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Artur Nickel: Ich mache mir so meine Gedanken

Werkstatt/Reihen > Reihen > (Ich seh dich besser im) Morgen
Foto: Solvej Nickel

Artur Nickel

Ich mache mir so meine Gedanken


Als ich heute morgen aufwachte, war alles wie immer. Bis auf die Tatsache, dass nichts mehr wie immer war. Woran ich das gemerkt habe? Ganz einfach. Daran, dass alles wie immer war. Das hat mich stutzig gemacht. Und da habe ich mir so meine Gedanken gemacht. Woran es wohl liegt, dass alles ist, wie es ist, und doch ganz anders. Dass alles immer schneller und schneller wird und doch gleichzeitig stillsteht. Dass sich der Raum, in dem ich mich befinde, so weitet, dass ich seine Grenzen nicht finde, und dass er gleichzeitig immer kleiner und kleiner wird, so dass mich die Wände fast erdrücken. Ein Standpunkt, der ein klitzekleiner Punkt ist, aber trotzdem horizontal grenzenlos zu sein scheint, dass er alles umfasst, was ich wahrnehme, selbst in der Ferne und darüber hinaus. Und der gleichwohl, so oder so, verschwindet. Ins Nichts. Ins Garnichts. So, als ob er nie dagewesen ist und auch nie wird da sein können. Eigentümlich ist das. Es lässt sich nicht in Worte fassen, und doch geschieht es. Es ist befremdlich, es ist fremd. Und doch vertraut. Eben wie immer. Jedenfalls zurzeit.

Was da passiert, ist jedoch mehr als ein Stillstand. Es ist mehr als ein Dahinrasen, es ist auch mehr als ein rasender Stillstand. Es ist Realität. Meine Realität. Und gleichzeitig ist es keine. Ich bin in einem Labyrinth. Gefangen. Festgesetzt. Nein, es ist nicht das Labyrinth des Minotaurus, aus dem der Ariadnefaden den Ausweg bot. Es ist auch kein meditativer Pilgerpfad, der zur Buße auffordert, wie er in der Kathedrale von Chartre zu finden ist. Es ist ein neues Labyrinth, ein ganz neues, ein digitales.

Und ich? Ich bin mittendrin. Ich habe keine Möglichkeit, mich herauszunehmen, mich zurück-zuziehen. Es gibt kein Entkommen. Und auch kein Weiterkommen. Ich stehe in einem ständigen Stau, obwohl ich mich rasend schnell vorwärtsbewege und mit meiner Welt davonfliege. Ohne Geländer, ohne Halt. Hinauf zu den Sternen, wer weiß wohin, und gleichzeitig im rasenden Tempo hinab in nie gekannte Abgründe, schwindelerregend, atemlos. Und doch stelle ich fest, ich bewege mich nicht. Ich stehe. Stehe still.  Stecke fest.

Alles, was passiert, geschieht gleichzeitig. Selbst wenn es vergangen ist. Digital steht es immer wieder auf. Es läuft hinter mir her und verfolgt mich. Was schön, was nicht schön. Gut oder schlecht. Es kommt auf mich zu und versperrt mir den Weg. Es ist da, wo ich bin, und … es geht nicht weg. Alles ist gespeichert, egal, ob ich online bin oder nicht. Gebunkert, wo auch immer, von wo aus es wie ein Blitz einschlägt. Was ich getan. Was nicht. Was mir getan. Was nicht. Ich ein Täter. Ich ein Opfer. Immer. Beides zugleich. Bis ins Künftige. Selbst wenn es mich nicht mehr gibt und ich verschwunden, hält es die Stellung, ob ich will oder nicht. Es vergisst nichts. Ich bleibe vergangen im Gegenwärtigen. Im Künftigen. Da besonders. In meiner Zeit, in deiner. So ist es, bleibt es.

Ein Kampf. Ein Krampf. Wie kann ich entkommen? Wie? Trotz alledem? Trotz? Es geht nicht mehr. Es ist zu spät. Es gibt kein Entkommen. Für mich wie für dich. Für niemanden. Jeder Atemzug ist einer zu viel. Und einer zu wenig. Genau so. Ich will weg von mir. Ich muss weg von mir. Nur so kann ich bei mir bleiben. Auch von dir will ich weg. Manchmal jedenfalls. Bitte verzeih mir! Aber auch das geht nicht. Es geht nicht mehr. Wo auch immer du bist. Weit weg oder bei mir in der Nähe. Wir kleben zusammen. Es ist vertrackt. Ich bleibe. Du bleibst. Wir bleiben. Auf ewig zusammen. Da hilft kein Brechen, da hilft kein Versprechen. Miteinander verbunden. Ob wir wollen oder nicht. Auch nicht ins Künftige. Die Uhr tickt. Tickt. Tickt. Steht. Tickt. Geht. Nicht.

Wo ich mich aufhalte, ist es genauso. In Gedanken. Live. Im Blick auf den Bildschirm. Alles landet bei mir. Was immer es ist. In mir. Auf mir. Erlebtes, Erduldetes, Erreichtes. Nichterreichtes, Gestriges. Vorgestriges. Vorvorgestriges. Alles scheint bei mir auf. Gleichzeitig. Ungefiltert. Unsortiert. Selbst wenn es ganz weit weg ist. Eigentlich. Aber auch andere Menschen sind auf einmal bei mir. Andere Einstellungen. Andere Kulturen. Ganz andere. Wie weit weg sie auf den ersten Blick zu sein scheinen, so sind sie doch bei mir. Direkt vor mir. In mir. Auf mir. Ich kann sie greifen. Es gibt keine Entfernung.

Alles steht vor mir auf. Unvermittelt. Urplötzlich. Es stellt sich, es stellt mich. Und hämmert auf mich ein. Kein Raum mehr zum Kennenlernen. Zum Eingewöhnen. Mich auseinanderzusetzen. Kein Platz. Ich kann nicht entkommen. Ich bin hilflos ausgeliefert. Was kommt, verfolgt mich, selbst wenn mein Bildschirm aus ist. Wenn ich abgeschaltet bin. Ob ich will oder nicht.

Da bin ich. Ich bin überall und bei mir. Weit weg vor dem Horizont. Dahinter. Und gleichzeitig direkt bei mir. Zeitgleich. Wo auch immer ich bin. Zuschauer. Täter. Opfer. Das eine wie das andere. Ich bin ich. Nicht-Ich. Nicht-mehr-Ich, Noch-nicht-Ich. Ich kann nicht wegsehen. Nicht weggehen. Mich nicht entziehen. Ich bleibe. Muss bleiben. Angebunden, gefesselt. Ich bin überall, und überall ist bei mir. Ich kann es nicht ändern. Niemand kann es ändern. Selbst wenn ich mir zuschaue. Wenn nichts von mir bei mir ist. Selbst dann.

Ich bin, der ich bin. Oder eben auch nicht. In einem großen Saal. Dessen Wände auf mich zu stürzen, zu stürzen, bis ich erdrückt. Dessen Räume sich über mir auftürmen, stapeln und mir die Luft abschnüren. Da hilft kein Knopf und kein Verdrängen. Es scheint auf, steigt auf und hämmert auf mich ein. Ich reagiere. Alle reagieren. Oft wie veranlagt. Wie immer. Viele mit Sehnsucht nach dem Gestern. Back to the roots, auch wenn es aussichtslos ist. Es führt kein Weg mehr zurück. Zudem weiß jeder, so schön war es auch wieder nicht.

Wie weiter, weiter, weiter? Wo? Und wann? Manche sprechen heute von einer Wendezeit oder einer Zeitenwende. Obwohl es keine ist. Es bleibt sich ja alles gleich. Wie es bisher gewesen ist. Wer es bisher gewesen ist. Du. Ich. Wir. Klar ist: Mein Instrument braucht neue Saiten. Und: Es muss neu gestimmt werden. Vielleicht ist es daher besser, von einem Saitenwechsel zu sprechen, um zu finden, was zu finden ist. Oder? Aber dazu muss ich …, na ja, du weißt …. Und so rase ich stillstehend dahin und stehe still, obwohl ich dahinstürme und es mich fortreißt, wo auch immer ich stehe oder sonstwie bin.    


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