Ari Jósefsson: Drei Gedichte
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Ari
Jósefsson
Drei Gedichte
(Aus:
Nei / Nein, Mál og meninng, Reykjavík, 3. Auflage 2013)
Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
SEPTEMBER
Ich bleibe nicht in einem Trauerhaus
und das Salz der Tränen habe ich vergessen
aber in meinen Träumen brausen die Wasser
und tosende Wellen überfluten die Stadt
Nein, ich bleibe nicht in einem Trauerhaus
aber ich sehe mich in der Kneipe um
befallen von einem entsetzlichen Verdacht
In der Tür steht der Teufel
und grinst
EIN ALTES HAUS
Im Kamin verbrannten Worte zu kalter Asche
und der Regen tanzte durchs Dach
Jetzt sitzen wir am Fenster und schauen hinaus in das
Schneegestöber
hoffen aber nicht mehr auf einen Besuch
Sogar der Wind meidet die Tür
Aber hin und wieder und unerwartet
sticht der Schmerz durch die Rippen
hin und wieder richten wir den Blick
auf die Spinnen die ihr Netz
über das bleiche Gesicht der Vergangenheit weben
GEISTERSCHLUCHT
Der Sturm wie durch Zauber verstärkt
brüllende Brecher groteskes Geschrei
sie lauschten und warteten
Dann warf eine Brandungswelle
einen dunklen Klumpen an Land
nun erschraken sie
Er
taumelte auf den erschöpften Füßen
und
stieß seltsame Worte aus
während
sie ihn mit Steinen bewarfen
Jahr für Jahr wehte kalt der Wind um die Schlucht
und
blies den Sand hinweg
Schließlich fanden Menschen Knochen
zur Hälfte im Sand vergraben
weißpolierte Schenkelknochen windgepeitschte Rippen
und ein Schädel zertrümmert von einem Stein
unter der Hutkrempe dort
wo fröhliche Sonnenkinder
umhertollen beim Mörderspiel
Ari Jósefsson, geboren 1939 in Blönduós, ging in Akureyri zur Schule und später
in die Hauptstadt Reykjavík, wo er sich bald einen Namen unter den jungen
Dichtern machte und zusammen mit Dagur Sigurðarson und anderen 1958 die
Zeitschrift Forspil / Vorspiel herausgab. Er studierte Isländisch an der
Universität Islands sowie Romanistik in Barcelona und später in Bukarest. Als
er nach Abschluss seines Rumänisch-Sprachstudiums von dort auf dem Heimweg nach
Reykjavík war, ging er auf tragische Weise vom Schiff Gullfoss über Bord und
ertrank am 18. Juni 1964. Drei Jahre zuvor, 1961, war mit Nei / Nein
sein erster Gedichtband erschienen; er sollte sein einziger bleiben.