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Anja Utler: kommen sehen - Lobgesang

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Jan Kuhlbrodt

Anja Utler: kommen sehen – Lobgesang. Wien (Edition Korrespondenzen) 2020. 128 S. 18,00 Euro.

Zu Anja Utler
kommen sehen


Vielleicht aber haben wir uns an das Katastrophale gewöhnt, in das die Menschheit mit jeder Katastrophe neuerlich fällt. Vielleicht ist schon immer Apokalypse und alles Schreiben im Grunde postapokalyptisch. Das eigentliche Wunder wäre dann, dass wir überhaupt noch schreiben oder sprechen. Dass wir die Momente zwischen den Atemzügen mit letzten Worten füllen.
     Anja Utler nennt ihr langes Gedicht „kommen sehen Lobgesang“.

Eine Frau, schon alt ist anzunehmen, spricht zu ihrer Tochter und rekonstruiert einen Vorgang, der allem Anschein nach auf eine gerade eintretende Katastrophe hinausläuft. Doch in dieser Reformulierung werden ihr Zeichen gewahr, die sie vielleicht übergangen, in denen das Ende sich aber schon zeigt. Der Bericht ist ein Tasten. Das Ist ergibt sich aus dem, was war. Und das was war, erscheint in dem, was ist.
    Die Zeit ist ein doppeltes Vergehen und existiert wahrnehmbar nur in der Gegenwart. Im Licht des Jetzt gewinnt das Vergangene eine Zwangsläufigkeit. Aber von Sinn ist dennoch nicht zu sprechen.

„Und sie sagt ja  Als die Tochter sagt Und wenn schon  trotz
allem  nicht wegen dir  es war nur folgerichtig dass

die breite Gesamtheit solcher Berichte  über Jahr-
tausende nämlich  uns endlich dann in Unseren Wieder-

geburtlichen Schritt“

Zuweilen laufen die zweiversigen Strophen in Zeilen- und Strophenfragmenten aus. Die Texte gewinnen eine stakkatohafte Anmutung. Das korrespondiert der Gewissheit des Textes, der sieht, wie etwas aufs Katastrophale zutreibt. Die Katastrophe sich ausbreitet. Und es korrespondiert zugleich einer Abwesenheit von überzeitlichem Sinn.

Und dennoch bleibt eine Suche danach in der von Utler gezeichneten apokalyptischen Landschaft, in der die Gräser an Gräser erinnern, das Wasser an Wasser:

„ein paar Wasserschuppen  mehr  ist da nicht  sie  die
zwei Kinder der Nachbarin laufen  drauf hin und her

lass uns schauen was drüben ist  Und sie  steht in der Mitte
als müsse jedenfalls dort eine Ausschau   halten stramm

flussaufwärts mit gutem Willen und steifem Genick
etwaigen Zukunftsgerinnsel   entgegen während die

Knöchel   schnuppern am trockenen Stein  sich leise
sträubten“

Utler verzichtet im Text vollkommen auf Satzzeichen. Sie vertraut auf die rhythmische Qualität der Sprache selbst, die sie durch Leerzeichen und Großschreibung konterkariert. Der Wortfluss ist ein durchbrochener, wie der Wasserlauf der Naab, der als Signet den Schutzumschlag ziert und ein unterbrochener ist. Wir sind Natur, und mit ihr kommen auch wir ins Stocken.

Anja Utler folgt dem Programm, das sie in ihrem Essayband „Von den Knochen der Sanftheit“ vor einiger Zeit formulierte, der ebenfalls in der Edition Korrespondenzen erschienen ist:

Für mich kann Lyrik das meistens dann leisten, wenn sie einen Raum aufmacht, in dessen Inneres ich als Leserin eintreten kann. Sie schafft damit räumliche Gegenwart: sie verleiht lebenden und unbelebten Dingen Präsenz. Und sie schafft zeitliche Gegenwart: ihre Perspektive ist nicht die des Betrachtens und nachträglich-erzählenden Einordnens; im lesenden Hindurchgehen wird eine Welt im Präsens erlebbar.


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