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Anja Utler: - vernehmen/zerfurchen -

Gedichte > Münchner Anthologie

Anja Utler

- vernehmen/zerfurchen -

nur an den schürfstellen: ausgelöst
stehn, spüren, drifte schon: schlingre dir zu
durchs: zerklüftete höre – du sprichst mir vom
abraum, den halden vom: aufpflanzen,
windrose, -rad vom: rotieren sprichst, glänzendes
rotorblatt sagst du – es: schlingert, ja, schlingre, wie
arm, flügel pflügt: sich den rücken, ja, furcht
durch die erdrauch- die taubnesselfelder
und stumpft: erst am schulterblatt ab

Wolfram Malte Fues


- vernehmen/zerfurchen -



So lautet das zweite Gedicht aus Anja Utlers erstem Gedichtband „münden – entzüngeln“, Wien 2004. - Was beeindruckt zuerst an diesem Gedicht? Seine eindringliche Musikalität. Textkörper solcher Art sind zunächst Klangkörper, deren Polyphonie nicht nur sie selbst in subtile Schattierungen von Heller und Dunkler nuanciert, sondern auch die Gedichte des gesamten Bandes in grenzüberschreitender Modulation miteinander verbindet. Alliteration, Assonanz, Binnenreim und eine eigentümliche Vokal-Harmonie-Lehre wirken zusammen. Am treffendsten hat Friedrich Nietzsche dieses Verfahren beschrieben: „das Zurückrechnen mit der Schwere und Leichtigkeit der Silben, das Vorausrechnen, zugleich das Analogie-suchen von der Schwere des Gedankens mit den lautlichen resp. physiologischen Kehlkopf-Bedingungen geschieht zugleich.“ Demnach haben wir es hier mit einem alternativen Sinngebungsverfahren zu tun, in dem das Sprachmaterial nicht als Mittel zur Bedeutungsproduktion genutzt wird, sondern Macht und Form des Bedeutens in sich selbst trägt, um es in ihre Konstellationen zu entwickeln. Demzufolge werden derartige Gedichte zwangsläufig mit der herkömmlichen Grammatik, ihren (Ver)Beugungen und Unterjochungen, zusammenstoßen, am heftigsten mit dem Gebilde, in dem diese Grammatik gipfelt: dem Satz und seinen Zeichen.

Sehen wir das Gedicht, mit dem wir begonnen haben, daraufhin noch einmal  an. Es besteht aus zwei Textblöcken, die einen dritten mit Gedankenstrichen einhegen. Bildet der erste einen Satz? Nein. Ließe sich ein Satz aus ihm herausbilden? Ja. Man müsste nur nach „spüren“ ein Ich einfügen: Ich drifte schon schlingre dir zu durchs zerklüftete: ich höre. So ergäbe sich ein Bewegungs-Bild, das Übertragung, Metaphorik inszeniert und präzis figuriert. Wohlgemerkt: Dieses Ich steht nicht da. Der Text weist auf dessen Möglichkeit hin, er legt es dem Lesen nahe, aber er setzt es nicht. Wer es setzt, tut das auf eigene Verantwortung. Und der Anfang? „Nur an den Schürfstellen ausgelöst stehn, spüren“ – Wer? Wo? Was? Diese anderthalb Verse verlangen beinahe schmerzlich nach ihrer Ergänzung zum Satz, zur Erörterung, zur Erklärung; das Gedicht aber belässt es beim Schmerz, genauer: es überlässt ihn den Lesenden, um ihn zu ertragen oder zu tilgen. Dieses Verfahren, das mir das poetische Grundmuster in „münden – entzüngeln“ zu sein scheint, wiederholt sich variierend im zweiten Textblock. Gedichte dieser Art meiden den Satz, sie vermeiden seine Bestimmungsmacht, wie sie in der Spannung zwischen Subjekt und Prädikat angelegt und aufgehoben ist, weisen aber eben dadurch ständig auf beide und ihr Umgang forderndes Fehlen hin. Der Casus rectus, der Nominativ, der den Dingen grade gegenübersteht und sie sich aneignet, indem er sie bei ihrem Namen nennt, wird entmächtigt und muss den Casus obliqui Platz machen, die sich in die Dinge verbeugen, um sie so miteinander  ins Gleiten, ins Be-Gleiten zu bringen, das die Verben nicht stauen, sondern entfalten.

Eine wesentliche Rolle in diesem Verfahren spielen die Satzzeichen, die in einer „Satzzeichen-Rochade“, wie Anja Utler sich in ihrer Münchner Rede über Lyrik und LeserInnenschaft ausdrückt, ihre Positionen und damit ihre Funktionen ändern. Dass der Punkt, das Satz-Zeichen schlechthin, durchgängig fehlt, erstaunt nicht mehr. Das Komma, im Deutschen sonst ein Syntax-, ein Sinn-Zeichen, markiert jetzt Zäsuren, Merkmale des Innehaltens, die jeden beginnenden Satz-Fluss schon im Ansatz unterbrechen. Der Doppelpunkt, das häufigste Zeichen, den wir als Signal einer sich ankündigender Pointe, Eröffnung, Lösung zu nehmen gewohnt sind, weckt hier diese Erwartungen nur, um sie in ganz anderer Richtung zu erfüllen: Er staut die Wortfolge, warnt vor unbekümmertem Fortgang und hält ihn überall dort an, wo er eben in die Satzform münden will. Gedankenstriche unterbrechen so sich verflechtende, verschiebende, vorwärts und rückwärts drängende Verse mit Sätzen, Stichworten, Erinnerungen aus der benennenden, bestimmenden, satzfesten Alltags-Sprache, von denen die Sprache des Gedichts sich stets umgeben weiß und denen sie immer wieder Einlass bietet. Schließlich: Welches Gedicht-Band hält einen solchen Gedichtband zusammen? Ich zitiere die kleine Notiz über dem Copyright-Vermerk: „Die Umschlagzeichnung zeigt den Lauf der Naab [eines Nebenflusses der Donau, Vf.] in der Gegend um Schwandorf, dem Geburtsort der Autorin.“

Gedichte dieser Art vermitteln die Lesenden mit ihrer Sprache so, dass sie nicht umhin können, sich für jede kaum beachtete Partikel, für jedes kaum wahrnehmbar vorbeihuschende Pronomen Wort für Wort verantwortlich zu wissen, weil sie sich aufgefordert finden, die Rede des Gedichts durch ihnen eigentümliche Mit- und Gegenrede zu ergänzen. „Das Gedicht“, sagt Paul Celan in seiner Meridian-Rede, „[...] braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.“ Das tun auch Anja Utlers Gedichte. Aber sie werden nur beredt, wenn das Gegenüber antwortet, wenn es ihnen in eigener Sprache ent-spricht. Mit den Worten der Autorin: „Im Gedicht geschieht das, was ich sage; es geschieht das, was ich mir sage.“


Basel, im März 2014

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