Ann Cotten: Lyophilia
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Jan Kuhlbrodt
Zu Ann Cottens Lyophilia
Science Fiction scheint das Genre der Zeit zu sein, vielleicht weil, wie es aussieht, unsere planetaren Ressourcen zu Ende gehen, oder weil nach einer Zeit neoliberalem Wahrscheinlichkeitswahn es an der Zeit wäre, wieder ins Utopische zu denken; all das natürlich in zweierlei Hinsicht: Utopie und Dystopie sind verschwistert, gedeihen im gleichen Universum. Und beide bleiben sie, wenn sie kein Zerrbild des Autoritären sein wollen, brüchig. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die vorliegenden Erzählungen eine landläufig begriffene Stimmigkeit verweigern. Was nicht heißt, dass sie nicht stimmig wären. Sie sind textarchitektonische Juwelen verschiedener Größe.
Vielleicht sind sie nicht unmittelbar eingängig, was ich nicht einschätzen kann, denn mir bereitet die Lektüre keine Mühe, was eventuell an einer gewissen Übung meinerseits liegt. Wenn dem so ist, behaupte ich hier ganz frei, dass es sich lohnt, diese Mühe auf sich zu nehmen. (Im Grunde besteht sie ja auch nur darin, sich von einer tradierten, also auch eingeübten Erwartungshaltung zu verabschieden. Dazu böte sich übrigens das Hören zeitgenössischer Musik an, auch von weniger eingängigem Jazz, der ebenso zeitgenössisch ist).
Ann Cotten präsentiert also eine Reihe von Prosatexten verschiedenster Länge und, wie ich seit einigen Lektüren weiß und was ich sehr schätze, bedeutet die Bezeichnung des Wortes Prosa für die Autorin nur bedingt eine Beschränkung – wo es sich anbietet, verlässt der Text die Zeile und wird zum Vers. Die Texte sind also zuweilen durchschossen von essayistischen Einsprengseln und lyrischen Kaskaden, so dass man sie als vorwiegend prosaisch bezeichnen muss.
Der Verlag verzichtet zum Glück auf eine Genreangabe, die aus den Zeichnungen, die sich im Band befinden, reine Illustrationen machen würde; aber ich meine, selbst diese Zeichnungen stehen für sich beziehungsweise bilden mit den Texten ein erstaunliches Ensemble. Im Klappentext taucht eher auch deshalb verhalten das Wort Erzählung auf.
Es gibt ein Stück der amerikanischen Formation Art Ensemble
of Chicago, das ähnlich funktioniert wie Cottens Erzählung „Proteus“, die die
längste des Bandes ist. Beim Lesen fühlte ich mich auf eine gewisse Weise
heimisch, weil ich anfangs an einen frühen Text Pynchons denken musste, der Entropie
heißt, und die Welt kurz vor Abschluss des Ausgleichs der Energieniveaus, also
kurz vor ihrem Ende zeigt, oder Arno Schmidts Kurzroman Kaff auch Mare
Crisium, der eine Wanderung eines Paares der postapokalyptischen Situation
auf dem Mond entgegenstellt, wo sich als letzte Stützpunkte der Menschheit eine
russische und eine amerikanische Mondstation befinden.
Allerdings ist Cottens Text wesentlich zeitgemäßer und auch
musikalischer.
Denn Proteus funktioniert beispielsweise wie das
angesprochene Musikstück. Es findet sich auf der Platte Full Force: Aus
dem mehr oder weniger wirren Tongemisch eines Präludiums bilden sich mit der
Zeit zwei musikalische Linien heraus, wobei die eine, zweite, etwas später
einsetzende, einen Hintergrund zeichnet, vor dem sich die erste, die Geschichte
eines Rockmusikers durch seinen wirren Alltag abzeichnet, mit allerlei
sexuellem und anderem Beziehungsgestrüpp, auf seinem Weg zu einem Festival.
Den Rahmen bildet jedenfalls eine ökologische und
wirtschaftliche Katastrophe, die über Zeitschriften und andere von den
Protagonisten wahrgenommene Medien indirekt in die Erzählung dringt.
Deutschland erweist sich als Fluchtgebiet, und die Ströme ziehen wie heutzutage
die Urlaubskarawanen, von Norden nach Süden. Teile des Landes stehen bereits
unter Wasser. Bis in der Coda der Erzählung die Linien wieder zerfasern, diese
sich wieder in ein Gewirr von Strängen auflöst.
Großartige Literatur!
Ann Cotten: Lyophilia. Berlin (Suhrkamp) 2019. 463 Seiten. 24,00 Euro.