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Annette Hagemann: Birken, Kirschen, Birken

Montags=Text
Foto: Th. Preikschat
Annette Hagemann

Birken, Kirschen, Birken


Ich hatte seit vier Nächten nicht mehr geschlafen. Nie mehr als eine Stunde am Stück. Jedesmal war ich aus dem gerade begonnenen Tiefschlaf gerissen worden. Aber das Schlimmste war nicht dies, sondern schlimmer noch war die ununterbrochene Sorge, die Tag und Nacht aufrechterhaltene, allgegenwärtige Spannung, die nicht nachließ, nicht ein Mal. Ich hatte ein Notlager neben seinem Bett aufgebaut und hielt seine warme, heiße Hand. Meine Hoffnung war es gewesen, in dieser Nacht endlich eine Pause zu haben – ein Loch, eine Erholung zu finden für meinen erschöpften Geist und für meine ausgebrannte Haut. Eigentlich war das sein Rhythmus: drei Tage und drei Nächte, dann gab es meistens eine Pause. Es konnte so lange wirklich schlimm sein, doch dann war es plötzlich vorbei. Darauf hatte ich meine Hoffnung gegründet in dieser vierten Nacht, doch sie wurde nach nur einer Stunde Schlaf enttäuscht. Er schrie, und ich richtete mich auf – gequält von seinem Schrei, gequält von der Unwissenheit, was ihn so quälte, dass er jetzt schrie. Ich nahm seine Hand wie immer in dieser Nacht, was sollte ich schon tun, und legte mich wieder neben ihn. Als ich so auf dem Rücken lag, spürte ich meinen Kopf dröhnen, hörte es wie ein Ächzen im Gebälk meines Seins, und meine Haut begann wieder an mehreren kleinen Stellen zu brennen und zu jucken: am Kinn, in den Mundwinkeln, in den Ellenbogen. Und während all dessen war ich zu erschöpft, um den üblichen Weg in den Schlaf zu finden. Ich dachte: Jetzt ist es wirklich genug, morgen früh muss er zu Hause bleiben und das Kind hüten. Dann geht er eben einmal nicht zur Arbeit – auf jeden Fall muss ich nun schlafen, so lange schlafen, wie ich irgend kann, es geht nicht mehr anders. Dann fiel mir wieder ein, dass ich gar nicht bis in die Puppen würde schlafen können, denn etwas Wichtiges sollte morgen geschehen: Mein Freund würde auf jeden Fall beim Kind bleiben müssen, denn das Praktikum sollte morgen beginnen, meine Probezeit, der lang ersehnte Wiedereinstieg ins Arbeitsleben.
Tatsächlich stand ich morgens auf, erschöpft schon vom Aufstehen trottete ich ins Bad und durch die Küche: Ich ging wie über die Oberfläche eines anderen Sterns und in diesem Zustand dann weiter zum Büro. Als ich um halbzehn zur Tür hereinkam, waren die meisten Mitarbeiter noch gar nicht da. Das gehörte vermutlich zum kreativen Ton. Eine Empfangsdame, die sehr entspannt und selbstbewusst wirkte, während sie in ihren PC und nur ab und zu in mein Gesicht schaute, erklärte mir beiläufig, nicht unfreundlich, dass ich mich doch einfach in den Räumen umsehen könne, bis die anderen da seien. Sie wies mit dem nagellackierten Finger auf die geöffnete Tür, in Richtung eines Schreibtischs. Dieser Nachbarraum war von meiner Warte aus uneinsehbar groß, und der Schreibtisch war nicht an eine der Wände gestellt worden, sondern stand da für sich, mitten im Raum. Allerdings hatte im Laufe der Zeit jemand (vermutlich waren es mehrere Menschen gewesen) Bücher und Umschläge, Broschüren, kleine Kartons, Lineale, Gummibänder und Briefbeschwerer, Glaskugeln, zwei Madonnen, bedruckte Blechdosen, Topfpflanzen und Klebebandrollen rundherum auf dem Boden aufgestapelt, so dass diese Gegenstände einen eigenen kleinen Wall um den Tisch herum bildeten. „Damit kannst du anfangen, das ist nämlich der Platz für die Praktikantin“, sagte die Frau vom Empfang und lächelte mich für drei ganze Sekunden breit an.
Ich hoffte, dass sie damit sagen wollte, dass ich dort mit dem Mich-Umsehen beginnen könne – und nicht etwa damit, aufzuräumen. Nicht nur, dass ich aufräumen nicht mag, es überkommt mich auch ein ungutes Gefühl, wenn ich in der Unordnung eines anderen Menschen eine willkürliche Ordnung schaffen soll, ohne eigentlich das Muster seiner Unordnung verstanden zu haben.
Ich stellte meinen Korb neben den Tisch auf den Boden und blickte nach oben. Gekräuselte Bänder hingen von der Decke des Raumes, deren Funktion ich nicht erkennen konnte. Überhaupt hatten sie bei der Einrichtung des Zimmers nicht den oberen Bereich ausgespart, erst hier stehend fiel mir auf, dass an den meisten Zimmerdecken nichts zu sehen ist außer einer dort befestigten Beleuchtung. Hier aber gehörte alles zusammen, oben und unten: Die Lampen hingen teilweise bis kurz über den Boden herunter, dafür gab es ganz oben unter der hohen Altbaudecke Hängepflanzen und auch ein paar an Fäden befestigte, kleine Bilder, die man von unten nur unscharf wahrnahm, außerdem schmale Regale, die nicht benutzbar waren oder zumindest kaum benutzt wurden. Man hatte sie wahllos an Ausstülpungen befestigt, die aus Gips hergestellt worden sein mussten und wie unförmige Schnecken oder Amöben die Decke und Wand herunterkrochen. Der Blick auf den umwucherten Schreibtisch, die gekräuselten Bänder und den ganzen Raum erinnerte mich spontan an Algen, Korallen und anderes Tiefseegewächs – möglicherweise hatte man für dieses Zimmer einem Bühnenbildner den Auftrag gegeben, ein künstliches Meeresambiente aufzubauen. Schwerelos verteilten sich die Dinge im Raum, als gingen sie eigenen Beschäftigungen nach, als stöberten sie mit der Meeresbewohnern eigenen Geräuschlosigkeit und Seelenruhe nach etwas.
Ich fand das seltsam und hatte plötzlich das Gefühl, so einiges hier nicht gleich zu verstehen, aber es war kein unangenehmes Gefühl, nicht wie bei einer Prüfung. Schade war einzig, dass mich die ganze Zeit über diese übergroße Müdigkeit quälte, die mir die Wahrnehmung vernebelte und meine Lust auf das Ganze wie wässriger Kaffee schmecken ließ statt wie Espresso.
Ich ging weiter, und weil auch in den hinteren Bereichen des Raumes noch niemand anwesend war, begann ich, die Dinge unterwegs anzufassen. Auch hier ersetzten Konglomerate oder Installationen aus allerlei Gegenständen die fehlenden Wände. Zum Beispiel gab es eine geräumige Ecke mit einer großen Staffelei, die ein rasch hingemalt erscheinendes Bild trug, worauf eine lichte, birkenbaum-bestandene Landschaft zu erkennen war. Rundherum standen verschieden große, teils patinabedeckte Pflanzenkübel mit echten, kleinen Birkenbäumen darin. Die Kübel, die Bäume verteilten sich lose und mit demselben unbekümmerten Gleichmut im Raum – eher stehengelassen als aufgebaut – und machten einen, naja, silbrigen Eindruck auf mich. Auf dem Boden lagen ein paar Birkensamen, das angrenzende Fenster stand offen. Zwischen den zerrupften Tüllgardinen hindurch drang ein helles und derart passendes Licht in die Szene, dass ich hingehen und nach draußen schauen musste, ob es echt war. Und gleich gegenüber gab es wieder Schreibtische, breite, klobige und schmale, helle, mit Telefonen darauf und Computern darunter, aus deren Druckern Papier quoll. Ich spazierte durch dieses dreidimensionale Stilleben, ein holz-, metall- und papierbestücktes Ganz-Raum-Mobile, beweglich durch einen Windhauch aus dem Fenster, völlig willkommen.
Während ich durch das Gelände des Riesenraumes lief und dabei fast unbewusst über die Gegenstände strich, verhedderten sich meine Finger auf einmal in ein paar Tonbändern. Erschrocken sah ich auf meine umgarnte Hand und drehte mich gleich darauf beschämt um, doch es war niemand da, und ein näherer Blick auf die Tonbänder sagte mir, dass sie auch vorher schon ein wenig aufgeribbelt gewesen sein mussten. Trotzdem wollte ich nicht schon an meinem ersten Tag meine Hände in Schuld und Zerstörung baden, und so beschloss ich, die Bänder an meinem eigenen Schreibtisch in Ruhe wieder in Ordnung zu bringen, jetzt gleich. Ich ging dorthin zurück und setzte mich auf den blauen Drehstuhl, eine goldbeschichtete Ikone sah mir währenddessen von einem Bücherstapel aus prüfend auf die Finger. Während ich noch mit der einen Hand versuchte, die Finger der anderen ohne eine Beschädigung aus den Bändern zu zupfen und an der Spule zu drehen, stellte ich fest, dass sich das Tonband zusätzlich noch in ein paar Schnüre auf meinem Schreibtisch verfangen hatte. Gerade als ich, in meinem leise wachsenden Ärger etwas fahrig werdend, ein vom Tisch gerutschtes Buch mit meinen halb gefesselten Händen wieder aufzuheben versuchte, wobei etliche Buchseiten verknickten, kamen die ersten Mitarbeiter vorne durch die Tür. Sch..., dachte es in meinem Kopf, dabei lächelte mein Mund scheu und zugleich mutig den Ankömmlingen entgegen. Ich beschloss, die Tonbänder vorerst nicht zu reparieren, sondern unter dem Tisch verschwinden zu lassen und mich lieber auf die neuen Kollegen zu konzentrieren. Was waren das für Menschen?
Sie trudelten nach und nach ein, manche lächelten mir zu, manche waren untereinander in ein Gespräch vertieft, manche gingen zielstrebig zu ihren Plätzen und sahen mich gar nicht.
Nachdem ich die Tonbänder unter der Tischplatte mit Gewalt von meinen Händen abgestreift hatte – es blieb mir dabei nichts anderes übrig, als sie zu zerreißen – und mit den Füßen ein paar Zeitschriften darüber geschoben hatte, konnte ich allmählich entspannter zurücklächeln. Meine befreite rechte Hand konnte sogar hin und wieder gar nicht anders, als leicht zu winken. Meine Güte – was waren das für Menschen, denen ich so dringend zuwinken musste?
Als ich sie so nach und nach in den Raum spazieren sah, hatte ich unwillkürlich den Begriff „eine neue Rasse“ im Kopf. Obwohl ich mich dieses Gedankens wegen sofort schämte – was heißt das denn: „eine Rasse, eine neue Rasse“? Ich wusste: Das ist ein menschengeformter und menschenmissbrauchender Begriff und hat doch am Ende mit uns Menschen gar nichts zu tun. Den Tieren ist der Begriff ohnehin egal, aber wir haben ihn eigens formuliert, werfen mit ihm wie mit Lanzen auf andere Wesen und können damit niemals umgehen, es ist uns unmöglich, dies ohne Verletzungen durchzuführen, denn erstaunlicherweise führen solche Differenzierungen zu Differenzen, milde gesagt, und dieses Gesetz lässt sich nicht außer Kraft setzen. Aber auch wenn ich den hässlichen Begriff wegließ: „Anders“ oder „neu“ waren diese hier für mich gewiss. Meine neuen Kollegen waren zwar keine Außerirdischen, und es waren nicht einmal Angehörige einer anderen Kultur. Sondern was sie allesamt auszeichnete – und abhob von den vielen Menschen, denen ich sonst auf der Straße oder im Laden begegnete –, war, dass ich bei jedem und jeder, die hereinkam, imstande war, mir eine ganz enge und aufregende Freundschaft mit ihm oder ihr vorzustellen.
Eine Frau rauscht an mir vorbei in einem Kleid, dessen Konturen nicht in einem statischen Bild wiederzugeben wären. Ihre Farben sind orange, türkis, weiß, ihre Stoffe schweben wie weicher Flaum um sie herum, dazu Schmuck, Ketten und die Klänge, die sie verbreiten. Wie von einem Schiff zwischen den Wellen aus schenkt sie mir, die ich staunend an Land stehe, eine kleine, nette Geste. Gleich darauf ein Mann in völlig unauffälliger Kleidung, aber mit dem blaublaukühnen Blick eines Polarforschers. Er ruft den anderen etwas zu, jedem Einzelnen, dem er begegnet: „Carole, wie hast du geschlafen? Wen hast du vermisst heute Nacht, sag es mir?“ – „Warum nicht, mein Freund, warum nicht auch mal Meerrettich zum Frühstück – wenn´s dich weckt!“ – „Und wer ist dieses junge Ding dort, dieses neue Wesen, haben wir uns über Nacht vermehrt?“ Danach kommt ein kleiner, rundlicher Herr hereinspaziert, rosiges Gesicht, und schwingt – das ist die Krönung – tatsächlich einen Spazierstock beim Gehen, ganz nonchalant. Er sagt nichts zu niemandem, auch nicht zu mir, doch ich bekomme wie alle anderen ein warmes Augenzwinkern. Was ist das hier, Alices Wunderland?
So oder so besteht kein Zweifel: Hier will ich dazugehören, dies wird das spannendste Projekt meines Lebens – das erste Mal eine Kreativität ohne Kompromisse, so verstehe ich es. Diese Leute, zusammen mit diesem Ort, ergeben etwas Unbefangenes und Ungezähmtes. Jeder und jede setzt hier einen Akzent, setzt etwas Eigenes aufs Spiel. Ich habe was, was du nicht bist – so ist das, und noch ist es mir ein wenig ungeheuer, aber der Schauder, den es mir macht, gefällt mir.
Ich bestaune meine zukünftigen Kollegen noch, da wird mir wieder bewusst, wie unglaublich müde ich bin. Die Sekretärin vom Empfang sieht zu mir herüber, und in einem plötzlichen, vielleicht ganz unbegründeten Anflug von Schuldbewusstsein, mache ich eine Geste und tue so, als würde ich den Schreibtisch aufräumen. Da es hier gang und gäbe zu sein scheint, dass jeder sich selbst mit Arbeit versorgt, und da mir auch niemand sagt, was ich sonst tun soll, räume ich dann also doch den Schreibtisch auf. Natürlich nicht besonders enthusiastisch. Mir persönlich ist es auch vollkommen egal, ob die Radiergummis am rechten oberen Schreibtischrand oder in der untersten Schublade liegen sollen. Ich benutze diese Tätigkeit bloß als Alibi, während ich den anderen lausche, wie sie sich auf diese beschwingte Art unterhalten, zwischendrin starre ich auf die Girlanden, wie sie sich von der Decke herunterkräuseln, und stelle mir vor, wer das wohl aufgehängt hat alles. Nach und nach wird meine Müdigkeit so stark, dass mir schlecht davon wird. Meine Bewegungen werden auch immer träger, und ich beschließe, dass es nicht gut wäre, an meinem ersten Tag einen so schlechten, langweiligen Eindruck auf diese besonderen Leute zu machen, und dass es wohl besser wäre, mich zu entschuldigen und zu gehen. Weil sich mir niemand eindeutig als mein Mentor vorgestellt hat, gehe ich zur Empfangsdame hinüber und erläutere ihr meinen unpässlichen Zustand. Sie sagt: „Na gut, dann ist es wohl besser, wenn du gehst und dich ausschläfst. Komm einfach morgen wieder, es reicht, wenn du um zehn kommst.“
Schon in der nächsten Sekunde ärgere ich mich, dass ich meinen Sohn als Grund genannt habe. Genauso gut hätte ich sagen können, dass ich selbst wohl einen Infekt habe. Wer weiß, wie oft ich noch wegen meines Kindes nicht kommen kann in Zukunft. Es sind ohnehin meine Gene, die all das verursacht haben.
Ich nehme meinen Korb, lächle noch einmal lose in den Raum hinein und gehe. Noch beim Herausgehen höre ich, wie jemand ruft: „Wo, um des Himmels Willen, sind denn meine Aufnahmen geblieben, die Bänder für den Kaviarspot?“ Ich muss mich beeilen, denn meine Mutter hat Geburtstag. Wenn ich heute noch zum Schlafen kommen will, ist es am klügsten, diesen Besuch möglichst gleich hinter mich zu bringen.
Ich klingele bei meiner Mutter und halte ihr den Präsentkorb entgegen, von meiner Schwester und mir. Ungewöhnliche, leuchtend gefärbte Früchte und Gemüse schauen ihr stolz entgegen, Wein, Spaghetti, Kapern, Oliven, allerdings kein Kaviar...
„Du kommst jetzt schon?“ sagt sie.
„Ja“, sage ich. „Wollen wir etwas Leckeres kochen?“
Sie schaut neugierig in den Korb. „Warum nicht?“
Dann sieht sie wieder auf. „Wo ist der Kleine?“
„Krank“, sage ich und trage den Korb vor ihr her ins Wohnzimmer, wo ich ihn mitten auf den Tisch stelle. „Komm, willst du nicht auspacken?“
Wir setzen uns nebeneinander auf das gute, alte Sofa, und sie steckt ihre Hände in den Korb, befördert eine kleine Sahnetorte auf einer Pappe heraus. Eine weiße Torte mit roten, kandierten Kirschen.
„Oho“, sagt sie und umarmt mich halb, dabei berührt sie mich mit der Torte und ein zarter Sahnestreifen geht quer über meinen Ärmel. Ich verstehe nicht, warum ausgerechnet meine Mutter nie aufpassen kann. Ich nehme ihr die Torte aus der Hand und stelle sie auf den Tisch, dann habe ich aber eine Idee und stecke ihr eine der Kirschen in den Mund. Sie lacht und greift sich auch eine der sahneverschmierten Kirschen von der Torte und fuchtelt damit vor meinem Mund herum. Als ich die Kirsche erwischt habe, haben wir beide Sahnekleckse an unseren Mündern. Jetzt greife ich mit voller Hand in die Torte und schmiere ihr das in und um den Mund herum, sie ist sofort dabei und streift ihre Hand voll Sahnetorte von meinem Mund an abwärts übers Kinn und dann langsam den Hals hinab – meine Güte, was denkt sie sich? Jetzt ist es mir auch egal. Wir verzehren die ganze Torte, ohne eine Kuchengabel oder einen Löffel zu benutzen, unsere Gesichter und Kleider und Oberkörper sind mit Sahne bestrichen, eine kandierte Kirsche klebt mir im Ausschnitt, ich seufze, vielleicht auch aus glücklichen Gründen. Die Sahne ist kühl und süß auf meiner Haut, und ich lehne mich auf dem Sofa zurück.
Da schiebt meine Mutter die Kuchenpappe beiseite und beugt sich vor, um wieder in den Korb zu greifen. Dieses Mal fördert sie eine Tomate zutage, das interessiert sie nicht, sie legt sie beiseite, dann eine Zucchini. Als sie an einem Bund Möhren zerrt und es dann mit einem Ruck herauszieht, habe ich plötzlich das Gefühl, dass es ihr nicht gefällt, ihr Geschenk gefällt ihr nicht mehr. Mit einer ziemlich ruppigen Geste haut sie die Möhren auf den Tisch und dreht mir ihr Gesicht zu. Ich rutsche unruhig auf dem Sofa herum, setze mich zurecht, sie kommt mir auf einmal fast aggressiv vor: wie sie guckt. Ich wundere mich in diesem Moment auch, dass meine Schwester im Türrahmen steht, ich hatte sie nicht kommen hören.
„Die Maraschinokirschen“, sage ich zu meiner Mutter, „sind so voller Konservierungs- und Farbstoffe, dass ein menschlicher Körper sie nicht ansatzweise verdauen kann. Sie bleiben einfach, wie sie sind. Sie werden uns alle überleben.“
Meine Schwester lacht kurz. Sie ist wie immer niedlich anzusehen, mit ihren weißblonden, schulterlangen Haaren, diesem vollkommen harmlosen, weißblonden Pony über den Augen: Was ihren Niedlichkeitsquotienten angeht, sieht sie aus wie vier, dabei ist doch mein Sohn schon zweieinhalb – das ist also eigentlich absurd. Ich pflücke die klebrige Kirsche aus dem Ausschnitt. Mein Sohn ist krank. Ich muss zu ihm, und ich muss schlafen, oder was war es noch...?
Zwei Tage später machte ich vom Praktikum aus einen Betriebsausflug. Allerdings nur mit einem einzigen Kollegen. Er war auch so ein aparter, wunderschöner Mensch, dunkelblonde Dreadlocks, helles Gesicht. Er war noch sehr jung, und auch ich fühlte mich plötzlich so: jung, klare Züge, prall gespannte, frische Haut, nicht mehr diese juckende. Ich verlor auf einmal mein schwerwiegendes Frausein und wurde wieder ganz zum offenen, leichtfüßigen Mädchen (niemand ist aufgeschlossener für die Welt als eine Jungfrau, jedenfalls war es so bei mir). Wir beide sollten einen Platz für Außenaufnahmen finden, frühherbstlich, golden und luftig. Als wir den Ort gefunden hatten, war die Landschaft so für unsere Situation geschaffen, dass ich an die Inszenierung mit der Birkenlandschaft im Büro denken musste. Ich drehte mich einmal, zweimal um meine eigene Achse, sah den glitzernd geschlängelten Bach, das Gras und milde Gestrüpp des Bachbettes, die Felswand auf der rechten Seite, ockerfarben, die Felswand auf der linken Seite, am oberen Saum mit ein paar Bäumen bewachsen, und dann geriet ich direkt in sein Gesicht, und er küsste mich. Als ich nach einer Weile heulen musste, küsste er mich abermals und tröstete mich. Er sagte mit ganzer Zärtlichkeit: „Du armes Wesen. Du Arme.“ Und ich begriff, was er mir damit sagen wollte. Er offenbarte mir damit zwei Dinge zugleich: sein pures Mitgefühl und sein starkes Bedürfnis, mit mir zu schlafen, mich zu nehmen, mich zu vereinnahmen.
Unser Schäferstündchen neben dem Bachbett steigert sich. Die Vehemenz des Aktes kommt bald einer Naturkatastrophe gleich. Ich fühle mich wie ein Stück Käse, das der Koch oder die Köchin über ein erhitztes Reibeisen schiebt, hin und zurück, in starken, unausweichlichen Bewegungen. Nicht körperlichen Schmerz meine ich, sondern diesen körperlich fühlbaren Akt meiner Ausmerzung: unentrinnbar, gleichmäßig, Stück für Stück. Etwas sehr Gravierendes geschieht. Ich kann nicht mehr, ich wache auf. Bin erfüllt von einem außergewöhnlichen Schock. Mein Kind liegt neben mir. Ich muss aufstehen – versuche dabei, leise zu sein, um es nicht aufzuwecken – und ins Badezimmer gehen.
Über dem Waschbecken spüre ich, wie mir erst seltsam wird, dann übel. Schnell beuge ich mich vor und erbreche ins Becken, doch es ist eigentlich keine Erleichterung. Was ich sehe, ist: erst etwas warmes Lehmfarbenes und dann Blut. Hellrotes Blut. Erschrocken muss ich daran denken, was ich erst vor ein paar Tagen in einer Illustrierten las. Wie war das nochmal: Hellrotes Blut kommt aus der Speiseröhre, dunkles, geronnenes Blut aus dem Magen? Welches war noch das passende Mittel für solch einen Fall? Ich überlege fieberhaft. Fieberhaft im Sinne von dringlich und fokussiert, aber ohne Panik. Die Panikfreiheit wiederum erstaunt mich. Ich bin beim Anblick des aus mir fallenden, eigentlich noch zu mir gehörenden, warmen Blutes nicht panisch, ich tue nur, was man in solch einer Situation tun muss: „Aha... Welches Mittel?“ Ich bin ein bisschen traurig, als sei ich von jemandem enttäuscht worden, traurig, dass ich es bin, die jetzt schon Blut erbricht, aber ich bin dies alles ohne Aufruhr. Es ist wie das Wort „Amen“, das altbewährte „So soll es sein“.
Ich wache wieder auf, und mein Sohn neben mir stöhnt. Ich fasse ihn an, er ist kühler geworden. Ich gehe ins Bad, setze mich auf den Rand der Badewanne und atme ein ums andre Mal. Ich begreife ganz langsam: Der Mann, mein junger Kollege, ist ein Faun gewesen. Doch anschließend an diesen Gedanken gibt es für mich nichts zu tun, als zu atmen und aus dem Badezimmerfenster auf die Birken zu schauen, die so sanft und innig rauschen im Hof, als wüssten sie von nichts. Die Balkontür vom Nachbarhaus gegenüber geht auf und geht zu, und in einem bestimmten Winkel des Türklappens fängt sich das Licht im Türglas und blendet mich kurz. Einmal, zweimal, dreimal, die Menschen laufen immer wieder heraus und herein, warum tun sie das? Ich blinzele ins Türlicht, einen Abglanz der Morgensonne, und denke: Warum auch nicht?
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