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Armin Steigenberger: rohherz und antikkörper (2)

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Frank Milautzcki

Aus Sprachsteigen bergen


How to read ist das Thema, das immer wieder aufpoppt, wenn moderne Lyrik auftritt. Dem vorgeschaltet ist natürlich das how to write, das den Text, um den es letztlich geht, erst erzeugt. Dabei wird die Frage, wie krieg ich ihn hin, tatsächlich zu einem lesenden Beantworten. Schillers Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795 erstmals erschienen) betrachtet genau diese komplexe Situation, in der es darum geht, mögliche Antworten auszulesen, als Spiel zwischen zwei grundlegenden Tendenzen, dem sinnlich erfahrbaren Ende der Welt, die von außen ins Innere weist und dadurch egozentrisch wirkt, und der vernünftig erfahrbaren Welt, die Form und Gestalt als sinnhaft erkennt und als innerer Ordner des Äußeren fungiert. Zwischen beiden Weltenden spielt sich das Leben ab, bedingt das eine das andere, formulieren Sinne Gestalt und gestalten Formen die Sinne. Dieses komplexe Vermischen ist eine Qualität des Lebens an sich, die in der Wechselstube der Stoffe jedes Einzahlen zur Auszahlung bringt. Nichts und niemand ist davon verschont und es gibt das eine nicht ohne das andere Ende. Dazwischen wird gelebt, und jede Partei führt ins Unglück. „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ sagt Schiller. Ich möchte das dorthin übersetzen, wo der Mensch als Spielender seine Bedeutung erlangt und nicht als Rechthaber oder Triebbestimmter. Wo er lernt das Auslesen so zu gestalten, daß seine Antworten wahr, aber dennoch unparteiisch sind und sich so in die Welt einschreibt, daß sein Gelesenwerden die Vielfalt des Lebens nicht zerhaut.

Welchem Spiel man sich öffnet und wie man sich im Spiel verhält, das sind die Dimensionen, die darüber entscheiden, welchen Text man hergibt. Man kann da einen Pool sehen, in den man hineinspringt und in dem man sich bewegt, taucht, schwimmt, treibt, ertrinkt, überlebt. Je nach Handlung, vom eigenen Erleben abgeleitet, je nach Realität, die das eigene Vermögen zulässt, je nach Ziel, dem man insgeheim zustrebt. So sagt es die Theorie des Kinderspiels. Und tatsächlich passiert Ähnliches auch beim Gedichteschreiben. Hier entscheiden sich die Eigenschaften des Pools und seine Qualitäten am Talent und am Charakter, an der Offenheit für Emergenz und Synergie, am Zulassenkönnen nötiger Weite oder möglicher Zuspitzung. Die Erfahrbarkeit des Schreibprozesses als Spiel, dem man sich öffnet, ist ein fundamentales Kennzeichen von Armin Steigenbergers Poesie. Er läßt dabei nichts aus, weitet sich das eigene Feld, erfindet deterritoriale Wälder, durchkreuzt das bereits im eigenen Gehirn Beschriebene, überrascht mit Distanzen zum Inside out, womit er es zum Outside In erklärt. Das ist alles nur Material, Werkzeug, das Jetzt wird zum Adverb des Geschehens der Worte. Dabei gilt Entdeckerfreude, die auch mal zu euphorisch wird, wenn Wendungen sich verfloskeln und Texte sich zu nah im Auslösemoment bedienen. Und selbst dann spürt man, das geschieht oft nicht ohne Trotz und also absichtlich. Reim ich mir zusammen. Wieso soll das Nahe nicht auch Kontext sein, Wirkbereich, der eigentlich nur von unseren Hirnen überladen ist, wofür ein Wort an sich nichts kann, ihm kleben wir Klischees als Türen an und sind für es die Art Tyrann, die millenarisch Wahrheit kann. Und übertreiben darf man auch. In Hyperbeln Sinnanbahnung scheinbar verscherbeln. Das ist nur einer der Punkte, den ich an Steigenbergers Poesie als besonders wertvoll schätze: es ist nichts entschieden und jedes Mittel ist ihm recht, wenn es nur zu einem Kontext führt, den es sonst nicht gäbe, fände er hier nicht statt. Steigenbergers Stimme ist eine, die sich nicht abgleichen will an No-Gos moderner Schreibgebärden, sondern ausschließlich an Resonanzen im eigenen Pool. Viele sprechen heute von Echohallen.

Es gibt keine Reservate mehr. Alles steht jederzeit und in jedem Moment zur Diskussion und kann empfunden, getan oder vermieden werden. Unzulässig ist das Verbot. Die innere Zensur desjenigen, der partout postmodern korrekt sein will, weil er glaubt, es sein zu müssen. Gefunden wird nicht anhand eines Katalogs, sondern das Gefundene wird katalogisiert. Manches wirkt angesichts normaler Umgebungen zunächst grotesk und auch quer zu lyrischen Moden. Es ist etwas prinzipiell anderes als ein bloßes Weiterschreiben, eher ein Vorbei- oder Neuschreiben. „Grotesque ist eine Freyheit derer Mahler oder Bildhauer, etwas wiedersinniges und lächerliches, oder ungeschickte Bildungen von Thieren, Vögeln, halben Menschen, Waffen, Laubwerk und dergleichen künstlich durch einander geflochten vorzustellen“, definierte das Zedler-Lexikon im Jahr 1735. Die Strukturen, die Steigenberger aus seinen Hallräumen gewinnt, wachsen schnell über Grammatik und Semantik hinaus, scheuen auch das Derbkomische nicht, um dann wieder ein Närrisches im Ernst versuchsweise zu behaupten. Er vermischt Töne und Tonlagen, Sprechsituationen und Genres. Wenn dabei die Welt ins Fremdartige entgleitet, dann nicht allein deshalb, weil er sie sprachlich ins Falschmaß oder Absurde schickt, sondern weil sich ihr Prinzip des Maßlosen in einer sich zuspitzenden Weltkrise der Psychohygiene artikuliert, die sich dem wachen Lyriker zuruft als krank und irre und Überportion. Steigenberger ist kein Elfenbeintürmler und redet nicht schön. Das aber in einer ästhetisch wertvollen Sprache, die viel von einer Stolterfoht’schen persiflierenden Beiläufigkeit gelernt hat, vor allem den Mut, Sinnsätze als Palaver zu enttarnen, die per Bedeutungsschwere ein Gedicht vortäuschen wollen. Steigenberger verbindet das mit Beat und postavantgardistische Sprechakte mit der Tiefe eines Rilke (dessen besonderer Balance zwischen Realismus und l’art pour l’art) und eines Rimbaud (dessen lauthalsem Zerkratzen der Idylle). Hier darf so vieles durcheinanderwirken. Man merkt, daß es eine Lust ist. Also keine pure Überlegung. Es wirkt bis auf den Körper ein. Wie Musik.

„Ich möchte etwas lesen, wo sichtbar ein Prozess stattfindet, wo jemand sich beim Schreiben noch selbst überrascht oder sich neu erfindet“ – dieser Satz aus einem Interview im Jahr 2015 gilt auch für Steigenbergers eigenes Schreiben. Und sein Antikkörper reminisziert an Albert Ostermaiers HerzVersSagen, hierher gehören auch Pastior und Draesner, die ersten Begegnungen mit zeitgenössischer Lyrik, die noch heute in den Gedichten mitgeschrieben sind. Jede persönliche Lyriklandschaft wird mit den Jahren weit und diffus, aber in ihr bleiben die Erweckungsmomente stark und bedeutend. Momente, in denen sich Handwerk ausbildet, der Umgang mit Öffnungsweiten, Zufluß und Wildheit, Finden der Resonanz. Das ist ein ganz persönliches Geschehen und darin manifestiert sich so etwas wie Stil. Selbst wenn man es nicht möchte, wenn man versucht „Stil“ zu vermeiden (und das tut Steigenberger, wissend um das Langeweiledrama der Wiederholung), wird auch das automatisch Teil der Landschaft. Über die Jahre hat Steigenberger eine besondere Reife gewonnen und Souveränität im Betrieb des Relationenkarussells der Textgebilde, die ihm letztendlich nutzt, teilweise noch endgültiger mutig und unverfroren zu sein. Man braucht nicht mehr viel, im Satz webt sich ein Zuhause und man hat fast nichts in der Hand. „Lernst du, neben dem Koffer zu schlafen? Als Decke – den Zipfel vom Ganzen, den Satz?“ Oskar Pastior.

Für mich ganz klar eine Lyrik-Empfehlung des Jahres 2023.

Frank Milautzcki, 14.04.2023


Armin Steigenberger: rohherz und antikkörper. Dortmund (edition offenes feld) 2023. ISBN 978-374-1272004. 170 Seiten. Preis: 22,00 Euro.


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