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Anselm Glück: Die Bühne als Versteck

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Felix Philipp Ingold
… nach allen Seiten nur ein Schritt zum Abgrund …
Neue Prosa von Anselm Glück

«Die Bühne als Versteck» – das soll ein Buchtitel sein?! Nimmt sich doch eher wie eine etwas abwegige Vorstellung oder Vorliebe aus. Wie und wozu wäre eine Bühne, privilegierter Ort theatralischer Exhibition, ausgerechnet als Versteck zu nutzen? Oder könnte damit, umgekehrt, gemeint sein, dass das Offenkundige das eigentlich Geheimnisvolle ist? Dass der Auftritt im Scheinwerferlicht als eine subtile, wenn nicht subversive Art des Verschwindens zu gelten hat! Man gibt sich preis in dieser oder jener Rolle und zieht sich zugleich aus ihr und hinter sie zurück, um faktisch unsichtbar zu werden hinter der jeweiligen Maske, unter dem Kostüm, in den Kulissen!


«Die Bühne als Versteck» – unter diesem Titel legt Anselm Glück, als Maler und als Dichter gleichermassen bewährt, einen schmalen Prosaband vor*, bestehend aus 40 kurzen und 185 kürzesten Texten, die zwischen poetischer und aphoristischer Rede changieren, ohne auf einen Plot, auf Personal oder auch bloss auf Eigen- und Ortsnamen angewiesen zu sein; Texte von rarer Schlichtheit, Schönheit und Prägnanz, die nichts zu verstehen, aber viel zu überlegen geben. Typographisch wird ihre Offenheit (oder Bruchstückhaftigkeit) dadurch hervorge-hoben, dass sie allesamt ohne Schlusspunkt enden, mithin zum Nach- und Weiterdenken einladen.  
        Doch worüber wäre hier nach- und weiterzudenken? Und wovon wäre dabei auszugehen?
           Was der Autor als Dispositiv vorgibt, ist eine imaginäre Weltbühne, auf der ein imaginärer Protagonist sich zu verorten (und überhaupt: sich zu verhalten) sucht, indem er – bald kriechend, bald fliegend – einem unbestimmten Weg mit unbestimmbarem Ziel folgt, einem mühevollen Weg, den er bisweilen als sein «Ziel» ausmacht, ein Ziel also, dass unerreichbar bleiben muss, weil es ja mit dem Weg – dem weitläufigen Umweg – ineins fällt: Das Ziel ist der Weg, der immer nicht zum Ziel führt.
           Weg wie Ziel kennen keine Ausrichtung, in der Runde gibt es nichts als Horizont, und dieser wiederum umschliesst einen wüsten, leeren, flachen, grauen Raum, der mit ständig sich verschiebenden Wänden vollgestellt, von Klüften durchfurcht und von wogendem Staub überschwemmt ist. Dieser Raum wird von einer anonymen Macht-«Zentrale» (einem allwissenden und allgegenwärtigen «Syndikat») überwacht und ist in diverse «Sektoren» mit unterschiedlicher, nicht durchschaubarer Funktionsbestimmung aufgeteilt.


Der nomadisierende, ebenfalls anonyme Protagonist bezeichnet die richtungs- und grenzenlose Wüstenei an einer Stelle als «Niemandsland», an einer andern als «Labyrinth», dann wieder als «Gefängnishof» oder als «Hölle und aber auch mein Paradies», ja, er vermutet gar: «das hier ist doch der Tod», ist das, was er gleichzeitig fürchtet und ersehnt – sein Unort und der seiner (ihm fremden) Schicksalsgenossen: «Wir sind von Haus aus auf verlorenem Posten und müssen ihn halten und mit ihm untergehen, während langsam aber sicher alles versiegt im Staub und verschwindet in der Vergangenheit.»
          Obwohl hier explizit eine Schicksalsgemeinschaft («wir») imaginiert wird, betont und beklagt der Erzähler vielfach seine absolute Einsamkeit und geriert sich als das auserwählte, zugleich verfluchte und dem Tod geweihte Opfer. Widersprüche solcher – logischer – Art sind für ihn ohne Belang; alles hat gleichermassen Geltung, «und» steht oft auch für «oder» und «aber», Spruch und Widerspruch ergänzen einander, obwohl sie sich wechselseitig ausschliessen; etwa so: «Und alle Wände kommen auf mich zu, oder nein, rücken von mir ab und … « – «Oder es kommt doch einmal einer, mich abzulösen, aber nein, auch das habe ich schon zu oft gehabt.»
           Logik, Kausalität, Chronologie – nicht anders als Hoffnung, Liebe, Trost – haben in der Staubwüste keinerlei normative oder moralische Kraft, es ist ein rechts- und wertefreier Raum, in dem es kein unterscheidendes, klärendes Entweder-oder gibt, der vielmehr von der Beliebigkeit und damit auch von der Unberechenbarkeit des Sowohl-als-auch dominiert bleibt: Alles kann so, es kann aber auch anders sein. Das hat man beim Lesen zu akzeptieren. Man soll nicht verstehen wollen, was der Erzähler zu sagen hat oder zu sagen versucht, vorrangig ist die Tatsache, dass er in seiner Abgeschiedenheit überhaupt noch weiterredet, obwohl niemand ihm zuhört und all seine Klagen (wie auch sein desolater Jubel, sein krächzendes Lied) echolos verhallen: «Weil auch das habe ich gelernt: Sinn ist Unsinn. Und alles Sinnhafte ist zusammengelogen und muss gestürzt werden und immer weitere Lügen, bis das ganze Gebilde wieder in sich zusammenkracht und eine sinnlose Katastrophe uns hinwegfegt und nichts von uns übrig lässt als Staub.»


Von daher das ständige Driften (… ein bald irritierendes, bald animierendes Wechselbad …) zwischen Katastrophen- und Triumphgefühl, Ängsten und Chancen, Selbstzerknirschung und Selbsterhöhung – eins im andern, keins in beständiger Ausprägung: « – Was? – Immer geradeaus. Aber nichts. Kein Ende und überall gleich. Wände und Staub. […] Nur noch Trümmer einer überdrehten Vergangenheit, die weiter und weiter nach hinten fallen, immer noch ineinander verzahnt, aber längst vorbei. […] Und doch schleppe ich mich auf meine Ziele zu, weil Durchhalten vorerst alles ist, und geht Durchhalten nicht mehr, dann bloss nicht aufgeben. Das habe ich gelernt. Und wer weiss, womöglich beginnt die nächste Glückssträhne genau hier. Mit dem nächsten Schritt, mit dem nächsten Wort und mit der nächsten Wand – »
Ja: «… geht Durchhalten nicht mehr, dann bloss nicht aufgeben! » Eine arglose, beiläufige Feststellung, die erst beim Gegenlesen ihren Widersinn freigibt; denn – wer nicht mehr durchzuhalten vermag, der muss ja wohl «aufgeben», und wenn er nicht aufgibt, dann hält er eben doch durch. Man kennt solch diskrete Paradoxien von Kafka, von Beckett; bei Anselm Glück kehren sie in alter Frische wieder: «… und er versuchte sich aufzusetzen, scheiterte, und langsam schob sich der Himmel zum Fenster herein – « Eine Aussage von grossartiger Einfalt, Beleg dafür, dass auf ein immer noch besseres Scheitern (« fail better ») zu hoffen ist.


Das durchgängige Fehlen von Orts- und Eigennamen gehört zu den zahlreichen Merkwürdigkeiten (oder einfach: zur Eigenart) von Glücks Prosa. Namenlos bleibt nicht nur die Staubwüste, die er mal als «Hölle», mal als «Paradies» erlebt, namenlos sind auch seine «auserwählten» Leidensgenossen («sie», «wir», «man») sowie die fernen Machthaber, die als «Quälpersonal» für das Leid zuständig und verantwortlich sind. – «Nur verschwommene Gestalten bleiben und wandeln sich ins immer Blassere fort», heisst es an einer Stelle: «Vereinzelte Figuren, die einmal jemand waren, und dazu ein Tonfall noch vielleicht, umschwirrt von einem ungefähren Namen.»
             Namenlos ist vorab er selbst, der Ich-Erzähler, der sich zwar in vielerlei Rollen, nicht aber mit seinem Namen zu erkennen gibt – seine Selbstcharakterisierung ist ebenso wechselhaft und widersprüchlich wie seine Ortsangaben: «Er konnte weder seinen Namen sagen, noch sich im Spiegel wiedererkennen, und gemeinsam schafften sie ihn raus. Sie legten ihn auf den Gehsteig und gespannt hörte er jedes Wort, er wusste aber nicht, was gemeint sein könnte. Durch seinen Kopf wirbelten Rätsel und endlich rief jemand nach einer Ambulanz. Als die Samariter einlangten, wandte er sich ab und begann angestrengt nachzudenken – «
          Einerseits präsentiert sich der Namenlose wehleidig als «Opfer», als «Verlierer» und «Verlorener», als «Fremdkörper», als «Delinquent», als «Ausgesetzter», andrerseits – im Gegenzug – als «Auserwählter», als «Spitzenreiter», als «Gladiator», und wenn er sich einmal sogar als «Glückspilz» outet, ist es tatsächlich so, als liesse er sich beiläufig «von einem ungefähren Namen» umschwirren, eben dem des Autors Anselm Glück!
           Dieses indirekte Namenspiel – hier als literarisches Verfahren konsequent praktiziert – durchwirkt den Text in seinen beiden Teilen, was sich bisweilen amüsant oder absurd ausnimmt, aber durchaus auch unheimlich anmuten kann: Mit der Larmoyanz und Selbstverachtung des Ich-Erzähler kontrastiert dann dessen eigensinnige Behauptung, ein vom «Glück» Begünstigter zu sein, ein «Glückspilz» eben, der sich – wie Sisyphus bei Albert Camus – unentwegt abmüht, um dem sinn- und aussichtslosen Kreislauf seines Tuns zu entkommen, dies im klaren Bewusstsein, dass dem Kreislauf nicht zu entkommen ist.
           Vom Scheitern als Glücksmoment ist bei Anselm Glück verschiedentlich die Rede, doch «Glück» ist hier eben kein Eigenname, sondern ein alltagssprachlicher Begriff, der dem Gegenbegriff «Unglück» positiv entgegengesetzt ist, mehr nicht. Im vorliegenden Text finden sich manche Stellen, an denen sich der Ich-Erzähler als unglücklicher Glücksritter imaginiert, und an all diesen Stellen scheint stets auch der ungenannte Name des Autors mitgemeint zu sein. Eine davon lautet wie folgt: «Und bei all dem Glück bin ich unentwegt verzagt. Unentwegt? Habe ich unentwegt gesagt? So weit kann es kommen im Kreiseln von dressierten Worten und unter dem Zwang von Absichten. Aber jede Richtung passt und führt verlässlich in die Irre …» Und eine andere, deutlicher noch: «Immerhin, ich lebe auf. Ich sehe Licht an beiden Enden des Tunnels und ich sage aus dem Nichts heraus: Ich hab ein Glück mit mir.»


Im zweiten Buchteil tritt dieses multiple Ich hinter ein anonymes Kollektiv gespenstischer Subjekte zurück, die lediglich mit Personalpronomen bedacht werden (am häufigsten mit «er», «du», «wir», derweil «ich» die Ausnahme bleibt) oder die der Tier- und Dingwelt zugehören. Viel ist hier von Beobachtungen und Ideen und Gefühlen die Rede, auch allgemein vom Leben, von der Natur, von Bildern. Dass Frauen nur am Rand Erwähnung finden und durchwegs als «Damen» auftreten, ist eine weitere Merkwürdigkeit in Glücks verwirrlicher Gedankenwelt.
           Mit dem Zurücktreten des Erzählers mutiert die unstete widerspruchsreiche Bericht-erstattung des ersten Teils zu einer von Willkür und Zufall bestimmten Abfolge knapper Notate, wie man sie aus Tagebüchern oder Traumprotokollen kennt. «Im Traum welken Gestalten», kann man da lesen: «Sie fallen in mich und steigen von da aus weiter – «
      Von solchem Auf und Ab (und Hin und Her) sind die meisten dieser Texte gekennzeichnet, die sich in ihrer Kürze mal als karnevaleske Phantasiestücke darbieten, mal als spekulative Gedankensprünge, beides mit deutlicher Tendenz zum Abstrusen oder Abgründigen; etwa so: «Die Erde brütet uns aus, damit wir sie entdecken, Zahlen wölben uns den Raum, und wir schwingen uns auf und staunen. Wasser gleitet über Spiegel – « Oder auch so: «Und immer alles im Chor und so, als wäre unsere Stimmung ansteckend. Wir betreiben uns als Unternehmen und unsere Lage ist ernst. Der Spass artet in Kampf aus und alles rast einem Abgrund zu, aber noch profitieren wir und sind ausserdem im Lauf der Zeit gute Freunde geworden – «
    Mit wenigen alltäglichen Worten, die aber oft unerwartet gefügt sind und auch Unerwartetes zum Ausdruck bringen, evoziert Anselm Glück die absonderlichsten Settings, manchmal an der Grenze zum schwarzen Humor oder zum grotesken Horror, und doch immer so, als gehörten sie der Normalität an, einer bedrohlichen, zutiefst verderbten Normalität, die man nicht wahrhaben will und die deshalb nach Möglichkeit ausgeblendet bleibt. Bei Glück ist sie «unentwegt» präsent: «Wir mögen noch so angestrengt rechnen und wir mögen uns noch so überzeugt auf ein Ergebnis einigen, das Berechnete entzieht sich, und was herauskommt, zeigt nur, dass etwas nicht stimmt. Dazu der rücksichtslose Gebrauch unserer Kenntnisse und nach allen Seiten nur ein Schritt zum Abgrund – «


Dass sich der Abgrund bei jedem Schritt auftut, ohne dass «man» es bemerkt, führt Glück am Beispiel alltagsweltlicher Situationen variantenreich vor. Der Spiegel öffnet den Abgrund zwischen dem, der hinein- und dem, der herausschaut; es gibt den Abgrund zwischen Maske und Gesicht, zwischen Kleidung und Leib; der Schatten markiert die Trennung von und zu seinem Gegenstand; die menschliche Stimme überbrückt den Abgrund zwischen Schweigen und Schrei.
           «Zwischen Bäumen flirrten Schatten, und erst jetzt sah er, dass er die ganze Zeit schon daheim war», schreibt Glück: «Als sie ihn vom Sofa hoben, hatte er sofort eine Gegenfrage parat, und unterwegs überkam ihn das Gefühl, in ihm nähme alles endlich wieder seinen ursprünglichen Platz ein. Eine Stimme sprach Worte, gleichermassen schlicht und wahr, und endlich beugte er sich vor und sein Gesicht blätterte vom Kopf ab – « Das könnte ein absurdistischer Shortcut von David Lynch oder von Roy Andersson sein, es ist aber eine unverkennbare und unverwechselbare literarische Momentaufnahme von Anselm Glück, der hier Aussen- und Innenwelt alogisch verschränkt, bis sie sich «endlich» in ihrer Eigenständigkeit und Authentizität als eine von vielen «möglichen» Welten verwirklicht – bei ihrer Niederschrift nicht anders als bei der Lektüre.
           Zu diesem «Wildwuchs» von Gedanken, Bildern und Gedankenbildern, der ein «neues Schauen» eröffnet und es zugleich erzwingt, liest man an anderer Stelle: «Wir spielen Erlerntes und nennen das Vorüberfliegen Dasein. Alles spült sich in Wellen an uns heran, und im gemeinten Kopf spiegeln sich Eindrücke, erfühlt im ständigen Auf und Ab von Bildern – « Auch hier setzt Anselm Glück einfachstes, jedermann zugängliches, allgemein verständliches Wortmaterial ein, um daraus – durch dessen ingeniöse Verfremdung – eine kleine komplexe Prosaminiatur zu schaffen, die mit der sogenannten Wirklichkeit nur darin übereinstimmt, dass sie selbst, als sprachliches und literarisches Faktum, Wirklichkeitscharakter hat, statt Wirklichkeit bloss in irgendeiner Weise zu widerspiegeln.
           In dieser (wie in jeder andern) Hinsicht stellen Glücks Texte implizit eine radikale Absage an alles dar, was heute von konsensfähiger Publikumsbelletristik erwartet, eingefordert und belobigt wird: Locker arrangierte Plots mit Aktualitätsbezug, kolloquial auserzählte Familien-, Krankheits-, Drogen-, Missbrauchs-, Trennungs- und Verlust-geschichten jeglicher Art, vorzugsweise imprägniert mit Crime und Sex und Fantasy, mit politischem Anstrich oder historischem Gedenken.
            Nichts davon bei Anselm Glück – er denkt und schreibt Sätze ohne Trendvokabular und ohne den gängigen Plauderton; karge, auch unbedarfte Sätze, die nichts Bestimmtes bedeuten oder gar bewirken wollen, die für sich stehen und erst einmal – als sprachliche Fakten – sich selbst genügen; Sätze, die man sich eben deshalb kaum merken kann und die man auch nicht zitieren mag, weil sie keine Quintessenz und keinerlei Pointe bereithalten; Sätze wie die oben bereits eingerückten, oder wie diese: «Es geht und geht, und obwohl es im Kreis geht, hat es doch ein Ziel, blind und in der Hand von Mächten – « Und: «Alleine herumirren im Lärm, im Herzen kein Licht und hinter dem Gesicht eine Maske aus Stein – « Schliesslich: «Erst eine Ahnung, dann eine Welt und hinter der Welt ein Abgrund und das Gefühl: Wir haben es bald geschafft – «
           Sätze von schönster Einfachheit und höchstem Anspruch, kaum publikumstauglich, statt dessen angelegt auf individuelle nachdenkliche Lektüre, die niemals abzuschliessen ist – immer wieder kann man, sollte man damit neu beginnen, sei’s hier oder jetzt.


*) Anselm Glück: «Die Bühne als Versteck». Prosa. Wien (Klever Verlag) 2024. 110 Seiten. 20,00 Euro.
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