Direkt zum Seiteninhalt

Anja Utler: Von den Knochen der Sanftheit

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen



Jan Kuhlbrodt

Zu Anja Utlers Essays: "Von den Knochen der Sanftheit"



Neben Utlers wissenschaftlicher Untersuchung zum gesprochenen Gedicht, über die wir jüngst berichteten, ist in der Edition Korrespondenzen nun auch ein Band mit Essays und Reden der Autorin erschienen.

Vorauszuschicken wäre eine allgemeine Bemerkung: Der Essay befindet sich im Aufschwung, essayistische Texte gehören zu den spannendsten Neuerscheinungen derzeit, gleich ob es sich um politische Essays handelt, wie die Texte Laurie Pennys oder eher literarische wie die von Rinck, Poschmann, oder eben jene von Anja Utler.

Zumindest letzteren, also jenen, die von Lyrikerinnen geschrieben wurden, ist anzumerken, dass es ein Bedürfnis gibt, über das unmittelbare Feld der Lyrik hinauszugehen, die Produktion von Gedichten im gesellschaftlichen Raum zu positionieren. Was mache ich, wenn ich Gedichte schreibe, lese oder spreche? Diese Frage scheint die Autorinnen umzutreiben. Woher kommt mein Material, das natürlich Sprachmaterial ist, und was bringt es mit? Und wie wirkt es sich aus, auf seine Umgebung, aber auch auf den, der schreibt oder spricht? Und wenn es Einbettungen gibt, wie ist eine künstlerische Autonomie, trotz der gesellschaftlichen Verflechtungen, zu begründen? Die Reflexion auf Lyrik und auf politische und gesellschaftliche Phänomene erweist sich zugleich als Selbstreflexion.

Wir denken auf schwankendem Boden. Wie er Urgegebenheiten verweigere, verweigere er die Definition seiner Begriffe, schreibt Adorno zum Essay als Form.

Grundskeptisch nähert sich Utler so auch in ihrem Eingangsessay, der sich unter anderem der Mode zuwendet, das zeitgenössische Denken als eins im Anthropozän zu fassen, in dem der Mensch sich nicht mehr nur als Herrscher erweist, sondern eben auch als Schöpfer. Dass die Form des Essays dem kritischen Gedanken nachkomme, dass der Mensch kein Schöpfer sei und nicht menschliche Schöpfung, formuliert Adorno apodiktisch. Im eher tastenden, fragenden Gestus Utlers erweist dieser Gedanke Adornos sich als naheliegend.

Die Lyrik hat das Potenzial, die in der täglichen Wiederholung gebannten Koordinaten in ihre eigentliche Sprunghaftigkeit zu schrecken, und eine befreiende Unsicherheit zu schaffen.


Das sagt Utler in ihrem Vortrag plötzlicher mohn. Das heißt aber auch, dass ihre Arbeit, darin liegt, tradierte Begriffe aufzubrechen, in Bewegung zu setzen, und zwar sowohl das klangliche als auch das semantische Material. Lyrik ist, wie jede Kunst, Verfremdung und führt das, was gegeben und fest zu sein scheint, auf das ihm zugrunde liegende Vage zurück, ohne eine erneute Verfestigung zuzulassen, Lyrik ist prinzipiell antiideologisch.

Für mich kann Lyrik das meistens dann leisten, wenn sie einen Raum aufmacht, in dessen Inneres ich als Leserin eintreten kann. Sie schafft damit räumliche Gegenwart: sie verleiht lebenden und unbelebten Dingen Präsenz. Und sie schafft zeitliche Gegenwart: ihre Perspektive ist nicht die des Betrachtens und nachträglich-erzählenden Einordnens; im lesenden Hindurchgehen wird eine Welt im Präsens erlebbar.


In den im Band versammelten Essays lernen wir Utlers Ich in den verschiedensten Modi kennen. Als lesendes, schreibendes, betrachtendes aber auch politisches und damit zornig suchendes Ich. Subjektivität erweist sich als facettenreich und der Irrtum als produktive Kraft. Immer wieder verweist Utler auf Veränderungen in ihren Positionen, auf Entwicklungen, gepaart mit der Einsicht, dass da nichts ist, woran man sich endlos halten kann. Sehr eindrucksvoll schildert sie das in ihrem Text Sprachliche Fehlanreize. Über die rhetorische Reflexzonenmassage in der Flüchtlingskrise. Die an der Lyrik geschulte Sprachsensibilität erweist sich hier als Bedingung einer Möglichkeit politischer Wachheit.

Das politische Potenzial der Lyrik, könnte man resümieren, erweist sich nicht in der Produktion wirksamer Slogans, sondern in der Geschmeidigkeit, Wachheit und Flexibilität des Denkens, das sie formiert und das gleichermaßen durch sie formiert wird.


Anja Utler: Von den Knochen der Sanftheit. Behauptungen, Reden, Quergänge. Wien (Edition Korrespondenzen) 2016. 192 Seiten. 19,00 Euro.

Zurück zum Seiteninhalt