf uns
sie wissen nicht so recht was sie mit uns anfangen sollen

Deshalb haben wir keinen Kredit
deshalb lässt man uns nicht in die schönen Lokale hinein
deshalb bekommen wir keine guten Jobs

Aber wir sind so viele geworden dass wir in der Nacht
miteinander tanzen während die Lebenden schlafen
wir sind so viele geworden dass unsere Feste besser sind als eure
wir sind so viele geworden dass unser Waffenlager größer ist als eures
wir sind so viele geworden dass ihr demnächst keine Chance mehr habt
und die Gespenster der Nacht euch das Fleisch vom Körper fressen werden
und eure Knochen werfen an den Straßenrand


Ásgeir H. Ingólfsson, geboren 1976 in Akureyri, ist in Island aufgewachsen, studierte dann aber in Prag, wo er heute, für Jahre zwischen Island, England und Tschechien pendelnd, wieder lebt und arbeitet. Er ist Kulturjournalist, Dichter und Übersetzer. Seit vielen Jahren schreibt er in zahlreichen isländischen Publikationen und in seinem Blog Culture Smuggling (www.culturesmuggling.com) über Reisen, Kultur, Bücher und insbesondere über Film.

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