Anton Helgi Jónsson: Ich habe mein ganzes Leben lang ...
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Anton Helgi Jónsson
Ich habe mein ganzes Leben lang …
(Aus: Ég hugsa mig / Ich denke mich, Mál og menning, Reykjavík 2024)
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
Ich
habe mein ganzes Leben lang auf mich gewartet
mich
immer wieder verspätet
und
dennoch warte ich erwartungsvoll und warte.
Manche
Menschen warten auf den Bus
andere
warten auf grünes Licht
oder
auf einen Kuss
noch
andere warten auf Bestätigung.
Auf
all das habe ich auch gewartet
am
längsten habe ich jedoch
auf mich
gewartet
und
langweilig
war
mir nie.
Ich
lebe für das Warten
das
immer eine große Überraschung mit sich bringt.
Ich erkenne welche Gedanken zu mir gehören
analysiere
mich mit Worten
mit
Handlungen
mit
den Worten der Handlungen
hebe
eine unsichtbare Hand
warte
tue
tue
als würde ich warten
tue
als gäbe es eine Pflicht
erfülle
meine Pflicht indem ich warte
Ich
befragte und befragte wiederholt das Buch
drängte
mich zwischen die Buchstaben
diese
engen Stäbe
drang
in einen Käfig ein
in
ein Gedicht oder einen Gedankengang voll Kümmernis
Die
Frage habe ich längst vergessen
aber
möglicherweise habe ich die Antwort gesehen
ich
erinnere mich an ein Gerenne
von
einer Ecke zur anderen
von
einem Schritt zum nächsten
Immer
noch spüre ich den Herzschlag
bei
diesem ununterbrochenen Gang
aber
zwischen den Schritten
wiederholt
ein Bruch
unendliche
Weiten, ein Schwarzes Loch
dort
bleibe ich stehen
hoffnungslos
und
hoffend
Anton Helgi Jónsson wurde am 15. Januar 1955
in Hafnarfjörður geboren, zog aber im Alter von zwölf Jahren nach Reykjavík und
hat dort die meiste Zeit seines Lebens verbracht. Er lebte einige Jahre in
Stockholm, wo er Philosophie und Literatur studierte. Neben seiner
schriftstellerischen Tätigkeit hat er Workshops in kreativem Schreiben
gehalten, in den Be-reichen Redaktion, Öffentlichkeitsarbeit und Werbung
gearbeitet.
Seinen ersten Gedichtband veröffentlichte Anton
Helgi Jónsson 1974, seither folgten neun weitere, mehrere Theaterstücke und ein
Roman. Seine derzeit letzten Gedichtbände sind Handbók um ómerktar undankomuleiðir
/ Handbuch der nicht gekennzeichneten Flucht-wege, erschienen 2020, und Ég hugsa mig / Ich denke mich (2024). Darüber hinaus hat der Autor in den letzten Jahren
seine Leser vor allem durch die Veröffentlichung von Gedichten in sozialen
Medien und durch Lesungen erreicht. Auch unterhält er die Website http://www.anton.is/,
auf der man die meisten seiner veröffentlichten Gedichte lesen kann. Für
sein dichterisches Arbeiten wurde er zweimal, 2009 und 2014, mit dem Jón-úr-Vör-Poesiestab
ausgezeichnet, dem Literaturpreis des gleichnamigen Lyrik-Wettbewerbs zu Ehren
des isländischen Bibliothekars und Dichters Jón úr Vör (1917 – 2000).
Anton Helgi Jónsson ist verheiratet und Vater von
vier Kindern; er hat neun Enkel.
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