Armin Steigenberger: über den theseusschiffigen tempel der (un)vernunft
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Armin Steigenberger
über den theseusschiffigen tempel der (un)vernunft
1 ma dame
im Sog des Rauchs sind wir Dom Karin
Fellner
einmal war da hymnus, was in
uns erzitterte:
glutseele immerzu, im nachgang
explodieren
sätze auf heißen zungen.
frühjahrsverrücktes
europa und sein drohender
zerfall
im nachgang über kreuzgrat
überwölbtes rosengebet, auf
rosen gebettet.
île de la cité mit hauptschiff, querschiffen und chor
elf der apostel überblicken die
stadt paris
in großer symbolischer bedeutung
d’une nouvelle
flèche adaptée aux techniques
et enjeux de notre époque[1], lautet die jüngste
ausschreibung für den neuen
vierungsturm la flèche.
einmal da war ein glaube an die
gnade gottes
ein glaube an künftiges an
größe an die größten
kirchen an den tempel des
westens, eine kuppel
über der vierung, darin strenger
marmor, innendekor
nenn es großes kino –
und dann die trauer. streichquartette
in wiederhallender halle
eines alten, reif gewordenen
europa, eines hochselbst
referenziellen rahmens. schweiß
und hl. herz heute
ein toter gott des westens und muttergottes
hülle
hilflos geht etwas unter, man
erstarrt trauert und staunt
der heilige geist und der himmel
auf erden
die einzig wahre größe
auf einmal war da nur noch hymnus:
erhabener gesang
einer neuen zeit im aufbruch frankreichs
später dann europas
frisch zur hand die glocken
ertönten
und die große kathedrale tanzte
den cancan
tanzte neue baustoffe neue
liebe neuen tod
und einmal war da ein gott, für
den man schuf
und handelte, einmal da war unbefleckte
empfängnis
die mutter eines gottes gebar
einen gottessohn
für den menschen gemacht das
symbol
trächtige bauwerk das
kirchendach
der aus dem 13. jahrhundert
stammenden dachbalken
gespiegelt in der pfütze des
löschwassers
flackert der brand
[1] Édouard Philippe, französischer
Ministerpräsident seit 2017
2 votre dame
beträchtlich
lodern die glocken die glocken
funkelt das
abendrot zwischen hektischen meldungen
milliarden an spendergeldern
und feuerrotem
werbegeblubber eure
alte dame in der notaufnahme
meine dame sie
brennt der alte spitzturm knickt
ein paar zerfetzte
gelbwesten liegen im dreck
ma voiture est ta
voiture
die benzinpreise
steigen wieder
ma dame ta dame
votre dame notre dame tamtam
fassungslos filmen
amateure das einknicken des turms
in fassungslosen
videos
zücken das handy
und filmen schießen ein selfie
selfie mit
rauchender alter dame
mit muttergottes
im sündenbabel
die feuerwehr
justiert den strahl
sonnenlicht
sickert knäpplich in die alten ritzen
o dachstuhl o kulturelles
erbe o geld o grande nation o ruine
dame nation
annehmliche halsabschneiderische
überkandidelte plapperige alte dame
zurückbleibt ein
verkohlter leerer körper
alte steine glühen
aus
die sonnenroten
nacken glänzen die frisur sitzt der speicher ist voll
abends läuft der
glöckner und hector berlioz’ requiem und eure alte dame
brennt der turm
knickt ein ma dame
wir können uns das
alles nicht mehr leisten
es hagelt
hortensien nelken herzen und blaue daumen
für unser aller
frau[1]
[1] Ullrich Fichtner: Unser
aller Frau. In: Der Spiegel. Nr. 17,
2019, S. 108–113
3 pas ma dame
ad hoc schwüles
ding ich und meine madame gelöscht
das gedächtnis die kulturelle identität und ich habs gut
erwischt paris paris was für ein timing was
für gute bilder
für die ewigkeit ich und meine madame
rauchend auf 1 selfie
o 19. jahrhundert o toulouse-lautrec o strumpfbandcity
o vollgeseiberte kirche
o operette o
revue o
champagnerpfütze o geld wie schön bist du
o alte geile kirche
um deinen altar ringelt sich eine
tigerpython
o tafelsilber (eh,
merde!)
o vergoldetes plastik (eh, étron!)
o abziehbilderwelt (eh, hystoria!)
ich und meine
madame rauchen eine zusammen
das finden Sie
zynisch? (trop ivre pour baiser!)
ich nicht! ich rauche und filme und notre dame raucht die ganze nacht über
ich trauere ich mag sushi ich mag paris und
den place pigalle
das findet ihr
zynisch? wo alle im rosigtrüben
bestattungsrausch herumflennen
fickt euch! foutre
le camp! ihr moralisch
überlegenen!
o ausgerolltes latex! o faules rot! o weindepot! o
vernunft!
o teuerste welt o
moulin rouge! o rotstich! o fake!
o varieté
o hübsche ärsche
o optische orgasmen
o 48 megapixel
o ich!
notre dame
das war die charakteristische
silhouette
die kollaterale kathedrale
der blick auf den eigenen
bauchnabel
europa zum zentrum aller dinge
gemacht
reißt sie ab für eine
einkaufsmeile einen sozial
block einen supermarkt eine
spielhölle einen park
plätze für den lost spirit
unserer unsterne
oh unesco-kulturerbe! oh crap!
glänzend, das wäre: lumpengeld
zu pumpen
in beispielsweise sonnenräder
in konark
dorthin wo auf puri heute
morgen der zyklon trifft
was hier niemand bemerkt
notre dame
no name
ein letztes geblinzel von jane
avril
und der denkmalbehörde
obdachlose lumpen ohne dach
die alten tempel reißt sie ab
o ihr
rückwärtsgewandten bauchnäbel
meine seele geht
auf ’nen selfiestick
im kamerareigen
kurz getrauert
über den
werteverfall
und die
unwiederbringlichkeit
das ist nicht mein film