Anna Ospelt: Wurzelstudien
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Astrid Nischkauer
Anna Ospelt: Wurzelstudien. Zürich (Limmat Verlag)
2020. 126 Seiten. 40 Fotos. 24 Euro.
Wenn
Baum. Dann Baum.
Wurzelstudien
von Anna Ospelt ist ein erfrischend ungewöhnliches Buch. Es ist unterteilt in
mehrere Mappen, zu denen es einen Prolog und zwischendrin mit „Loses Blatt“ und
„Schnipsel“ betitelte Einschübe gibt. Dennoch teilt sich das Buch für mich
unabhängig davon in zwei Abschnitte: im ersten steht der Verleger Henry Goverts
und dessen Hängebuche im Fokus der Aufmerksamkeit, im zweiten geht es mehr um
die Selbstfindung und versuchte Baumwerdung des Ichs. Die Baumwerdung Henry
Goverts wiederum erfolgt innerhalb weniger Zeilen, in deren Verlauf er
kurzerhand mit dem Baum in seinem Garten gleichgesetzt wird:
Die Hängebuche in Henry Goverts Gartenist die Hängebuche im Garten seiner Elternist die Hängebuche im Garten meiner Elternist die Hängebuche Henry Govertsist Henry Goverts.
Um mehr über die Verlegerpersönlichkeit/Hängebuche Henry
Goverts herauszufinden, werden Stationen seines Lebens ebenso besucht, wie
andere Hängebuchen und Bäume.
Ich reise zurück nach Berlin und besuche das Gymnasium, in dem Goverts 1912 Abitur machte. Spitze meinen Bleistift auf dem Schulhof.
Die Person Henry Goverts gewinnt vor allem in
umfangreich zitierten Berichten seiner Zeitgenossen Kontur, beispielsweise in
dem von Peter Schifferli:
Er schien einem Buch
einfach nicht widerstehen zu können, musste es betasten, in der Hand wiegen,
dann aufschlagen, mit der Faszination eines Verliebten eine Seite und dann noch
eine Seite umblättern, um dann plötzlich, wie ertappt und mit einem Lächeln um
Entschuldigung bittend, aus der „Buchversunken-heit“ aufzutauchen und in die
Gegenwart und ins Gespräch zurückzukehren.
Es werden Menschen aufgesucht und angerufen, die Henry
Goverts persönlich kannten und es wird sehr viel Material gelesen und
verarbeitet, auf Anna Ospelts ganz eigene Art und Weise:
Ich habemich in seine Gedichte vertieftSeine Bilder in die Hand genommenich habesie zerschnitten.Ich habe mich in seine Gedichte vertieftSeine Bilder in die Hand genommenund neu zusammengefügt.

Später kommt es dann zu einer Drehung, zu einer Verschiebung des Blicks, zu einem Perspektivenwechsel, der dazu führt, dass ab nun das Autorinnen-Ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.
Ich sehe mich durchs Blatt an, ich schaue nach Innen.Ich beginne mich zu drehen. Ich versuche zu sehen, wasHenry Goverts in mir sieht. Er ist mein Verleger.
Nun richtet sich die Recherchetätigkeit auf die eigenen Wurzeln, denen mittels Familienbesuchen nachgegangen wird.
Mir unbekannte Ahnen hingen in Bilderrahmen. Sie eichten mich an. Ich eichtezurück.
Die Wurzelstudien werden nun wörtlich genommen und Pflanzenwurzeln ausgegraben und abgezeichnet, es wird im Wurzelatlas nachgeschlagen, die „Baum-Atem“ genannte Atemtechnik wird ausprobiert, oder es wird auch beim Zahnarzt nachgefragt, ob es hier vielleicht Wurzeln zu besichtigen gäbe. Kurz gesagt: Anna Ospelt geht mit sehr viel Humor an das Thema heran. Was man auch an folgendem kleinen und leicht zu überlesenden Detail merken kann, das, beabsichtigt oder nicht, ein sehr schöner Insiderwitz für Germanisten ist. Dazu vorab eine kurze Einleitung: Bei Novalis begibt sich Heinrich von Ofterdingen auf die Suche nach der ihm im Traum erschienenen blauen Blume. Für die ganze Romantik ist die blaue Blume ein zentrales Symbol der Sehnsucht. Bei Anna Ospelt hingegen wird die blaue Blume kurzerhand unters Mikroskop gelegt: „Ich schaue mir die Zellstruktur einer blauen Blume an.“ Ein Satz, der in all seiner knappen Nüchternheit die Gedankenkonstrukte der Romantik in sich zusammenstürzen lässt. Dementsprechend wird bei Anna Ospelt auch von anderem geträumt:
Vorgestern träumte ich, ich sei ein Plastikbaum. Sehrbeweglich und dehnbar.
Immer wieder öffnet das Buch sich hin zum Poetischen und Performativen. Beispielsweise wenn dem Satz „Auf seiner Rinde liegen Wolken.“ eine ganze Seite Raum gelassen und ein Foto der Flechtenwolken auf der Baumrinde gegenübergestellt wird. Alleine durch die Setzung auf einer leeren Seite gewinnt der Satz Gedichthaftigkeit:

© Limmat Verlag
© Anna Ospelt

Performativ wird es, wenn Baumblätter gekostet werden,
oder ein durchscheinendes Blatt von Henry Goverts/seiner Hängebuche mit auf die
Recherche genommen wird um damit die Umwelt zu „scannen“, seien das nun Briefe
von Henry Goverts, Skizzen von Peter Handke, oder auch von Goverts geliebte
Waldwege in Vaduz.
Die 40 Fotos von Anna Ospelt im Buch sind ein
gewitztes Spiel der Selbstinszenierung, da sie auch ihre Finger und Zehen
zeigt, was Authentizität vermittelt, da sie uns ja auch an Kindheitsschauplätze
und zu Familienangehörigen führt, mit dem Ich zugleich aber auch eine
eigenständige literarische Figur schafft, die nicht mit ihr als Autorin
gleichzusetzen ist. Allen, die in diese Falle tappen, hält sie dann am Schluss
den Spiegel vor, wenn das Ich zu „Ivy Blum“ wird, was natürlich ein Verweis auf
„Molly Bloom“ aus Ulysses ist und
damit darauf, dass wir eine literarische Figur vor uns haben.
Ich gehe zu Starbucks, sage, mein Name sei Ivy. Ivy wie Efeu, und Efeu bildet Rhizome. Die Frau an der Kasse schreibt den Namen auf den Pappbecher. Sobald der Kaffee fertig ist, wird durch den Raum „Ivy“ gerufen.
Mit der Baumwerdung hat es letztlich dann doch nicht
so ganz geklappt, wobei Efeu auf Bäumen wachsen und diese überwuchern kann. Aber
so ganz ernst war das mit der Baumwerdung wohl ohnehin nicht gemeint gewesen:
Ich möchte kein Baum werden, ich möchte ein Baum werden wollen.
Den beim Thema Baumwerdung eigentlich unvermeidlichen
Verweis auf antike Mythologie (Apoll und Daphne, Philemon und Baucis)
unterlässt Anna Ospelt, vielleicht weil allzu naheliegend?
Es gibt in Stein gemeißelte Abbildungen einer
ägyptischen Baumgottheit, die zeigen, wie eine Frau in Baumgestalt einem
Menschen und der Seele des Menschen in Vogelgestalt Nahrung spendet. Das können
Bäume wie Bücher gleichermaßen: Nahrung für die Seele sein. Auch Anna Ospelts Wurzelstudien sind zweifelsohne Nahrung
für die Seele, wofür man das Buch jedoch nur lesen und nicht kosten muss.