Direkt zum Seiteninhalt

Anja Kampmann: Die schmutzige Wäsche des schmelzenden Schnees

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Monika Vasik

Anja Kampmann: Die schmutzige Wäsche des schmelzenden Schnees. Adam Zagajewski – Poet der Zärtlichkeit und des Staunens. Reihe Zwiesprachen. Heidelberg (Verlag Das Wunderhorn) 2024. 32 Seiten. 18,00 Euro.

Perspektiven


Ende Jänner hielt Anja Kampmann in der Reihe Zwiesprachen eine Rede im Lyrik Kabinett München, die nun als schmales Bändchen im Verlag Das Wunderhorn erschienen ist. Als Gegenüber für ihre Zwiesprache wählte sie den polnischen Dichter und Essayisten Adam Zagajewski (1945-2021) bzw. Texte aus Büchern, die zwischen 2003 und 2024 erschienen sind, sowie Zitate aus Interviews. Erfreulicherweise würdigt sie in ihrer Rede auch die Übersetzungsarbeit von Renate Schmidgall und Karl Dedecius, die ihr eine Brücke aus dem Polnischen ins Deutsche errichteten, denn erst deren „hervorragende Arbeit“ machte die Auseinandersetzung mit dem Dichter möglich.

Denke ich an Adam Zagajewski, denke ich an den politischen Dichter, den kritischen Oppositionellen, der lange Zeit in Polen nicht publizieren durfte, an einen, der sich für das Religiöse und Mystische interessierte, sich europäischen Kulturen und Traditionen in seinen Texten widmete oder Momenten des Alltags, aber auch an den melancholischen Skeptiker, den Exilanten und Wanderer zwischen den Welten, der Einsamkeit gut kannte. Nicht jedoch sah ich ihn als „Poet(en) der Zärtlichkeit und des Staunens“ und war gespannt auf Kampmanns Ausführungen.

Eine Rede ist zeitlich limitiert, erlaubt aber ein pointiertes Eingehen auf Aspekte, die durch das eigene Interesse und den persönlichen Zugang geprägt sind. Kampmann will in ihrer Rede dem Geheimnis von Zagajewskis Gedichten nachforschen, deren Zauber, der für sie allerdings „undefinierbar“ sei [S. 7], sowie deren Kraft, die aus den uns „geläufigsten Wörtern“ stamme und dennoch „etwas zum Leuchten“ bringt. Dem Geheimnis nähert sie sich über das Visuelle, den Bildwelten des Dichters, und über das Auditive, den Klang seiner Poesie. Sie zitiert aus seinem 2004 publizierten Aufsatz Beginn des Erinnerns. Empathie, Einfühlung, so der Dichter, sei für ihn eine „ästhetische Kategorie“ und die erste Schicht eines Gedichts. Es brauche die „Zärtlichkeit für die Welt“, um Nähe herzustellen, und „Verständnis für die kleinen und großen Akteure des Kosmos“, um die Welt in ihrer Vielschichtigkeit poetisch zu erfassen. Schade, dass Kampmann diesen Gedanken nicht weiter ausführt, in ihrer Analyse leider wenig präzis und konkret wird. Manchmal greift sie zu Plattitüden („Egal was wir erzählen, Literatur sollte immer ein Fest sein“) und eigenwilligen Sätzen wie: „Auf eine Art dürfen wir im Staunen bleiben, als hätten wir soeben einen Zauberladen betreten. Den Zauberladen unseres Lebens.“ Auf eine Art – welche? Was ist mit dem Zauberladen Leben gemeint? Kampmann kommentiert selbst mit: „Ist das nicht ein bisschen wolkig“?, und fragt weiter:

„sollten wir nicht auf die historischen und politischen Dimensionen von Zagajewskis Schreiben eingehen? Ja, ein wenig – aber nur so weit, dass der Zauber nicht verdeckt wird.“

Das widerspricht dem Titel ihrer Rede und ist zweifach erstaunlich!
Zum einen beginnt Kampmann mit dem Bild des schmelzenden Schnees, unter dem hervorkommt, was eben noch verdeckt war. Man sieht den schwindenden Glanz des verschmutzten Schnees, dessen allmählich dunkler werdende Ränder „und darunter den Dreck der Geschichte“. Sie verbindet dieses Bild mit einem Vers des Dichters, denn mit diesem Dreck der Geschichte gingen „die Scham, die Trauer, die Müdigkeit [zit. AZ]“ einher.
In Kampmanns erstem, 2016 erschienen Lyrikband „Proben von Stein und Licht“ verwendet sie ein ähnliches Bild: „wir lernen das erinnern und die zeiten / zu suchen im eis partikel und schichten“. Hier das Eis, in der aktuellen Rede der Schnee, die beide etwas verbergen und beim Schmelzen Verdecktes freigeben. Deutliche Parallelen zu Gedichten Adam Zagajewskis liegen auf der Hand. In beider Texte werden immer wieder historische und politische Dimensionen verdichtet, „all die gewundenen alten Geschichten [zit. AK]“, ihre Auswir-kungen und die Frage, wie man damit heute umgeht. Beiden gelingt es, in ihrer Poesie mit wenigen Worten Atmosphären zu schaffen, beide operieren mit dem Begriff „Licht“ als Widerpart zur Dunkelheit, um etwas genau zu sehen, etwas zu erhellen und auszuleuchten, bzw. mit dem Wort „Glanz“, z.B. wenn es bei Zagajewski heißt:

„In den Straßen und Alleen meiner Stadt
arbeitet lautlos und eifrig die Dunkelheit.
Poesie ist die Suche nach Glanz.“
Reichliche Anknüpfungspunkte also. Wie viel aufschlussreicher und ergiebiger hätte eine Auseinandersetzung mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden sein können, statt diese in der Rede nur verhalten anklingen zu lassen und sich argumentativ in einem ziemlich nebulösen Zauberladen zu verlaufen.

Zum anderen irritiert Kampmanns Wahl der Perspektive. Das Präfix „zwie“ ist vom Zahlwort zwei abgeleitet, eine Zwiesprache daher eine „Zweisprache“, ein Gespräch zweier Teilnehmer*innen, wobei das Gegenüber nicht anwesend sein muss, sondern erinnert oder imaginiert wird. Zu erwarten wäre die Ich-Perspektive, mit der subjektive Bezüge und Überlegungen zu Zagajewski und seinem Werk dargelegt werden. Dieses Ich kommt in der Rede aber wenig vor, etwa auf der ersten Seite, wenn Kampmann erklärt:

„Heute bin ich hier, um mich in den Dienst von Adam Zagajewski zu stellen. Wege freizuschaufeln, die in seine Gedichte führen, in den Glanz und hin zu dunkleren Schichten Erde darunter.“

Dieses Ich will selbstbewusst schaufeln. Doch es kratzt bloß hier und dort an Oberflächen. Und es tritt in den Hintergrund, begegnet uns gelegentlich in Phrasen wie „glaube ich“, „denke ich“, zuweilen mit dem Zusatz „vielleicht“ oder „manchmal (denke ich)“, oder in der Verwendung des Konjunktivs „Ich würde denken“, während das Denken real gerade stattfindet. Statt aus der Ich-Perspektive zu reden, wechselt Kampmann in die Wir-Perspektive, die ich für ungewöhnlich halte. Den Autor*innenplural kenne ich u.a. aus der Wissenschaft, in der es schlüssig ist, dass eine Arbeit, an der mehrere Wissenschaftler*innen beteiligt sind, in der Wir-Perspektive verfasst und präsentiert wird. In einer Zwiesprache ist diese Wahl der Perspektive für mich nicht plausibel. Denn es gibt kein gemeinsam arbeitendes, denkendes und handelndes „wir“, das sich zu Adam Zagajewski und seinem Werk verhält, sondern eine Autorin, die ihre subjektive Lesart äußert. Als Rezipientin hege ich eine Abneigung gegen dieses „wir“ und damit die Eingemeindung in ein (homogenes) Kollektiv, auch gegen Kampmanns gelegentlich appellativen Gestus. Nicht ich staune, sondern die Autorin, vielleicht auch Zagajewski, wovon ich in dieser Rede leider kaum etwas erfahre. Ich kann zudem mit dem Begriff Zauberladen nichts anfangen. Ich wäre allenfalls bereit, mich von Kampmann in ein kollektives „wir“ eingliedern zu lassen, das „auf die historischen und politischen Dimensionen von Zagajewskis Schreiben“ eingeht und sich in „dunklere Schichten“ vertieft, ohne dabei aber auf irgendeinen undefinierten Zauber Rücksicht nehmen zu müssen. Schlüssiger scheint mir dennoch die Perspektive eines beherzten Ichs.


Zurück zum Seiteninhalt