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Antje Boehk: Die Stimmensammlerin

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Antje Boehk
Die Stimmensammlerin

Wenn man mit dem Rücken zur Wand sitzt, hört man mehr. Das ist eine alte Regel, die mir nie jemand beigebracht hat. Ich habe sie selbst gefunden, zwischen den Rissen in der Wandverkleidung meines Großraumbüros. Dort, wo die Stimmen wie zu dick geratene Seifenblasen an die Decke steigen, nur um kurz vor dem Platzen in die Richtung meiner Ohren zurückzukehren.
      Der Tag beginnt immer gleich: das Klicken der Türkarte, das Rattern des Kaffee-automaten, dann die Stimmen: Martin spricht mit einem Bariton, der sich in den Raum schiebt, wie ein Möbelstück aus poliertem Kirschholz – zu schwer für seinen mageren Körper mit den schiefen Schultern. Jedes Mal, wenn er „Guten Morgen“ sagt, ist es, als müsse sich seine Stimme ein neues Skelett suchen, weil das vorhandene nicht mehr trägt.
           Sandra hat eine Stimme, die klingt, als hätte sie sich aus einem alten Anrufbeantworter befreit. Bröselig. Wund. Sie schwebt. Nicht aus Leichtigkeit, aus Flucht. Ein heliumgefülltes Wortgefäß. Wenn sie lacht – und sie lacht oft – habe ich den Verdacht, sie zwingt ihre Stimme in ein Kostüm aus verwaschenem Rosa.
           Ich sitze da und sage nichts. Aber ich höre.
        Die Stimmen haben mir nichts getan. Und doch tun sie mir weh. Vielleicht, weil ich ihren Ursprung suche. Ich stelle mir vor, dass Martins Stimme einmal jemandem gehört hat, der in der Oper lebte. Sandra hat ihre bei einer Waschhausbesitzerin gefunden, die sie im Schlaf vergaß.
        Manchmal male ich mir aus, dass Stimmen umherwandern können. Als streunten sie, nachts, auf der Suche nach neuen Wirten. Und wenn der Körper schläft, schlüpfen sie hinein, wie streunende Katzen durch Kellerfenster.
        Es war vor zwei Wochen, als ich begann, leise zurückzureden. Nicht laut – nein. Ich antwortete nur in Gedanken, aber mit Stimme. Mit einer Stimme, die wie ein Spalt warmer Luft zwischen zwei Wintertagen zog. Eine Stimme, die ich nie im Außen gehört habe, nicht einmal bei mir. Wenn ich sprach – innerlich – klang ich wie der Moment, in dem Schnee zu regnen beginnt. Kein Wort war zu viel, kein Laut zu wenig. Es war... richtig.
         Aber dann kam Herr Wozniak. Er hatte eine Stimme wie ein Traktor auf nassem Kies. Sie schleifte alles mit sich, sogar die Luft zwischen uns. Als er mich fragte, ob ich die Präsentation übernehmen könne, antwortete ich nicht. Ich konnte nicht. Seine Stimme hatte die meine verschüttet. Später, auf der Toilette, flüsterte ich ins Waschbecken: „Ich bin noch da.“ Das Wasser schwieg, aber ich hörte mich. Ganz zart. Wie Seide, die über Knochen gezogen wird.
           Ich beginne, Stimmen zu sammeln. Nicht wie Trophäen, sondern wie verlorene Tiere.
           In der U-Bahn notiere ich Klänge auf die Rückseite von Fahrkarten:
           „Sängerin mit Zahnschmerz-Vibrato“,
           „Mann, der spricht wie ein halbvolles Glas“,
           „Junge Frau mit Sand in den Stimmbändern“.
          Ich lausche. Ich will wissen, ob es irgendwo eine Stimme gibt, die zu dem passt, was ich spüre, wenn ich schweige.
         Heute werde ich nicht antworten. Ich werde einfach da sein, mit dem Rücken zur Wand.
          Vielleicht wird eine Stimme kommen, die nicht spricht. Vielleicht wird das reichen.


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