Asaf Dvori: Was Erinnerung ist und wie sie sich im Leben des Einzelnen äußert
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Foto: Julia Weber
Asaf Dvori
Was Erinnerung ist und wie sie sich im Leben des Einzelnen äußert.
Ein unstrukturierter Fragebogen
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer
1
Lesen Sie laut die folgenden, wörtlichen Definitionen des Begriffs „Erinnerung“ und prägen Sie sie sich gut ein:
- das Vermögen, Dinge aus der nahen und fernen Vergangenheit im Gedächtnis zu behalten
- (weitgefasster) etwas, das man im Gedächtnis behält
Drehen Sie das Blatt um, warten Sie 5 Minuten und übertragen Sie die beiden Definitionen dann Wort für Wort auf Lackmuspapier
warten Sie auf das Ergebnis: Verschwommen? Klar?
2
Nachstehend die Beschreibung einer Erinnerung. Entscheiden Sie, ob diese der Wahrheit entspricht oder erfunden ist. Falls Sie entscheiden, dass die Erinnerung wahr ist, beurteilen Sie bitte, wie sich diese auf Ihre Seele auswirkt:
Sie sind drei Jahre alt
sitzen auf den Knien Ihrer Mutter
haben langes, gekämmtes Haar, trägt ein Kleid:
mit einem Muster aus geometrischen Formen in Orange, Schwarz und Cremefarben
sie schließt die Arme um Sie, damit Sie ihr nicht weglaufen.
Ihre Mutter schaut in die Kamera, lächelt
Sie weinen wie ein kleines Mädchen.
3
Vervollständigen Sie den ersten Vers aus Psalm 137 im Buch der Psalmen:
„An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.“
Lesen Sie den ganzen Psalm und antworten Sie ehrlich auf die unten genannten Fragen:
- Gedenken Sie Zions oder konnten Sie es eventuell inzwischen gut vergessen?
- Haben Sie Ihre Harfe, ihren Blick oder Ihre Hoffnungen an einen Baum gehängt? Wenn ja, was ist daraus gewachsen?
Was das Zerschmettern der Kindlein am Felsen betrifft – haben Sie das erhofft oder dem vielleicht schweigend zugestimmt?
- Schmerzt Jerusalem Sie noch immer?
4
Nehmen wir etwa die Schiebejalousie am Balkon im dritten Stock (die rechte Tür im Treppenhaus) in der Ibn Gabirol 48
die, an der zwei Lamellen fehlen und drei sich nicht mehr öffnen lassen. Warum haben Sie die angestarrt, anstatt zu schlafen?
Warum haben Sie in dieser Wohnung geschlafen? Wer hat hier 1999 darin gewohnt? Warum erinnert Sie alles dort an diese Dinge?
5
Gedenke…
des Schabbat-Tages, ihn zu heiligen…
was dir Amalek getan
des Vaters, der dir nachlief wie Wasser
Vervollständigen Sie weitere drei Sätze aus der kollektiven Erinnerung, die mit der Befehlsform „Gedenke“ beginnen.
6
Lesen Sie die vor Ihnen liegende Rekonstruktion einer Kindheitserinnerung und horchen Sie während des Lesens in sich hinein, welche grundlegenden Motive darin bestimmte Emotionen in Ihnen wachrufen. Erläutern Sie, was diese Motive über die Seele des Menschen lehren. Stützen Sie sich dabei auf die persönliche Erinnerung:
Sommer. Du bist 4 Jahre alt. Du und deine Mutter sitzen auf der Schaukel im Hinterhof. Es ist Mittagszeit. Sie hat gerade die Fliesen, die Dein Vater vor 20 Jahren gegossen hat, mit Wasser abgespült. Die Kühle, die aus ihnen aufsteigt, schützt euch vor der Mittagshitze. Du hältst die Beine gerade auf der bunten Matratze. Da ist das Quietschen der Schaukel, die orangenen Blüten der Kletterpflanze, das Buch – offen auf deinen kleinen Knien. Sie liest dir vor (auswendig, nicht vom Blatt): „Hallo, hallo, ist da Papa?“ | „Hallo, hallo, ist da mein kleiner Sohn?“ | „Wo bist du, Papa?“ | „Ich bin bei der Arbeit.“ Sie blättert mit dir die Seiten um. Zusammen sitzt ihr auf der Schaukel. Zusammen wartet ihr auf Vater; flieht vor Vater, wie immer, zu den Worten.
An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an
Zion gedachten: Die Übersetzung folgt der deutschen Fassung
von Martin Luther (1912), weil deren Wortlaut deutschen Leser:innen hier noch
am ehesten im Ohr ist. Das Schlüsselwort „erinnern“ bleibt im Hebräischen an
allen Stellen identisch, während es im Deutschen zum Synonym „gedenken“
variiert.
Haben Sie Ihre Harfe: Das hebräische Wort „kinor“ hat im biblischen und im modernen Hebräisch
unterschiedliche Bedeutungen. Klassische Übersetzer des Tanachs, der
hebräischen Bibel verwenden dafür im Deutschen die Bezeichnungen verschiedener
Saiteninstrumente: Harfe (Luther, Mendelssohn), Leier (Buber), Zither
(Tur-Sinai). Im gegenwärtigen Hebräisch ist „kinor“ die Geige.
das Zerschmettern der Kindlein: Mit „zerschmettern“ folgt die Übersetzung weiter Martin Luther; mit
„Kindlein“ geben Naftali Herz Tur-Sinai (1954) und Leopold Zunz (1838) das
hebräische „olalim“ wieder, das „Säuglinge“ bedeutet.
Gedenke des Schabbat-Tages, ihn zu heiligen: Siehe Ex 20, 8.
Gedenke, was dir Amalek getan: „auf dem Weg, als ihr aus Mizraim [Ägypten] zogt: Wie er dir auf dem Weg
entgegentrat und alle deine ermatteten Nachzügler abfing, während du matt und
müde warst, und Gott nicht fürchtete“ (Naftali Herz Tur-Sinai, 1953). Siehe Dtn
25, 17-19. Das Volk der Amalekiter tritt im Tanach als erster und
wiederkehrender Erzfeind des Volkes Israel auf.
Gedenke des Vaters, der dir nachlief wie
Wasser: Ist der erste Vers eines Pijuts, eines liturgischen
Gebets um Regen, dessen Verfasser unbekannt ist und das am Feiertag Schmini
Azeret gesprochen wird, zu Beginn des Herbsts. Mit „Vater“ ist hier der
Erzvater Abraham gemeint, der zuerst und besonders ergeben auf den einen
einzigen Gott hörte.
„Hallo, hallo, ist da Papa?“: Das Zitat stammt aus dem Kinderbuch Hallo, hallo, Papa! von Chana
Horn, Hoza’ot jesod 1966.
Die Übersetzung entstand für das PARATAXE Symposium XIV: Hebräisch? Jiddisch? Berlin? – die hebräischen und jiddischen Autor*innen Berlins, kuratiert von Mati Shemoelof und Jake Schneider am 14. April 2024 im Kesselhaus und Maschinenhaus in der Kulturbrauerei.
Asaf Dvori ist Dichter und Erzieher. Im Dezember 2019 erschien in Israel sein erster Gedichtband Tjutot lemischpacha (Entwürfe für eine Familie). Seine Gedichte wurden ins Deutsche, Arabische, Ukrainische und Englische übersetzt.
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