Artur Nickel: In einer anderen Zeit
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Artur Nickel
Aus dem noch unveröffentlichten Erzählband mit dem Arbeitstitel „Vom Werden, was ist und nicht ist. Begegnungen mit Erich Kästner“
In
einer anderen Zeit
Kann
man am Abgrund stehen, wenn man am Abgrund steht? Früher mag das wohl noch
gegangen sein, heute geht das nicht mehr. Denn heute gibt es nicht einmal mehr
diesen Standpunkt, der es uns erlaubt, in die Tiefe zu schauen. Wo ist denn
heute dieser Standpunkt? Wo soll er sein? Wo kann er sein? Und wo genau ist
heute dieser Abgrund? Wir wissen doch gar nicht mehr, was oben und unten ist!
Da kann man noch so oft alte Zeiten heraufbeschwören, das Früher, das
angebliche Besser, es geht nicht mehr. Es ist eine Farce zu glauben, es ginge
trotzdem. Es wäre ein Wiedergängertum, eines, das der eigenen Hilflosigkeit
geschuldet ist. Eine Ausrede. Eine Schimäre. Ein Eingeständnis. Mein
Eingeständnis.
Woher?
Wohin? Die Fragen erübrigen sich. Oder? Sie wirken wie Relikte aus einer alten
Zeit, als es noch so etwas gab wie Sinn, wo sich Sinn ergab. Und doch stellen
sie sich. Angesichts des Versagens. Im Angesicht der Übergriffe. Der
Gleichzeitigkeit. Kein Vorher, kein Nachher. Kein Sich-Entwickeln, kein
Abwickeln. Aufbau ist Abbau und umgekehrt. Raumverlust in einem Saal, der keine
Wände kennt und doch eine Zelle ist, deren Mauern den, der darin ist,
zerquetschen.
Die
fortwährende Suche nach Halt im Urschleim. Obwohl ein Blick auf das, was sich
faktisch ergibt, zeigt, dass es diesen Halt nicht gibt. Wer anderes behauptet,
handelt mit einem ungedeckten Scheck. Die Dinge waren immer in Bewegung. Egal,
ob in Süd, Nord, Ost oder West. Urschleim ist Urschleim und kein Boden unter
den Füßen. Alles ist im Hier und Jetzt. Das Woanders ist gleichzeitig bei mir.
Ich bin bei ihm. Und du? Du stehst vor mir und bist trotzdem überall, ob du
willst oder nicht. Du kannst dich dem nicht entziehen. Niemand kann das. Ich
bin, du bist, wir sind … überall und immer … nicht und doch. Die Gerade ist
kreisrund, um sich in Wellenlinien fortzusetzen und dann abzubrechen. Wo auch
immer wir stehengeblieben sind oder gehen. Du. Ich. Wir sind Punkte auf einer
kreisrunden Geraden, die in Wellenlinien mäandert oder eben nicht. Punkte ohne
Stand. Kein Stand-Punkt. Schräg im Nichts.
Ein
Armutszeugnis ist das vor allem für nationalistisch Angehauchte sowie alte neue
Nazis! Mit ihren Fieberschüben und Hohlgeburten. Mit ihrer Angst, dass sie
entdeckt! Die sich im Urschleim suhlen und darin ihre Bestätigung suchen. Was
Deutsch und nicht Deutsch ist zum Beispiel in Deutschland. Wo sie in Grenzen
begrenzen. Und genauso willkürlich entgrenzen.
Ein
Armutszeugnis ist das aber auch für die Friedensstifter in Uniform, wo auch
immer. Die über die Kriegslogik nicht hinausdenken und schon gar nicht handeln.
Die nicht ausbrechen. Die nie ausbrechen. Selbst wenn sie anderes sagen. Immer
auf der Suche nach dem kleinen Vorteil für sich. Die das, was friedliches
Zusammenleben ausmacht, nicht greifen, nicht greifen wollen! Befangen, wie sie
sind. Vor allem, wenn ihre Sicht auch noch nationalistisch verbogen ist!
Was
bleibt. Nichts bleibt. Nicht einmal das Nichts. Glasklar und genauso
verschwommen. Die Linse getrübt und trotzdem klar. Deutlich wie in einem
Brennglas. Die Sehnsucht nach Halt und Grund ist groß, ja, sie wird immer
größer. Und trotzdem ist dieser Bruch nicht zu kitten. Es führt kein Weg mehr
zurück.
Was
also kann da die Poesie? Vielleicht konstatieren, dass nicht mehr ist, was ist.
Beim Blick in den Spiegel, der nicht mal mehr blind, blind, wie er ist. Oder
doch eher den Blick darauf richten, ein neues Nach-Vorn zu finden? Auf etwas,
was ihr vielleicht entspricht? Silbe für Silbe, Wort für Wort? Auch hier schräg
im Nichts? Im Vorder-Hintergründigen oder dem, was noch davon übrig ist? Ja, vielleicht
ein Blick hinter den Horizont. Deinen. Meinen. Wo die Parzivalfrage ihr
Stelldichein gibt. Zwischen einem Gestern und einem Morgen. Wo wir bei den
Opfern sind. Wo wir etwas erfinden und authentisch sind. Schon Alexander Kluge
sagte: So entsteht Poesie. Schriftsteller lügen nicht.
Oder?