Anton Tschechow: Die Leichtbeschwingte
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Anton Tschechow
Die Leichtbeschwingte
Übersetzt von Alexander Eliasberg
I
Der Hochzeit
Olga Iwanownas wohnten alle ihre Freundinnen und guten Bekannten bei.
»Seht ihn
nur an: nicht wahr, es ist was an ihm?« sagte sie ihren Freunden, auf ihren
Mann zeigend, als wollte sie erklären, warum sie diesen einfachen, sehr
gewöhnlichen und durch nichts bemerkenswerten Menschen geheiratet hatte.
Ihr Mann,
Ossip Stepanytsch Dymow war Arzt und stand im Rang eines Titularrates. Er war
an zwei Krankenhäusern angestellt: an dem einen als ein außeretatmäßiger
ordinierender Arzt und am anderen als Prosektor. Täglich von neun Uhr früh bis
mittag empfing er Kranke und arbeitete in seinem Krankensaal; am Nachmittag
fuhr er aber mit der Pferdebahn in das andere Krankenhaus, wo er die Leichen
der verstorbenen Kranken sezierte. Seine Privatpraxis war äußerst gering und
brachte ihm höchstens fünfhundert Rubel jährlich ein. Das war alles. Was wäre
über ihn noch zu sagen? Dabei waren aber Olga Iwanowna, ihre Freunde und guten
Bekannten keine ganz gewöhnlichen Menschen. Ein jeder von ihnen war in
irgendeiner Beziehung bemerkenswert, hatte einen gewissen Namen und war
berühmt; und wenn er noch nicht berühmt war, so berechtigte er wenigstens zu
den glänzendsten Hoffnungen. Ein Schauspieler, ein großes, längst erkanntes
Talent, ein hübscher, kluger und bescheidener Mann und vorzüglicher Deklamator,
der Olga Iwanowna im Sprechen unterrichtete; ein Opernsänger, ein gutmütiger
Dicker, der Olga Iwanowna seufzend beteuerte, daß sie sich zugrunde richte:
wenn sie nicht so faul wäre und sich zusammennähme, könnte aus ihr eine
hervorragende Sängerin werden; ferner einige Maler, und unter diesen der Genre-,
Tier- und Landschaftsmaler Rjabowskij, ein sehr hübscher blonder junger Mann
von etwa fünfundzwanzig Jahren, der in den Ausstellungen Erfolge hatte und
dessen letztes Bild für fünfhundert Rubel verkauft worden war; er korrigierte
Olga Iwanownas Studien und sagte ihr, daß aus ihr vielleicht was Rechtes werden
könnte; ferner ein Cellist, dessen Instrument förmlich weinte und der ganz
offen zu sagen pflegte, daß von allen seinen weiblichen Bekannten ihn nur Olga
Iwanowna zu begleiten verstünde; ferner ein junger, doch schon bekannter
Literat, der Novellen, Dramen und Erzählungen schrieb. Wer noch? Nun, ein
gewisser Wassilij Wassiljewitsch, Gutsbesitzer und Grandseigneur, der aus
Liebhaberei Illustrationen und Vignetten zeichnete und ein wunderbares Gefühl für
den altrussischen Stil und Volksdichtung hatte; auf Papier, Porzellan und
angerußten Tellern schuf er wahre Wunderwerke. In dieser künstlerischen, freien
und vom Schicksal verzogenen Gesellschaft, die zwar bescheiden und feinfühlend
war, aber an die Existenz von Aerzten nur in Krankheitsfällen dachte und für
die der Name Dymow ebenso gleichgültig klang wie etwa Ssidorow oder Tarassow, –
in dieser Gesellschaft erschien Dymow fremd, überflüssig und klein, obwohl er
groß gewachsen und breitschultrig war. Man hatte den Eindruck, daß er einen
fremden Frack anhabe, und sein Bärtchen ließ irgendwie an einen Kommis denken.
Wenn er übrigens Dichter oder Maler wäre, so würde man sagen, daß er mit seinem
Bärtchen an Zola erinnere.
Der
Schauspieler sagte Olga Iwanowna, daß sie mit ihren flachsblonden Haaren, im
Traukleide außerordentlich einem schlanken Kirschbäumchen gleiche, wenn es im
Frühjähr über und über mit zarten weißen Blüten bedeckt sei.
»Nein, hören
Sie einmal!« sagte ihm Olga Iwanowna, seine Hand ergreifend. »Wie das so
plötzlich gekommen ist? Hören Sie nur ... Sie müssen wissen, daß
mein Vater am gleichen Krankenhaus wie er angestellt war. Als mein armer Vater
erkrankte, saß Dymow Tag und Nacht an seinem Bett. Diese Aufopferung! Hören Sie
nur, Rjabowskij ... Auch Sie, Dichter, hören Sie zu, es ist sehr
interessant. Kommen Sie nur näher her. Diese Aufopferung, diese aufrichtige
Teilnahme! Auch ich schlief die ganzen Nächte nicht und saß immer beim Vater,
und plötzlich war's geschehen: ich hatte das Herz des jungen Mannes erobert!
Mein Dymow verliebte sich in mich bis über die Ohren. Das Schicksal hat
manchmal seltsame Launen. Nun, als mein Vater schon tot war, besuchte er mich
ab und zu, traf mich auch manchmal auf der Straße, und eines schönen Abends machte
er mir ganz unerwartet den Antrag ... es kam wie ein Blitz aus
heiterem Himmel ... Ich weinte die ganze Nacht durch und verliebte
mich auch selbst höllisch. Und nun bin ich, wie Sie sehen, seine Gattin. Nicht
wahr, es ist doch etwas Starkes, Mächtiges an ihm, etwas von einem Bären? Jetzt
ist sein Gesicht schlecht beleuchtet und nur im Dreiviertelprofil zu sehen,
aber schauen Sie nur seine Stirn an, wenn er sich umwendet. Rjabowskij, was
sagen Sie zu dieser Stirn? Dymow, wir sprechen eben von dir!« rief sie dem
Gatten zu. »Komm mal her. Reich deine brave Hand Rjabowskij! Ja, so. Seid
Freunde.«
Dymow
reichte, gutmütig und naiv lächelnd, Rjabowskij die Hand und sagte:
»Freut mich
sehr. Unter den Kollegen, die mit mir das Staatsexamen machten, war auch ein
gewisser Rjabowskij. Ist es nicht ein Verwandter von Ihnen?«
II
Olga
Iwanowna war zweiundzwanzig und Dymow einunddreißig. Ihr Leben gestaltete sich
nach der Hochzeit sehr schön. Olga Iwanowna behängte alle Wände im Salon mit
ihren eigenen und fremden, gerahmten und ungerahmten Studien und errichtete
neben dem Klavier eine niedliche Dekoration aus chinesischen Papierschirmen,
Staffeleien, bunten Lappen, Dolchen, Büsten und Photographien . . .
Im Eßzimmer beklebte sie die Wände mit Volksbilderbogen, hängte ein paar
Bastschuhe und eine Sichel hin, stellte in eine Ecke eine Sense und einen
Rechen, und so entstand ein »russisches« Eßzimmer. Im Schlafzimmer drapierte
sie die Decke und die Wände mit dunklem Tuch, so daß eine Art Höhle entstand,
hängte über den Betten eine venezianische Laterne auf und stellte neben die
Türe eine Figur mit einer Hellebarde. Und alle fanden, daß das junge Ehepaar
eine entzückende Behausung hatte.
Olga
Iwanowna stand jeden Morgen gegen elf Uhr auf und spielte Klavier; wenn aber
der Tag sonnig war, so malte sie etwas in Oel. Gegen ein Uhr fuhr sie zu ihrer
Schneiderin. Da sie und Dymow nur wenig Geld hatten, das gerade zum Leben
reichte, so mußte sie, um oft in neuen Toiletten zu erscheinen und Eindruck zu
machen, mit Hilfe der Schneiderin allerlei Kunstgriffe anwenden. Sehr oft
entstand aus irgendeinem alten, umgefärbten Kleid, aus ganz wertlosen
Tüllfetzen, Resten von Spitzen, Plüsch und Seide ein wahres Wunder, etwas
Bezauberndes, ein Gedicht. Von der Schneiderin begab sich Olga Iwanowna
gewöhnlich zu irgendeiner Schauspielerin, die sie kannte, um die letzten
Theaterneuigkeiten zu erfahren und sich bei dieser Gelegenheit auch wegen einer
Karte zu einer Premiere oder zu einem Benefiz zu bemühen. Von der
Schauspielerin eilte sie in das Atelier eines Malers oder in eine
Kunstausstellung und dann zu irgendeiner Berühmtheit, um sie zu sich
einzuladen, oder um einen Besuch zu erwidern, oder um einfach etwas zu
schwatzen. Ueberall empfing man sie liebenswürdig und mit Freuden und versicherte
ihr, daß sie eine nette, liebe, ungewöhnliche Person sei. Diejenigen, die sie
für berühmt und bedeutend hielt, nahmen sie wie ihresgleichen auf und
prophezeiten ihr einstimmig, daß aus ihr, bei ihrem Talent, Geschmack und
Geist, wenn sie sich nur auf etwas Bestimmtes konzentrieren wollte, etwas
Bedeutendes werden würde. Sie sang, spielte Klavier, malte, modellierte,
beteiligte sich an Liebhabervorstellungen und machte das alles nicht irgendwie,
sondern mit ausgesprochenem Talent; ob sie Lampions anfertigte, ob sie sich zu
einem Maskenfeste kostümierte, ob sie jemand die Krawatte band, – alles geriet
bei ihr ungewöhnlich künstlerisch, graziös und hübsch. Aber in keiner Beziehung
äußerte sich ihre Begabung so stark wie in der Fähigkeit, berühmte Menschen auffallend
schnell und intim kennen zu lernen. Kaum ließ jemand auch nur ein wenig von
sich reden, als sie sofort seine Bekanntschaft machte und ihn zu sich einlud.
Jede neue Bekanntschaft war für sie ein wahres Fest. Sie vergötterte die
berühmten Menschen, war stolz auf sie und sah sie jede Nacht im Traum. Sie
lechzte förmlich nach ihnen und konnte diesen Durst unmöglich stillen. Die
alten traten zurück und wurden vergessen, an ihre Stelle kamen neue, sie
gewöhnte sich aber sehr bald auch an diese, oder sah sich enttäuscht und
lechzte wieder nach neuen berühmten Menschen; sie fand sie und suchte von
neuem. Wozu?
Gegen fünf
Uhr aß sie mit ihrem Manne zu Mittag. Sein einfacher, gesunder Menschenverstand
und seine Gutmütigkeit rührten und entzückten sie. Sie sprang jeden Augenblick
auf, umschlang seinen Kopf mit den Händen und bedeckte ihn mit Küssen.
»Dymow, du
bist ein kluger und edler Mensch,« sagte sie ihm, »doch du hast einen großen
Fehler. Du interessierst dich gar nicht für die Kunst. Du lehnst die Musik und
die Malerei ab.«
»Ich
verstehe sie nicht,« antwortete er mild. »Ich habe mich mein Lebenlang mit den
Naturwissenschaften und mit der Medizin abgegeben und keine Zeit gehabt, mich
für die Künste zu interessieren.«
»Das ist
aber schrecklich, Dymow!«
»Warum denn?
Deine Bekannten wissen nichts von Naturwissenschaften und Medizin, und du
machst ihnen doch keinen Vorwurf daraus. Jeder hat das Seine. Ich habe für die
Landschaftsbilder und Opern kein Verständnis, denke mir aber so: wenn die einen
klugen Menschen diesen Dingen ihr ganzes Leben widmen, und die anderen klugen
Menschen dafür Riesensummen ausgeben, so sind diese Dinge offenbar notwendig.
Ich verstehe sie nicht, aber das heißt noch nicht, daß ich sie ablehne.«
»Gib mir
dein brave Hand, daß ich sie drücke!«
Nach dem
Essen begab sich Olga Iwanowna zu ihren Bekannten, dann ins Theater oder in ein
Konzert und kam erst nach Mitternacht heim. Und so ging es Tag für Tag.
Jeden
Mittwoch hatte sie eine Abendgesellschaft. Bei diesen Zusammenkünften
vertrieben sich die Hausfrau und ihre Gäste die Zeit weder mit Kartenspiel,
noch mit Tänzen, sondern mit allerlei Künsten. Der Schauspieler rezitierte, der
Sänger sang, die Maler zeichneten in Olga Iwanownas Albums, von denen sie eine
Menge besaß, der Cellist spielte, und die Hausfrau selbst zeichnete,
modellierte, sang, oder begleitete. In den Pausen zwischen Rezitation, Musik
und Gesang sprachen sie über Literatur, Theater und Malerei. Damen waren
niemals dabei, weil Olga Iwanowna alle Damen außer den Schauspielerinnen und
ihrer Schneiderin für langweilig und banal hielt. Bei jedem Gesellschaftsabend
fuhr die Hausfrau bei jedem Läuten an der Tür zusammen und verkündete mit
siegreicher Miene: »Das ist er!« wobei sie unter »er« eine neu eingeladene
Berühmtheit verstand. Dymow war niemals anwesend, und niemand dachte an seine
Existenz. Doch Punkt halb zwölf ging die Eßzimmertüre auf, an der Schwelle
erschien Dymow und sagte mit seinem gutmütigen, sanften Lächeln, sich die Hände
reibend:
»Meine
Herren, ich bitte zum Essen.«
Alle begaben
sich ins Eßzimmer und sahen jedesmal dasselbe Bild: eine Platte mit Austern,
ein Stück Schinken oder Kalbfleisch, Sardinen, Käse, Kaviar, eingemachte Pilze,
Schnaps und zwei Karaffen Wein.
»Mein lieber
Maître d'Hôtel!« sagte Olga Iwanowna, vor Entzücken die Hände
zusammenschlagend. »Du bist einfach reizend! Meine Herren, schaut euch nur
seine Stirne an! Dymow, zeig' mal dein Profil. Meine Herren, schaut nur: das
Gesicht eines bengalischen Tigers, und der Ausdruck ist dabei so gut und sanft
wie bei einem Hirsch. Du, Liebster!«
Die Gäste
aßen, betrachteten Dymows Gesicht und dachten sich dabei: »Er ist in der Tat
ein netter Kerl.« Doch bald darauf vergaßen sie ihn und redeten wieder von
Theater, Musik und Malerei.
Die jungen
Gatten waren glücklich, und ihr Leben ging wie geschmiert. Die dritte der
Flitterwochen verging übrigens weniger glücklich, sogar recht traurig. Dymow
holte sich im Krankenhause die Gesichtsrose und mußte sechs Tage zu Bett liegen
und sich seinen schönen schwarzen Haarwuchs vollständig abrasieren lassen. Olga
Iwanowna saß an seiner Seite und weinte bitterlich; sobald es ihm aber etwas
besser ging, band sie ihm ein weißes Tüchlein um seinen kahlen Kopf und malte
nach ihm einen Beduinen. Und beiden war es dabei sehr lustig zumute. Als er
wieder gesund war und in seine Krankenhäuser ging, passierte ihm nach drei
Tagen ein neues Malheur.
»Ich habe
Pech, Mama!« sagte er einmal beim Mittagessen. »Heute habe ich vier Leichen
seziert und mir dabei zweimal in den Finger geschnitten. Das habe ich erst zu
Hause bemerkt.«
Olga
Iwanowna erschrak. Er lächelte und sagte, daß es nicht der Rede wert sei und
daß er sich beim Sezieren oft in die Finger schneide.
»Ich lasse
mich dabei oft gehen und bin zerstreut, Mama.«
Olga
Iwanowna erwartete mit Unruhe eine Blutvergiftung und betete jede Nacht zu
Gott, aber alles lief gut ab. Und wieder begann das friedliche glückliche Leben
ohne Kummer und ohne Unruhe. Die Gegenwart war schön, und in Aussicht stand der
Frühling, der schon aus der Ferne lächelte und tausend Freuden verhieß. Das
Glück sollte unermeßlich werden. Im April, Mai und Juni die Sommerfrische weit
außerhalb der Stadt, Spaziergänge, Studien, Fischfang und Nachtigallengesang;
und später, vom Juli bis zum Herbst eine gemeinsame Reise aller Maler zur
Wolga, an der sich unbedingt auch Olga Iwanowna beteiligen sollte. Sie hatte
sich schon zwei neue Reisekostüme aus Bauernleinen machen lassen, und Farben,
Pinsel, Leinwand und eine neue Palette gekauft. Fast jeden Tag kam zu ihr
Rjabowskij, um ihre Erfolge in der Malerei zu sehen. Wenn sie ihm ihre
Malereien zeigte, steckte er die Hände tief in die Hosentaschen, preßte die
Lippen fest zusammen und sagte:
»So, so ... Diese Wolke schreit zu sehr: sie ist gar nicht abendlich beleuchtet. Der
Vordergrund ist etwas gedrängt und stimmt nicht ganz ... Die Hütte
sieht so aus, als ob sie am Ersticken wäre und jämmerlich winselte
... die Ecke da müßten Sie etwas dunkler machen. Doch im ganzen gar
nicht übel ... Ich muß es loben.«
Je
unverständlicher er sprach, um so besser konnte ihn Olga Iwanowna verstehen.
III
Am zweiten
Pfingstfeiertag kaufte Dymow einige Delikatessen und Konfekt und fuhr am
Nachmittag zu seiner Frau in die Sommerfrische hinaus. Er hatte sie schon seit
zwei Wochen nicht gesehen und sehnte sich nach ihr. Während er im
Eisenbahnwagen saß und später im Walde seine Sommerwohnung suchte, fühlte er
Hunger und Müdigkeit und dachte nur daran, wie er mit seiner Frau zu zweit zu
Abend essen und dann fest einschlafen würde. Mit Vergnügen betrachtete er sein
Paket, das Kaviar, Käse und Weißlachs enthielt.
Als er
endlich seine Sommerwohnung fand und erkannte, ging schon die Sonne unter. Die
alte Dienstmagd sagte ihm, daß die Gnädige nicht zu Hause sei und wohl bald
kommen würde. Das recht unansehnliche Landhaus mit den niederen, mit Papier
beklebten Decken und unebenen Fußböden voller Ritzen enthielt bloß drei Zimmer.
In dem einen stand ein Bett, im zweiten lagen auf Stühlen und Fensterbänken
Keilrahmen, Pinsel, fettige Papiere und Herrenmäntel und Hüte herum, und im
dritten traf Dymow drei ihm unbekannte Männer. Zwei von ihnen hatten schwarze
Vollbärte, der dritte aber war bartlos und dick, anscheinend ein Schauspieler.
Auf dem Tische kochte ein Samowar.
»Was
wünschen Sie?« fragte der Schauspieler mit einer Baßstimme, Dymow recht
unfreundlich musternd. »Sie suchen wohl Olga Iwanowna? Warten Sie eine Weile,
sie muß gleich kommen.«
Dymow setzte
sich hin und begann zu warten. Der eine von den Schwarzbärtigen blickte ihn
verschlafen und gleichgültig an, schenkte sich ein Glas Tee ein und fragte:
»Wollen Sie
vielleicht Tee?«
Dymow hatte
zwar Hunger und Durst; da er sich aber den Appetit nicht verderben wollte,
verzichtete er auf den Tee. Bald darauf erklangen Schritte und ein ihm
wohlbekanntes Lachen; die Tür ging auf, und ins Zimmer stürzte Olga Iwanowna in
einem weitkrempigen Hut, mit einem Malkasten in der Hand; ihr folgte mit einem
großen Schirm und einem Klappstuhl, lustig und rotbäckig, Rjabowskij.
»Dymow!«
rief Olga Iwanowna und wurde vor Freude ganz rot. »Dymow!« rief sie noch einmal
und schmiegte ihren Kopf und beide Hände an seine Brust. »Du bist es! Warum
bist du so lange nicht gekommen? Warum? Warum?«
»Wann soll ich
denn herkommen, Mama? Ich bin immer beschäftigt, und wenn ich mal freie Zeit
habe, so paßt der Fahrplan nicht.«
»Aber wie
freue ich mich, dich zu sehen! Die ganze Nacht träumte ich von dir und
fürchtete immer, du seist erkrankt. Ach, wenn du nur wüßtest, wie lieb, wie
willkommen du mir bist! Du wirst mein Retter sein. Du allein kannst mich
retten! Morgen soll hier eine höchst originelle Hochzeit stattfinden,« fuhr sie
fort, lachend und ihrem Manne die Krawatte bindend. »Der Bräutigam ist ein
junger Telegraphist von der Bahnstation, ein gewisser Tschikeldejew. Ein
hübscher junger Mann, gar nicht dumm, und hat im Gesicht etwas Starkes, weißt
du, etwas von einem Bären . . . Er könnte als Modell zu einem
Warjagen dienen. Wir, alle Sommerfrischler, nehmen an ihm großen Anteil und
gaben ihm das Ehrenwort, zu seiner Hochzeit zu kommen ... Der Mann
ist nicht reich, einsam, und schüchtern, und es wäre Sünde, ihm die Anteilnahme
zu verweigern. Denke dir nur: gleich nach der Morgenmesse ist die Trauung, dann
gehen alle zu Fuß von der Kirche zum Hause der Braut; stell' es dir nur vor:
wir gehen durch den Wald, die Vögel singen, überall im Grase Sonnenreflexe, und
wir alle bilden bunte Flecken auf grellgrünem Grund – furchtbar originell, ganz
im Stile der französischen Impressionisten. Dymow, was soll ich aber zur
Trauung anziehen?« fragte Olga Iwanowna mit klagender Miene. »Ich habe hier
nichts, buchstäblich nichts! Weder ein Kleid, noch Blumen, noch Handschuhe
... Du mußt mich retten. Wenn du schon mal hergekommen bist, so
will es wohl das Schicksal, daß du mich rettest. Liebster, nimm die Schlüssel,
fahr' nach Hause und hol' aus der Garderobe mein rosa Kleid. Du kennst es, es
hängt gleich vorn ... Dann findest du in der Kammer rechts auf dem
Fußboden zwei Pappschachteln. Wenn du die obere aufmachst, so siehst du nur
Tüll und Tüll und allerlei Reste, und darunter liegen die Blumen; nimm die
Blumen vorsichtig heraus, gib dir Mühe, sie nicht zu zerdrücken und bring' sie
her, ich werde selbst die richtigen auswählen ... Und dann kauf mir
auch Handschuhe.«
»Gut!« sagte
Dymow. »Ich fahre morgen in die Stadt und schicke alles her.«
»Wieso
morgen?« fragte Olga Iwanowna und blickte ihn erstaunt an. »Ist denn morgen
noch Zeit! Der erste Zug geht um neun Uhr, und die Trauung ist um elf. Nein,
Schatz, es muß heute geschehen, unbedingt heute! Wenn du morgen keine Zeit
hast, so schicke die Sachen mit einem Dienstmann. Geh nun ...
Gleich muß der Personenzug abgehen. Komm nicht zu spät, Liebster!«
»Ach, wie
leid es mir tut, dich wieder fortzuschicken,« sagte Olga Iwanowna mit Tränen in
den Augen. »Und warum habe ich dumme Gans dem Telegraphisten das Wort gegeben?«
Dymow trank
schnell sein Glas Tee aus, nahm einen Kringel und ging, mild lächelnd, zur
Station. Den Kaviar, den Käse und den Weißlachs verzehrten aber die beiden
Schwarzbärtigen und der Schauspieler.
IV
In einer
stillen mondhellen Julinacht stand Olga Iwanowna auf dem Deck eines
Wolgadampfers und blickte bald auf das Wasser und bald auf die schönen Ufer. An
ihrer Seite stand Rjabowskij und sagte ihr, daß die schwarzen Schatten im
Wasser keine Schatten, sondern Träume seien, daß es gut wäre, angesichts dieses
verzauberten Wassers mit dem phantastischen Abglanze, angesichts dieses
abgrundtiefen Himmels und der traurigen und verträumten Ufer, die von der
Nichtigkeit unseres Lebens und von der Existenz einer höheren, ewigen Seligkeit
sprechen, in Vergessenheit zu versinken, zu sterben, zu einer Erinnerung zu
werden. Die Vergangenheit sei banal und uninteressant, die Zukunft nichtig,
diese herrliche, einzige Nacht werde aber bald verrinnen und mit der Ewigkeit
zusammenfließen, – wozu solle man dann noch leben?
Olga
Iwanowna lauschte bald der Stimme Rjabowskijs und bald der Stille der Nacht und
dachte daran, daß sie unsterblich sei und niemals sterben werde. Das
türkisblaue Wasser, wie sie es noch nie gesehen hatte, der Himmel, die Ufer,
die schwarzen Schatten und die ihr selbst unbegreifliche Freude, die ihre Seele
erfüllte, sagten ihr, daß aus ihr eine große Künstlerin werden würde und daß
ihrer dort, hinter dem Horizonte, jenseits der Mondnacht, im unendlichen Raume
Erfolge, Ruhm und die Liebe des Volkes harrten ... Wenn sie, ohne
zu zwinkern, lange in die Ferne blickte, glaubte sie große Menschenmassen und
Feuer zu sehen und Musik und Rufe der Begeisterung zu hören; und sie sah sich
selbst in einem weißen Kleide, von Blumen überschüttet. Sie dachte auch daran,
daß an ihrer Seite, an den Bord gelehnt, ein echter großer Mann, ein Genie, ein
Auserwählter Gottes stehe ... Alles, was er bisher geschaffen hat,
ist schön, neu und ungewöhnlich; und alles, was er mit der Zeit, wenn sein
außergewöhnliches Talent gereift und erstarkt ist, schaffen wird, wird
erstaunlich und unsagbar erhaben sein; dies kann man schon an seinen
Gesichtszügen, seiner Haltung und seinem Verhältnis zur Natur erkennen. Von den
Schatten, den abendlichen Tönen, vom Mondglanze spricht er in einer besonderen,
nur ihm eigenen Sprache, so daß man unwillkürlich in den Bann seiner Gewalt
über die Natur gerät. Er selbst ist sehr hübsch, originell, und sein
unabhängiges, freies, aller irdischen Sorgen bares Leben gleicht dem eines
Vogels.
»Es wird
frisch,« sagte Olga Iwanowna und fuhr zusammen.
Rjabowskij
hüllte sie in seinen Mantel und versetzte traurig:
»Ich fühle
mich ganz in Ihrer Gewalt. Ich bin ein Sklave. Warum sind Sie heute so
bezaubernd?«
Er blickte
sie die ganze Zeit unverwandt an, seine Augen waren so schrecklich, und sie
fürchtete, ihn anzusehen.
»Ich liebe
Sie wahnsinnig ...« flüsterte er, während sein Atem ihre Wange berührte.
»Sagen Sie mir nur ein einziges Wort, und ich werde nicht mehr leben, werde
meine Kunst aufgeben ...« murmelte er in höchster Erregung.
»Lieben Sie mich, lieben Sie mich ...«
»Sprechen
Sie nicht so,« sagte Olga Iwanowna, die Augen schließend. »Es ist so
schrecklich. Und Dymow?«
»Was, Dymow?
Warum Dymow? Was geht mich Dymow an? Die Wolga, der Mond, die Schönheit, meine
Liebe, mein Entzücken, – es gibt gar keinen Dymow ... Ach, ich weiß
nichts ... Ich brauche keine Vergangenheit, schenken Sie mir einen
einzigen Augenblick ... nur einen Augenblick!«
Olga
Iwanowna hatte Herzklopfen. Sie wollte an ihren Mann denken, aber alles
Vergangene mit der Hochzeit, mit Dymow, mit ihren Abendgesellschaften erschien
ihr so klein, nichtig, trübe, überflüssig und ferne ... Und in der
Tat: was ist Dymow? warum Dymow? was geht sie Dymow an? Existiert er überhaupt
in der Natur und ist er nicht ein Traum?
Ihm, dem
einfachen und gewöhnlichen Menschen genügt auch das Glück, das er schon
genossen hat, – dachte sie sich, das Gesicht mit den Händen bedeckend. – Soll
man uns nur dort verurteilen und verdammen, ich will aber allen zum Trotz
zugrunde gehen . . . Man muß im Leben alles auskosten. Mein Gott, wie
unheimlich und wie schön! –
»Nun? Was?«
stammelte der Maler, sie umschlingend und ihr gierig die Hände küssend, mit
denen sie ihn noch schwach zurückzustoßen versuchte. »Liebst du mich? Ja? Ja?
Oh, diese Nacht! Diese herrliche Nacht!«
»Ja, diese
Nacht!« flüsterte sie, ihm in die Augen blickend, in denen Tränen schimmerten.
Dann sah sie sich rasch um, umarmte ihn und küßte ihn auf den Mund.
»Das Schiff
hält gleich bei Kineschma,« sagte jemand am anderen Ende des Decks. Sie hörten
schwere Schritte. Es war ein Kellner aus dem Büfett.
»Hören Sie,«
sagte ihm Olga Iwanowna, vor Glück lachend und weinend: »Bringen Sie uns Wein.«
Der Maler,
ganz bleich vor Erregung, setzte sich auf die Bank, blickte Olga Iwanowna
vergötternd und dankbar an, schloß dann die Augen und sagte mit einem matten
Lächeln:
»Ich bin
müde.«
Und er
lehnte seinen Kopf an den Bord.
V
Der zweite
September war ein warmer und stiller, doch trüber Tag. Am frühen Morgen zogen
über die Wolga leichte Nebel, und nach neun begann es zu tröpfeln. Und man
hatte gar keine Hoffnung, daß der Himmel sich aufheitern würde. Rjabowskij
sagte beim Morgentee zu Olga Iwanowna, daß die Malerei die undankbarste und
langweiligste Kunst sei, daß er selbst gar kein Künstler wäre, daß nur die
Narren glaubten, er habe Talent; und plötzlich ergriff er, so mir nichts, dir
nichts, ein Messer und zerkratzte seine beste Studie. Nach dem Tee saß er
trübsinnig am Fenster und blickte auf die Wolga hinaus. Alles sprach vom
nahenden traurigen und trüben Herbst. Es war, als hätte die Natur die üppigen
grünen Teppiche der Ufer, die diamantenen Spiegelungen der Strahlen, die
durchsichtige blaue Ferne und alles Elegante und Festliche von der Wolga
genommen und in ihre Truhen bis zum nächsten Frühling gepackt; die Raben flogen
längs der Ufer und neckten die Wolga: »Nackt! Nackt!« Rjabowskij lauschte ihrem
Krächzen und dachte sich, daß sein Talent gänzlich verpufft sei, daß alles in
dieser Welt konventionell, relativ und dumm sei und daß er sich an diese Frau
nicht hätte binden sollen . . . Mit einem Worte, er war übelster
Laune und fing Grillen.
Olga
Iwanowna saß hinter dem Bretterverschlag auf dem Bett, fuhr sich mit den
Fingern durch ihre schönen flachsblonden Haare und sah sich bald im Salon, bald
im Schlafzimmer, bald im Arbeitszimmer ihres Mannes; die Phantasie versetzte
sie ins Theater, zu der Schneiderin und zu den berühmten Freunden. Was mögen
sie jetzt wohl treiben? Ob sie sich ihrer erinnern? Die Saison hat schon
begonnen, und es wäre Zeit, an die Abendgesellschaften zu denken. Und Dymow?
Der liebe Dymow! Wie sanft, kindlich und unglücklich bittet er sie in seinen
Briefen, nach Hause zurückzukehren! Jeden Monat schickte er ihr fünfundsiebzig
Rubel, und als sie ihm einmal schrieb, daß sie den Malern hundert Rubel
schulde, schickte er ihr auch diese hundert Rubel. Dieser gute, großmütige
Mensch! Das Herumreisen hatte Olga Iwanowna ermüdet, sie langweilte sich, sie
wollte so schnell als möglich von diesen Bauern, von diesem feuchten
Wassergeruch fliehen und sich vom Gefühl der körperlichen Unsauberkeit
befreien, das sie die ganze Zeit empfand, als sie in Bauernhäusern wohnte und
von Dorf zu Dorf zog. Hätte Rjabowskij den anderen Malern nicht das Ehrenwort
gegeben, mit ihnen hier bis zum 20. September zu bleiben, so könnte sie schon
heute abreisen. Wie schön wäre das!
»Mein Gott,«
stöhnte Rjabowskij. »Wann kommt endlich die Sonne? Ich kann doch die
Landschaft, die ich bei Sonne begonnen habe, nicht ohne Sonne
weitermalen! ...«
»Du hast ja
auch noch eine Skizze mit bewölktem Himmel,« sagte Olga Iwanowna, hinter dem
Bretterverschlag hervorkommend. »Weißt du noch, rechts im Vordergrunde ist ein
Wald, und links – eine Herde Kühe und Gänse. Jetzt könntest du sie
fertigmalen.«
»Ach!« sagte
der Maler und verzog daß Gesicht. »Fertigmalen! Halten Sie mich denn für so
dumm, daß ich nicht weiß, was ich zu tun habe!«
»Du bist
jetzt ganz anders zu mir!« versetzte Olga Iwanowna mit einem Seufzer.
»Na also!«
Olga
Iwanowna zitterte das Gesicht, sie ging zum Ofen und fing zu weinen an.
»Ja, die
Tränen fehlten noch gerade. Hören Sie auf! Ich habe tausend Gründe zum Weinen,
und doch weine ich nicht.«
»Tausend
Gründe!« sagte Olga Iwanowna schluchzend. »Der Hauptgrund ist, daß ich Ihnen
zur Last geworden bin. Ja!« sagte sie und brach in Tränen aus. »Wenn man schon
die Wahrheit sagen soll, so schämen Sie sich unserer Liebe. Sie geben sich alle
Mühe, daß die anderen Maler nichts merken, obwohl Sie es gar nicht
verheimlichen können und alle schon alles wissen.«
»Olga, ich
bitte Sie nur um das eine,« sagte der Maler flehend und drückte sich die Hand
ans Herz: »Nur um das eine: quälen Sie mich nicht! Sonst will ich von Ihnen
nichts.«
»Schwören
Sie aber, daß Sie mich immer noch lieben!«
»Das ist ja
ein Martyrium!« sagte der Maler durch die Zähne und sprang auf. »Das endet noch
damit, daß ich mich in die Wolga stürze oder verrückt werde! Lassen Sie mich in
Ruhe!«
»Gut, töten
Sie mich, töten Sie mich!« schrie Olga Iwanowna. »Töten Sie mich!«
Sie brach
wieder in Tränen aus und zog sich hinter den Verschlag zurück. Auf dem
Strohdache rauschte der Regen. Rjabowskij griff sich an den Kopf, ging einmal
durchs Zimmer, setzte sich mit so entschlossener Miene, als wollte er jemand
etwas beweisen, die Mütze auf, nahm das Gewehr und ging aus dem Hause.
Als er fort
war, lag Olga Iwanowna lange auf dem Bette und weinte. Zuerst dachte sie sich,
daß es gut wäre, Gift zu nehmen, damit Rjabowskij sie schon als Leiche
antreffe; dann dachte sie aber wieder an ihren Salon, an das Arbeitszimmer
ihres Mannes und stellte sich vor, wie sie unbeweglich an Dymows Seite sitzt
und die physische Ruhe und Reinheit genießt und wie sie am gleichen Abend in
der Oper den Masini hört. Vor Sehnsucht nach der Kultur, nach dem Lärm der
Stadt und den Berühmtheiten krampfte sich ihr Herz zusammen. Die Bäuerin trat
in die Stube und heizte den Herd ein, um das Mittagessen zu kochen. Die Luft
füllte sich mit Ofendunst und wurde blau vor Rauch. Später kamen die Maler in
schmutzigen Schaftstiefeln, die Gesichter naß vom Regen; sie sahen sich die
Skizzen und Studien an und sagten sich zum Troste, daß die Wolga auch bei
schlechtem Wetter ihre Reize habe. An der Wand tickte eine billige Uhr
... Die erfrorenen Fliegen drängten sich in der Ecke bei den
Heiligenbildern und summten, und man hörte, wie sich in den dicken
Skizzenmappen unter den Bänken die Schwaben regten ...
Rjabowskij
kam heim, als die Sonne unterging. Er warf seine Mütze auf den Tisch, ließ sich
blaß und müde, mit schmutzigen Stiefeln auf die Bank sinken und schloß die
Augen.
»Ich bin
müde . . .« sagte er und bewegte die Brauen, um die Lider zu heben.
Um ihm zu
zeigen, daß sie ihm nicht zürne und ihm wieder gut sei, kam Olga Iwanowna auf
ihn zu, küßte ihn stumm und fuhr ihm mit einem Kamm durch seine blonden Haare.
Sie wollte seine Frisur in Ordnung bringen.
»Was ist?«
fragte er zusammenfahrend, als hätte ihn etwas Kaltes berührt, und öffnete die
Augen. »Was ist? Ich bitte Sie, lassen Sie mich in Ruhe.«
Er schob sie
mit den Händen zurück und ging auf die Seite, und sie glaubte in seinem Gesicht
Ekel und Aerger zu lesen. In diesem Augenblick brachte ihm die Bäuerin
vorsichtig, mit beiden Händen einen Teller mit Kohlsuppe, und Olga Iwanowna
sah, wie sie ihre Daumen in der Suppe badete. Das schmutzige Weib mit dem
zusammengeschnürten dicken Bauch, die Kohlsuppe, die Rjabowskij mit Gier zu
essen begann, die Bauernstube und dieses ganze Leben, das sie früher seiner
Einfachheit und malerischen Unordnung wegen so sehr geliebt hatte, – das alles
erschien ihr jetzt entsetzlich. Sie fühlte sich gekränkt und sagte kühl:
»Wir müssen
uns für einige Zeit trennen, sonst können wir uns vor lauter Langeweile
ernsthaft verzanken. Ich habe es satt. Heute reise ich ab.«
»Wie? Auf
des Schusters Rappen?«
»Heute ist
Donnerstag, um halb zehn geht also der Dampfer.«
»So? Ja
gewiß ... Nun, verreise ...« sagte er mild, sich den Mund statt mit einer
Serviette mit einem Handtuch wischend. »Du langweilst dich hier und hast nichts
zu tun. Ich müßte ein großer Egoist sein, um dich zurückzuhalten. Reise nur
heim, und nach dem Zwanzigsten sehen wir uns wieder.«
Olga
Iwanowna packte ihre Sachen in bester Laune, und ihre Wangen röteten sich vor
Freude. – Ist es denn wahr, – fragte sie sich, – daß ich meine Skizzen bald in
meinem Salon malen, im Schlafzimmer schlafen und auf einem Tischtuch essen
werde? – Eine Last war ihr vom Herzen gefallen, und sie zürnte Rjabowskij nicht
mehr.
»Die Farben
und Pinsel lasse ich hier zurück, Rjabuscha,« sagte sie. »Was davon übrig
bleibt, wirst du mir zurückbringen ... Paß auf, wenn ich fort bin,
sollst du keine Grillen fangen und nicht faul sein, sondern arbeiten. Du bist
ja ein tüchtiger Kerl, Rjabuscha.«
Um zehn Uhr
gab ihr Rjabowskij den Abschiedskuß, wie sie glaubte, um sie nicht auf dem
Dampfer in Gegenwart der anderen küssen zu müssen. Dann begleitete er sie zum
Landungsplatz. Bald kam das Schiff und nahm sie mit.
Sie kam nach
Hause nach zweieinhalb Tagen. Ohne den Hut und den Regenmantel abzulegen, ging
sie, vor Aufregung schwer atmend, in den Salon und dann ins Eßzimmer. Dymow saß
ohne Rock, in aufgeknöpfter Weste vor dem Tisch und wetzte ein Messer an einer
Gabel; auf dem Teller vor ihm lag ein Feldhuhn. Als Olga Iwanowna die Wohnung
betrat, war sie überzeugt, daß sie alles vor dem Manne verheimlichen müsse, daß
sie es fertig brächte und daß sie die Kraft dazu haben würde; als sie aber
jetzt sein breites, mildes, glückliches Lächeln und seine freudestrahlenden
Augen sah, überkam sie das Gefühl, daß das Geschehene vor ihm zu verheimlichen
ebenso gemein, ekelhaft und unmöglich wäre, wie einen Menschen zu verleumden,
zu bestehlen oder zu ermorden. Es gab einen Augenblick, wo sie entschlossen
war, ihm alles zu sagen. Nachdem sie sich von ihm hatte küssen und umarmen
lassen, sank sie vor ihm in die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Was ist
denn? Was hast du, Mama?« fragte er zärtlich. »Hast dich nach mir gesehnt?«
Sie hob ihr
Gesicht, das vor Scham ganz rot war, und blickte ihn schuldbewußt und flehend
an; aber die Angst und die Scham hinderten sie, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Es ist
nichts . . .« sagte sie. »Ich bin nur . . .«
»Setz'
dich,« sagte er. Er half ihr aufstehen und nötigte sie in einen Stuhl. »So
... Iß das Feldhuhn. Bist wohl hungrig, du Aermste.«
Sie atmete
gierig die ihr vertraute Luft ein und aß das Feldhuhn, und er blickte sie mit
Rührung an und lachte vor Freude.
VI
Dymow ahnte
wohl schon seit der Mitte des Winters, daß sie ihn hinterging. Ganz als ob er
ein schlechtes Gewissen hätte, konnte er seiner Frau nicht mehr gerade in die
Augen sehen, lächelte ihr nicht mehr freudig zu und brachte, um mit ihr
möglichst wenig allein zu sein, recht oft seinen Kollegen Korosteljow zum
Mittagessen mit. Dieser Korosteljow war ein kleines Männchen mit
kurzgeschorenem Schädel und etwas abgelebtem Gesicht; wenn er mit Olga Iwanowna
sprach, knöpfte er vor lauter Verlegenheit seinen Rock immer auf und zu und
zupfte sich mit der rechten Hand den linken Schnurrbart. Während des
Mittagessens unterhielten sich die beiden Aerzte darüber, daß der hohe Stand
des Zwerchfelles zuweilen unreine Herztöne bewirke, daß die Polynervosen in der
letzten Zeit sehr häufig seien, oder daß Dymow gestern bei der Sektion einer
Leiche mit der Diagnose »bösartige Anämie« einen Krebs der Bauchspeicheldrüse
vorgefunden habe. Und es sah so aus, als führten sie diese medizinische
Unterhaltung nur, um Olga Iwanowna die Möglichkeit zu geben, zu schweigen,
d. h. zu lügen. Nach dem Essen setzte sich Korosteljow ans Klavier, und
Dymow seufzte und sagte ihm:
»Ach,
Bruder, was soll man noch reden! Spiel' mir etwas Trauriges.«
Korosteljow
hob die Achseln, spreizte die Finger, schlug einige Akkorde an und sang mit
seiner Tenorstimme das Lied: »O zeig' mir nur eine Behausung, wo der
russische Bauer nicht stöhnt.« Dymow aber seufzte wieder, stützte das Kinn in
die Hand und wurde nachdenklich.
In der
letzten Zeit benahm sich Olga Iwanowna äußerst unvorsichtig. Jeden Morgen
erwachte sie in übelster Laune und mit dem Gedanken, daß sie den Rjabowskij
nicht mehr liebe und daß alles, Gott sei Dank, zu Ende sei. Nachdem sie aber
ihren Morgenkaffe getrunken, sagte sie sich, daß Rjabowskij ihr den Mann
genommen habe und daß sie nun ohne Mann und auch ohne Rjabowskij geblieben sei;
dann erinnerte sie sich der Erzählungen ihrer Bekannten, daß Rjabowskij für die
nächste Ausstellung etwas Erstaunliches, eine Mischung von Landschaft und
Genre, im Stile Poljenows vorbereite, worüber alle, die sein Atelier besuchten,
ganz entzückt seien; sie sagte sich, daß er es nur unter ihrem Einflusse
geschaffen und sich Dank diesem Einflusse überhaupt zum Besten verändert habe.
Ihr Einfluß sei so wohltuend und wesentlich, daß er, wenn sie ihn im Stich
ließe, zugrunde gehen könnte. Sie erinnerte sich auch, wie er sie das letztemal
in einem grauschillernden Röckchen und neuer Krawatte besucht und schmachtend
gefragt hatte: »Bin ich nicht hübsch?« Und er war mit seinen langen Locken und
blauen Augen in der Tat sehr hübsch (oder kam es ihr nur so vor) und auch
freundlich zu ihr.
Nachdem sie
sich aller dieser Dinge erinnert und alles überblickt hatte, zog sich Olga
Iwanowna an und fuhr in großer Erregung zu Rjabowskij ins Atelier. Sie traf ihn
lustig und über sein in der Tat wunderbares Bild entzückt an; er sprang herum,
machte Dummheiten und beantwortete auch die ernsten Fragen mit Scherzen. Olga
Iwanowna war auf das Bild eifersüchtig und haßte es, stand aber aus Höflichkeit
an die fünf Minuten stumm vor der Leinwand, seufzte, wie man vor einem
Heiligtume seufzt, und sagte leise:
»Du hast
noch nie etwae Aehnliches gemalt. Weißt du, es ist sogar unheimlich.«
Dann begann
sie ihn anzuflehen, daß er sie liebe, sie nicht verlasse und sich ihrer, der
Armen und Unglücklichen erbarme. Sie weinte, küßte ihm die Hände, verlangte von
ihm, daß er ihr seine Liebe schwöre, und erklärte ihm, daß er ohne ihren
wohltuenden Einfluß vom richtigen Wege abirren und zugrunde gehen würde.
Nachdem sie ihm auf diese Weise seine gute Laune verdorben, fühlte sie sich
erniedrigt und begab sich zur Schneiderin oder zu einer befreundeten
Schauspielerin, um sich wegen eines Theaterbilletts zu bemühen.
Traf sie ihn
aber nicht an, so ließ sie ihm einen Brief zurück, in dem sie beteuerte, daß
sie, wenn er heute nicht zu ihr käme, Gift nehmen würde. Er bekam Angst, ging
zu ihr hin und blieb zum Essen. Ohne sich vor ihrem Gatten zu genieren, sagte
er ihr Frechheiten, die sie mit gleicher Münze bezahlte. Beide fühlten, daß sie
einander zur Last fielen, daß sie Despoten und Feinde waren, sie schäumten vor
Wut und merkten in ihrem Hasse nicht, wie unanständig sie sich benahmen, und
daß selbst der kurzgeschorene Korosteljow alles sah. Nach dem Essen fing
Rjabowskij an, sich hastig zu verabschieden.
»Wo wollen
Sie hin?« fragte ihn Olga Iwanowna im Vorzimmer, ihn mit Haß anblickend.
Er verzog
das Gesicht, kniff die Augen zusammen und nannte irgendeine Dame, eine
gemeinsame Bekannte, und es war ihm anzusehen, daß er ihrer Eifersucht spottete
und sie bloß ärgern wollte. Sie ging ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett;
vor Eifersucht, Aerger, Erniedrigung und Scham zerbiß sie das Kissen und
schluchzte laut. Dymow ließ Korosteljow im Gastzimmer zurück, kam verlegen und
ratlos zu ihr ins Schlafzimmer und sagte leise:
»Weine nicht
so laut, Mama ... Wozu? Man muß darüber schweigen ... Man darf es
sich nicht anmerken lassen ... Weißt du, was einmal geschehen ist,
läßt sich nicht wieder gutmachen.«
Ganz ratlos,
wie diese schwere Eifersucht, vor der ihr sogar die Schläfen schmerzten,
niederzukämpfen, und im Glauben, daß alles sich noch gutmachen ließe, wusch sie
sich, puderte das verweinte Gesicht und eilte zu der bekannten Dame. Da sie
Rjabowskij bei ihr nicht antraf, rannte sie zu einer anderen, dann zu einer
dritten ... Anfangs schämte sie sich dessen, mit der Zeit gewöhnte
sie sich aber daran, und es kam vor, daß sie an einem Abend auf der Suche nach
Rjabowskij ihre sämtlichen weiblichen Bekannten aufsuchte, und alle wußten es.
Einmal sagte
sie zu Rjabowskij über ihren Mann:
»Dieser
Mensch erdrückt mich mit seiner Großmut!«
Diese Phrase
gefiel ihr so gut, daß sie, wenn sie mit den Malern, die von ihrem Roman mit
Rjabowskij wußten, zusammenkam, jedesmal mit einer energischen Handbewegung die
Worte sprach:
»Dieser
Mensch erdrückt mich mit seiner Großmut!«
Sonst blieb
die ganze Lebensordnung die gleiche wie im vorigen Jahr. Jeden Mittwoch gab es
eine Abendgesellschaft. Der Schauspieler rezitierte, die Maler zeichneten, der
Cellist spielte, der Sänger sang, und regelmäßig um halb zwölf ging die
Eßzimmertür auf, und Dymow sagte lächelnd:
»Meine
Herren, ich bitte zum Essen.«
Olga
Iwanowna war ganz wie früher immer auf der Suche nach Berühmtheiten; und wenn
sie solche fand, gab sie sich nicht zufrieden und suchte nach neuen. Ganz wie
früher kam sie jeden Abend sehr spät heim; wenn sie aber nach Hause kam,
schlief Dymow nicht, wie im vorigen Jahre, sondern saß in seinem Zimmer und
arbeitete. Er ging erst um drei zu Bett und stand schon um acht auf.
Eines
Abends, als sie wieder ins Theater wollte, und gerade vor dem Spiegel stand,
trat Dymow in Frack und weißer Binde zu ihr ins Schlafzimmer. Er lächelte so
mild wie einst und blickte ihr freudig in die Augen. Sein Gesicht strahlte.
»Ich habe
soeben meine Dissertation verteidigt,« sagte er, Platz nehmend und sich die
Knie streichelnd.
»Nun, mit
Erfolg?« fragte Olga Iwanowna.
»Und ob!«
sagte er lachend und reckte den Hals, um im Spiegel das Gesicht seiner Frau zu sehen,
die mit dem Rücken zu ihm stand und ihre Frisur in Ordnung brachte. »Und ob!«
wiederholte er. »Weißt du, es ist sehr möglich, daß man mir die Privatdozentur
für allgemeine Pathologie anbietet. Es sieht sehr danach aus.«
Seinem
seligen strahlenden Gesicht war es anzusehen, daß, wenn Olga Iwanowna mit ihm
seine Freude und seinen Triumph teilte, er ihr alles, die Gegenwart wie auch
die Zukunft vergeben und alles vergessen würde; sie aber begriff gar nicht, was
die Privatdozentur und die allgemeine Pathologie bedeuteten; außerdem fürchtete
sie, zu spät ins Theater zu kommen, und sagte nichts.
Er blieb
noch an die zwei Minuten sitzen, lächelte schuldbewußt und ging.
VII
Es war ein
höchst unruhiger Tag.
Dymow hatte
heftige Kopfschmerzen; des Morgens hatte er keinen Tee getrunken, war auch
nicht in sein Krankenhaus gegangen und lag die ganze Zeit in seinem Zimmer auf
dem türkischen Sofa. Olga Iwanowna ging wie gewöhnlich gegen ein Uhr zu
Rjabowskij, um ihm ein neu angefangenes Stilleben zu zeigen und um ihn zu
fragen, warum er gestern nicht gekommen sei. Sie hielt die Skizze selbst für
unbedeutend und hatte sie auch nur gemalt, um einen Vorwand zu haben, den Maler
aufzusuchen.
Sie trat
ein, ohne anzuläuten, und während sie im Vorzimmer die Galoschen auszog, kam es
ihr vor, als ob jemand durchs Atelier lief und ein Frauenkleid raschelte; als
sie hineinblickte, sah sie noch das Ende eines braunen Rockes hinter dem großen
Bild verschwinden, das mit der Staffelei bis zum Fußboden mit einem schwarzen
Tuch zugedeckt war. Es war zweifellos eine Frau, die sich da versteckte. Wie
oft hatte auch Olga Iwanowna selbst hinter diesem Bilde Zuflucht gefunden!
Rjabowskij schien sehr verlegen und über ihren Besuch erstaunt. Er streckte ihr
beide Hände entgegen und sagte mit gezwungenem Lächeln:
»Ah! Freue
mich sehr, Sie bei mir zu sehen. Was werden Sie mir Schönes sagen?«
Olga
Iwanownas Augen füllten sich mit Tränen. Sie schämte sich, es war ihr bitter
zumute, und sie hätte sich auch für eine Million nicht entschlossen, in
Gegenwart der fremden Frau, der Nebenbuhlerin und Betrügerin zu sprechen, die
jetzt hinter dem Bilde stand und wohl schadenfroh kicherte.
»Ich bringe
Ihnen eine Skizze ...« sagte sie schüchtern, mit feiner Stimme, und ihre
Lippen zitterten. »Ein Stillleben.«
»Ah . . .
eine Skizze?«
Der Maler
nahm die Skizze in die Hand und ging, sie betrachtend, wie unabsichtlich ins
Nebenzimmer.
Olga
Iwanowna folgte ihm demütig.
»Nature
morte ... erste Sort',« murmelte er, nach Reimen suchend. »Kurort
... Port . . Hort ...«
Aus dem
Atelier tönten eilige Schritte und das Rascheln eines Kleides. Die andere war
also weg. Olga Iwanowna hatte das Verlangen, laut aufzuschreien, dem Maler
etwas Schweres an den Kopf zu werfen und wegzugehen; sie konnte aber durch ihre
Tränen nichts sehen, sie war von ihrer Scham erdrückt und fühlte sich nicht
mehr als Olga Iwanowna, nicht als Malerin, sondern als ein elender Wurm.
»Ich bin
müde ...« sagte der Maler matt, die Skizze noch immer betrachtend und den
Kopf schüttelnd, als kämpfe er gegen die Schläfrigkeit an. »Es ist natürlich
recht nett, aber heute diese Skizze, im vorigen Jahre eine andere Skizze, und
in einem Monat bringen Sie mir wieder eine Skizze ... Ist es denn
Ihnen noch nicht zu dumm? An Ihrer Stelle würde ich die Malerei aufstecken und
mich ernsthaft der Musik oder etwas anderm widmen. Sie sind ja gar keine
Malerin, sondern Musikerin. Ich bin so müde! Gleich werde ich Tee geben lassen
... Ja?«
Er ging aus
dem Zimmer, und Olga Iwanowna hörte, wie er seinem Diener etwas sagte. Um sich
von ihm nicht verabschieden zu müssen, um eine Aussprache zu vermeiden und, vor
allem, um nicht in Tränen auszubrechen, eilte sie, solange Rjabowskij noch
nicht zurück war, ins Vorzimmer, zog sich die Galoschen an und lief auf die
Straße hinaus. Hier holte sie erleichtert Atem und fühlte sich für immer
befreit, – von Rjabowskij, von der Malerei und von der schweren Scham, die sie
im Atelier so furchtbar bedrückt hatte! Schluß!
Sie fuhr zur
Schneiderin, von der Schneiderin zu Barnay, der erst gestern angekommen war,
von Barnay in die Musikalienhandlung und dachte die ganze Zeit daran, daß sie
Rjabowskij einen kalten, harten, stolzen Brief schreiben und im Frühjahr oder
im Sommer mit Dymow nach der Krim gehen würde, um sich dort endlich von der
Vergangenheit freizumachen und ein neues Leben zu beginnen.
Spät abends
nach Hause zurückgekehrt, setzte sie sich, ohne sich umzuziehen, ins Gastzimmer
und überlegte sich den Brief. Rjabowskij hatte ihr gesagt, daß sie keine
Malerin sei; nun wird sie ihm aus Rache schreiben, daß er jedes Jahr immer
dasselbe male und jeden Tag dasselbe spreche, daß er gänzlich erstarrt sei und
daß aus ihm nicht mehr werden würde, als das, was aus ihm schon geworden sei.
Sie wollte ihm auch noch schreiben, daß er vieles ihrem guten Einflusse zu
verdanken habe und daß, wenn er zuweilen schlecht handle, so doch nur darum,
weil ihr Einfluß durch verschiedene zweideutige Personen paralysiert werde, von
der Art wie die, die sich heute hinter dem Bilde versteckt hatte.
»Mama!« rief
aus seinem Kabinett Dymow, ohne die Tür zu öffnen. »Mama!«
»Was willst
du?«
»Mama, komme
nicht herein, komm nur zur Tür ... Vorgestern habe ich mir im
Krankenhause die Diphtherie geholt und jetzt ... fühle ich mich
nicht gut. Schicke gleich nach Korosteljow.«
Olga
Iwanowna nannte ihren Mann, wie alle ihre männlichen Bekannten nie mit dem
Vornamen, sondern stets mit dem Familiennamen; sein Vorname Ossip gefiel ihr
nicht, weil er an den Lakaien im Gogolschen »Revisor« und an ein bekanntes
Wortspiel erinnerte. Jetzt rief sie aber aus:
»Ossip, es
kann nicht sein!«
»Schicke
nach ihm! Mir ist gar nicht wohl . . .« sagte Dymow hinter der Tür, und sie
hörte, wie er wieder zum Sofa ging und sich hinlegte. »Schicke nach ihm!« klang
es noch einmal dumpf aus dem Kabinett.
– Was ist
denn das? – dachte sich Olga Iwanowna, vor Entsetzen erschauernd. – Es ist ja
gefährlich! –
Sie nahm
ohne jede Not die Kerze in die Hand und ging zu sich ins Schlafzimmer; während
sie sich überlegte, was sie nun zu tun habe, warf sie zufällig einen Blick in
den Spiegel. Mit ihrem blassen, erschrockenen Gesicht, im Jackett mit den
Schinkenärmeln und gelben Volants an der Brust und dem ungewöhnlich gestreiften
Rock, kam sie sich selbst schrecklich und abstoßend vor. Sie fühlte plötzlich
schmerzliches Mitleid mit Dymow, seine Liebe zu ihr tat ihr leid, sein junges
Leben und selbst sein verwaistes Bett, in dem er schon so lange nicht mehr
geschlafen hatte, und sie mußte an sein gewohntes mildes und demütiges Lächeln
denken. Sie weinte bitter und schrieb Korosteljow einen flehentlichen Brief. Es
war zwei Uhr Nachts.
VIII
Als Olga
Iwanowna um die achte Morgenstunde, mit einem nach der schlaflosen Nacht
schweren Kopf, unfrisiert, unschön, mit schuldbewußter Miene aus dem
Schlafzimmer kam, sah sie einen unbekannten Herrn mit schwarzem Vollbart,
anscheinend einen Arzt, ins Vorzimmer gehen. Es roch nach Arzneien. Vor der Tür
zum Kabinett stand Korosteljow und drehte sich mit der rechten Hand den linken
Schnurrbart.
»Entschuldigen
Sie, ich kann Sie zu ihm nicht hineinlassen,« sagte er mürrisch zu Olga
Iwanowna. »Sie können sich anstecken. Außerdem hat es auch keinen Zweck. Er ist
sowieso bewußtlos.«
»Ist es
echte Diphtheritis?« fragte Olga Iwanowna leise.
»Ein Mensch,
der sich wissentlich in Gefahr begibt, gehört eigentlich vors Gericht,« brummte
Korosteljow, ohne Olga Iwanownas Frage zu beantworten. »Wissen Sie, auf welche
Weise er sich angesteckt hat? Am Dienstag hat er einem kranken Jungen mit einem
Röhrchen die Diphtheriehäute ausgesogen. Wozu? Einfach aus
Dummheit ...«
»Ist es sehr
gefährlich?« fragte Olga Iwanowna.
»Ja, man
sagt, es sei eine sehr schwere Form. Eigentlich sollte man den Schreck kommen
lassen.«
Es kam ein
kleiner rothaariger Mann mit langer Nase und jüdischem Akzent; nach ihm ein
langer, gebückter, mit zerzaustem Haar, einem Protodiakon ähnlich; dann ein
junger, sehr dicker, mit rotem Gesicht und einer Brille. Es waren die Aerzte,
die sich am Krankenlager ihres Kollegen ablösten. Korosteljow ging, wenn seine
Zeit um war, nicht nach Hause, sondern blieb da und irrte wie ein Schatten
durch die Zimmer. Das Dienstmädchen brachte den Aerzten Tee und lief oft zur
Apotheke, und die Zimmer blieben unaufgeräumt. Es war eine stille und traurige
Stimmung.
Olga
Iwanowna saß bei sich im Schlafzimmer und dachte sich, Gott bestrafe sie dafür,
daß sie den Mann hintergehe. Das schweigsame, demütige, unverstandene, durch
seine Milde entpersönlichte, charakterlose, in seiner übermäßigen Güte schwache
Wesen quälte sich stumpf auf seinem Sofa und klagte nicht. Wenn es aber, und
wenn auch nur im Delirium, klagen würde, so müßten alle die Aerzte erfahren,
daß hier nicht nur die Diphtherie allein schuld sei. Sie würden den Korosteljow
fragen: er weiß alles und blickt die Frau seines Freundes nicht umsonst mit
solchen Augen an, als wäre sie die eigentliche Verbrecherin, die Diphtheritis
aber nur ihre Mitschuldige. Sie erinnerte sich nun weder jener Mondnacht auf
der Wolga, noch der Liebesschwüre, noch des poetischen Lebens im Bauernhause;
sie dachte nur noch daran, daß sie aus bloßer Laune mit Armen und Beinen in
einen klebrigen Schmutz geraten sei, den sie nie wieder abwaschen
könnte ...
– Ach, wie
furchtbar habe ich gelogen! – sagte sie sich, als sie sich der unruhigen Liebe
erinnerte, die zwischen ihr und Rjabowskij war. – Ein Fluch liegt über
allem ... –
Um vier Uhr
setzte sie sich mit Korosteljow an den Mittagstisch. Er aß nichts, trank nur
Rotwein und runzelte die Stirn. Auch sie aß nichts. Bald betete sie in Gedanken
und gelobte Gott, daß sie Dymow, wenn er gesund werden sollte, lieben und ihm
ein treues Weib sein werde. Bald vergaß sie sich, sah Korosteljow an und dachte
sich: – Ist es denn nicht langweilig, so ein einfacher, durch nichts
bemerkenswerter, unbekannter Mensch zu sein, und obendrein mit einem so
abgelebten Gesicht und so schlechten Manieren? – Bald schien es ihr, daß Gott
sie augenblicklich töten würde, weil sie, aus Furcht vor Ansteckung, noch kein
einziges Mal bei ihrem Mann im Kabinett gewesen war. Im allgemeinen herrschte
aber ein stumpfes, elendes Gefühl vor und die Ueberzeugung, daß das Leben schon
verdorben sei und sich nicht mehr ändern ließe ...
Nach dem
Essen brach die Abenddämmerung an. Als Olga Iwanowna ins Gastzimmer trat,
schlief Korosteljow auf dem Sofa, ein goldgesticktes Kissen unter dem Kopf.
»Kchi-pua ...« schnarchte er: »kchi-pua.«
Auch die
Aerzte, die einander ablösten, merkten diese Unordnung nicht. Daß ein fremder
Mensch im Gastzimmer schlief und schnarchte, die Skizzen an den Wänden, die
sonderbare Einrichtung und daß die Hausfrau unfrisiert und unordentlich
gekleidet war, – weckte in ihnen nicht das geringste Interesse. Einer der
Aerzte lachte einmal zufällig auf, und dieses Lachen klang so sonderbar und
scheu, daß es sogar unheimlich war.
Als Olga
Iwanowna zum zweitenmal ins Gastzimmer kam, schlief Korosteljow nicht mehr,
sondern saß und rauchte.
»Er hat
Diphtherie der Nasenhöhle,« sagt er leise. »Auch das Herz arbeitet schon recht
mäßig. Eigentlich steht die Sache schlimm.«
»Lassen Sie
doch den Schreck kommen,« sagte Olga Iwanowna.
»Er war
schon da. Er hat ja auch festgestellt, daß die Diphtherie die Nasenhöhle
ergriffen hat. Aber was ist Schreck?! Eigentlich nichts. Er heißt Schreck, und
ich heiße Korosteljow, – das ist alles.«
Die Zeit zog
sich entsetzlich in die Länge. Olga Iwanowna lag angekleidet auf dem Bett, das
noch vom Morgen her nicht gemacht war, und schlummerte. Es war ihr, als sei die
ganze Wohnung vom Fußboden bis zur Decke mit einem einzigen riesengroßen Stück Eisen
angefüllt und daß, wenn man dieses Eisen entfernte, allen sofort leicht und
lustig ums Herz werden würde. Als sie zu sich kam, besann sie sich, daß es kein
Eisen, sondern die Krankheit Dymows war.
»Nature
morte, Port ...« dachte sie, von neuem einschlummernd. »Port
... Kurort ... Und wie ist es mit Schreck? Schreck,
Leck, Heck ... Beck. Und wo sind jetzt meine Freunde? Wissen sie
von unserem Unglück? Gott, rette ... beschütze ...
Schreck, Leck ...«
Und dann kam
wieder das Eisen ... Die Zeit schleppte sich langsam dahin, und die Uhr einen
Stock tiefer schlug auffallend oft. Jeden Augenblick läutete es, die Aerzte
kamen und gingen ... Das Dienstmädchen kam mit einem Tablett, auf
dem ein leeres Glas stand, zu ihr ins Schlafzimmer und fragte:
»Gnädige,
soll ich das Bett machen?«
Sie bekam
keine Antwort und ging. Die Uhr unten schlug wieder, sie träumte vom Regen auf
der Wolga, und wieder kam jemand ins Schlafzimmer, anscheinend ein Fremder.
Olga Iwanowna fuhr auf und erkannte Korosteljow.
»Wie spät
ist es?« fragte sie.
»Gegen
drei.«
»Nun, wie
steht's?«
»Ach! Ich
komme, um es Ihnen zu sagen: es geht zu Ende ...«
Er
schluchzte auf, setzte sich neben sie aufs Bett und wischte sich die Tränen mit
dem Aermel. Sie verstand es nicht gleich, fühlte aber eine plötzliche Kälte und
begann sich langsam zu bekreuzigen.
»Er stirbt ...« sagte er mit hoher Stimme und schluchzte wieder. »Er stirbt, weil er sich
aufgeopfert hat ... Welcher Verlust für die Wissenschaft!« sagte er
voll Bitternis. »Mit uns allen verglichen, war er ein großer, ungewöhnlicher
Mensch! Welche Begabung! Welche glänzende Hoffnungen!« fuhr Korosteljow fort,
die Hände ringend. »Mein Gott, er war ein Gelehrter, wie man einen zweiten
nicht mehr findet. Ossip Dymow, Ossip Dymow, was hast du angestellt! Ach, mein
Gott!«
Korosteljow
bedeckte sich vor Verzweiflung das Gesicht mit beiden Händen und schüttelte den
Kopf.
»Und diese
sittliche Kraft!« fuhr er fort, mit steigender Wut gegen jemand. »Eine gute,
reine, liebe Seele, ein Mensch aus Kristall! Er diente der Wissenschaft und
starb an der Wissenschaft. Er arbeitete wie ein Ochs Tag und Nacht, niemand
schonte ihn, und der junge Gelehrte, der zukünftige Professor mußte Praxis
suchen und in den Nachtstunden Übersetzungen anfertigen, um diese
... gemeinen Lumpen zu bezahlen!«
Korosteljow
blickte Olga Iwanowna mit Haß an, ergriff mit beiden Händen das Laken und zerrte
daran, als ob es die Schuld trüge.
»Er schonte
sich selbst nicht, und auch die anderen schonten ihn nicht. Ach, was soll man
da noch reden!«
»Ja, ein
seltener Mensch!« sagte eine Baßstimme im Gastzimmer.
Olga
Iwanowna erinnerte sich ihres ganzen Lebens mit ihm vom Anfang bis zum Ende,
mit allen Einzelheiten, und begriff plötzlich, daß er in der Tat ein
ungewöhnlicher, seltener und, im Vergleich zu denen, die sie kannte, großer
Mensch war. Sie erinnerte sich auch, wie sich zu ihm ihr verstorbener Vater und
alle seine Kollegen verhielten, und begriff, daß sie alle in ihm eine
zukünftige Berühmtheit sahen. Die Wände, die Decke, die Lampe und der Teppich
auf dem Boden blinzelten ihr höhnisch zu, als wollten sie ihr sagen: »Verpaßt!
Verpaßt!« Sie lief weinend aus dem Schlafzimmer, huschte im Gastzimmer an einem
unbekannten Menschen vorbei und stürzte ins Kabinett zu ihrem Mann. Er lag
unbeweglich auf dem türkischen Sofa, bis zu den Hüften unter der Bettdecke.
Sein Gesicht war furchtbar eingeschrumpft, eingefallen und hatte eine graugelbe
Farbe, wie sie die Lebenden niemals haben; nur an der Stirn, den schwarzen
Augenbrauen und dem bekannten Lächeln konnte man erkennen, daß es Dymow war.
Olga Iwanowna betastete ihm schnell die Brust, die Stirn und die Hände. Die
Brust fühlte sich noch warm an, aber die Stirn und die Hände waren unangenehm
kalt. Und die halbgeöffneten Augen sahen nicht auf Olga Iwanowna, sondern auf
die Bettdecke.
»Dymow!«
rief sie laut: »Dymow!«
Sie wollte
ihm erklären, daß alles nur eine Verirrung gewesen, daß noch nicht alles
verloren sei, daß das Leben noch schön und glücklich werden könne, daß er ein
seltener, ungewöhnlicher, großer Mensch sei und daß sie ihn ihr Leben lang
verehren und anbeten, vor ihm eine heilige Scheu empfinden würde ...
»Dymow!«
rief sie, ihn an der Schulter schüttelnd, und konnte nicht glauben, daß er nie
wieder erwachen werde. »Dymow, Dymow!«
Im
Gastzimmer sagte aber Korosteljow zum Dienstmädchen:
»Was gibt's
noch viel zu fragen? Gehen Sie zum Kirchhofwächter und fragen Sie, wo die
Spitalweiber wohnen. Die werden die Leiche waschen und einkleiden und alles
besorgen, was nötig ist.«