Anne Carson: Dreizehn Blickwinkel auf Einige Worte
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Jan Kuhlbrodt
Anne Carson: Dreizehn Blickwinkel auf Einige Worte / Thirteen
Ways of Looking at a Short Talk. Berliner Rede zur Poesie. Englisch/deutsch.
Übersetzt von Anja Utler. Göttingen (Wallstein Verlag) 2020. 52 Seiten. 13,90
Euro.
Zu Anne Carsons
Dreizehn Blickwinkel auf Einige Worte
Die von Anja Utler ins Deutsche übertragene Rede zur Poesie
der kanadischen Dichterein Anne Carson findet in ihrer gedruckten Ausgabe, die
im Göttinger Wallstein Verlag erschienen ist, auf zwanzig Seiten Platz. Ich
habe sie inzwischen zwei oder drei Mal gelesen, was ja im Grunde schon sechzig
Seiten ausmacht. Und ich habe hin und wieder in die englischsprachige Version
gelugt, die sich im Buch der deutschen anschließt. Es ist also gewissermaßen
ein umgekehrtes Verhalten zu dem, dass ich in den Tag legte, als ich die Rede
im Internet mitverfolgte, und zuerst auf das englischsprachige Original hörte
und dann erst auf die eingeblendeten Untertitel in Utlers Version. Und natürlich
erfahre ich mehr vom Text, wenn ich ihn im Buch lese, zumal hier das witzige
Spiel mit den Hüten wegfällt, das Carson auf dem Video zelebriert. Auch kann
ich, wenn ich lese, das Tempo der Lektüre selbst bestimmen. Ich verwandle
letztlich durch mein Verhalten den mir angetragenen fremden Text in den meinen.
Weil er aber, oder das Video im Internet, festgezurrt ist, kann ich ihn auch
immer wieder in seiner Fremdheit aufsuchen.
Was aber passiert bei der Lektüre? Erstaunlich und
überraschend war für mich zum Beispiel, dass der erste der dreizehn Blickwinkel
aus Einige Worte, also der erste auf dem ersten Short Talk in Verse und
Strophen gesetzt ist. Es ist ein Gedicht, es signalisiert, ein Gedicht zu sein.
Es verwandelt also das, was es verhandelt, in Rhythmus. Und es verhandelt eben
genau diese Verwandlung. Ein Wissen wird verhandelt, das eine Altphilologin
anhäuft, das aus Sprache rekurriert, ein altes Wissen, oder Wissen über Altes,
das in der Gegenwart passiert, sich ereignet und in diesem Moment einen
Windstoß hervorbringt, der dem Alten den Staub nimmt, es – entstaubt – als
Gegenwärtiges zeigt. Es verwirbelt Zeit, und als Gewährsmann fungiert der
antike Dichter Alkman.
Aber, wie Sie wissen, ist das Hauptziel der Philologie,alle Freude, die man an einem Text haben kann,auf eine geschichtliche Panne zu reduzieren.Und mir ist nie wohl bei der Behauptung, man wisse genau,was ein Dichter sagen will.Lassen wir also das Fragezeichen dort.
Und ich glaube, man kann das Folgende so lesen, dass auch
die Dichterin selbst nicht genau weiß, nicht genau wissen kann, was sie sagen
will. Das der Dichtungsprozess genau darin liegt, herauszufinden, was man sagen
will, oder um das Subjekt etwas verschwinden zu lassen: Was gesagt werden will.
Und man könnte meinen, dass eben das Ringen, darum, das zu
sagen, was dann doch ungesagt bleibt, den währenden Treibstoff darstellt, der
die Literatur vorantreibt, der ausmacht, was sie ist und sagt.
In einer eingefügten kurzen Erzählung, deren Protagonist
Joseph Conrad ist, der als polnischer Einwanderer ein gebrochenes Englisch
spricht, aber zu den wichtigsten englischen Schriftstellern werden wird,
verhandelt Carson das Moment des Nicht-Sprechen-Könnens auf verschiedenen
Ebenen, und neben dem sprachlichen Vermögen spielt natürlich auch die Situation
eine Rolle, die räumliche Entfernung des potentiellen Gesprächspartners und die
Verlegenheit, die einen vielleicht am Sprechen, am Ansprechen, hindert. Aber
auch die Ablenkung für Genuss-versprechendes wie Weißbrot.
Aber so dramatisch die Situationen auch sind, die Carson
schildert, verliert die Schilderung nie den Humor. Zum Beispiel wenn sie in
einem Kapitel, das mit Flaubert beginnt, im Fortgang mit ihrer Schwiegermutter
in einem Adventsgottesdienst landet und über das Überkreuzen ihrer Beine
nachdenkt.
Natürlich beginnt dieses Kapitel, das Einige Worte zu
Flaubert heißt, nicht wirklich mit Flaubert, sondern mit dem Wunsch,
Romanautorin zu sein, der sicher von einer Flaubert-Lektüre evoziert wurde, aber
der Wunsch verzweigt sich in eine Reflexion über die Romanform und spielt dann
eben in der Kirche, bevor es in Griechenland endet, wo die Autorin zeichnet,
statt zu schreiben.
So scheint es mir jedenfalls – bei diesem Lektüredurchgang.
Aber das Phänomenale an diesem Text ist, dass sich sein Bild von Durchgang zu
Durchgang verwandelt, als hätte ein ganzes Epos sich in diese zwanzig Seiten
gezwängt. Grandios!