Anne-Sophie Keller: Wie ich von dir heile
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Foto: Jutta Jacoby
Anne-Sophie Keller
Wie ich von dir heile
Ein Abschiedsgedicht über einen Menschen, mit dem ich einen Sommer lang im Wald gelebt habe.
Ein Abschiedsgedicht über einen Menschen, mit dem ich einen Sommer lang im Wald gelebt habe.
Wenn ich in der
Mitte des Bettes aufwache und mich so weit ausstrecke, bis sich der Platz neben
mir nicht mehr leer anfühlt
Wenn dein
Geruch langsam aus meiner Erinnerung weicht
Wenn ich die
Wohnung ausräuchere, deren Schlüssel ich von dir zurückhaben wollte
Wenn die
grünen Lilienknospen, die ich mir geschenkt habe, langsam zu einem roten
Blütenherz zusammenwachsen
Wenn ich mir
beim Kochen in den Finger schneide und sehe, dass mein Körper heilen kann
Wenn ich
meine Bettwäsche wasche und ein allerletztes Haar von dir zwischen den Laken
finde
Wenn ich in
der Badewanne liege und meine Finger mit mir Flitterwochen feiern
Wenn ich
wieder Essen kann, weil mein Körper nicht mehr seine ganze Energie dazu
braucht, um dich zu verdauen
Wenn mein
Zwerchfell so fest schmerzt, dass ich wieder lernen muss, zu atmen
Wenn mir
meine einst so vertraute Freiheit jeden Tag ein kleines Bisschen weniger Angst
macht
Wenn ich an
deine Küsse denken und das Stechen im Herzen langsam schwächer wird
Wenn meine
Wut auf dich langsam dem Mitgefühl weicht, weil du nicht besser konntest
Wenn ich mich
jeden Tag ein bisschen weniger mit der Nostalgie foltere, weil dieses elende,
gierige Viech namens Schmerz in mir verhungern soll
Wenn ich
trotz allem finde, dass unser vermeintlich endlose Mittsommernachtstraum all
die Tränen wert war, mein Waldmenschlein
Wenn all
unsere Pläne mit den Bäumen da draussen, die einst unser Dach waren, sterben
und das Laub unter meinen Füssen knistert
Wenn ich
erkenne, dass dich zu verlassen der mutigste Akt der Selbstliebe war