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Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

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Barbara Zeizinger

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt. Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2023, 355 Seiten. 25,00 Euro. ISBN 978-3-518-43126-9

Der Fluss, der Krieg und die Gegenwart


Lubko, der Fährmann, kennt den Fluss Bug ganz genau. Er weiß, wo es Strudel und Sandbänke gibt, dass das linke Ufer nach Schlamm und Weiden riecht, während auf der flachen rechten Seite Tiere weiden, deren Geruch dort in der Luft hängt. Vor allem weiß er, an welchen Stellen, er die Menschen absetzen kann, die aus unterschiedlichen Gründen über den Fluss fliehen wollen. Seit dem sogenannten Hitler–Stalin Pakt von 1939 bildet der Fluss nämlich die Grenze zwischen dem östlichen Polen und der Sowjetunion, und damit sind wir schon mitten in der Geschichte, die der polnische Autor Andrzej Stasiuk in seinem neuen Roman Grenzfahrt erzählt.

Die Handlung beginnt im Juni 1941, kurz vor dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion. In den Dörfern und Städtchen, deren Namen teils real, teil erfunden sind, herrscht eine angespannte Stimmung, und anhand von drei Handlungssträngen zeigt uns der Autor, was der Krieg für die Menschen bedeutet. Was er mit ihnen und aus ihnen macht.

Da gibt es den Zugführer Siwy, der mit einem fünfzehnjährigen Jungen, der sich ihm angeschlossen hat, im Gras versteckt liegt und den Einmarsch der deutschen Armee verfolgt.

Von Hruszowa her hörten sie ein Dröhnen. Ein tiefes schweres Grollen aus dem Westen. Es war wie ein aufziehendes Gewitter, aber es glitt direkt über die Erde und ließ sie erbeben. Ein Beben, das diesem Landstrich fremd war, der aus Holzhäusern, Stroh, Vegetation, feuchten Weiden und vollgefressenen Schweinen bestand.

Der nationalistisch und antisemitisch eingestellte Siwy ist der Kommandant einer fünfköpfigen Gruppe, einer Mischung aus einer Art Partisanen und Heimatarmee. Sie wollen Polen gegen die deutschen Invasoren, gegen Russen und Juden verteidigen und an ihnen zeigt Stasiuk, wie die Situation Menschen immer gewalttätiger werden lässt. Wobei die atemlose Handlung oft mit poetischen Beschreibungen der Natur, der Landschaft abwechselt.

»Wir sind im Untergrund, verdammte Scheiße, und können nicht herumbrüllen, wenn ringsum der Feind lauert.«



Dann ist da noch der schon oben erwähnte Lubko, der Fährmann. Er wohnt als Knecht bei der Witwe Marysia, auf deren Hof sich die Deutschen bis zum Kriegsbeginn einquartiert haben. Diese kümmern sich allerdings hauptsächlich um sich selbst, pflegen ihre Waffen und Fahrzeuge für den geplanten Einsatz. Und Lubko ist keineswegs abgeneigt, mit ihnen Geschäfte zu machen.

Die Mondsichel war golden. In vollkommener Stille hing sie in der Nacht, über der schwarzen Landschaft, und bestäubte den reglosen Fluss.

So beginnt ein Kapitel, doch diese poetische Beschreibung täuscht, denn ein paar Zeilen weiter kauert das jüdisches Geschwisterpaar Doris und Maks am Ufer. Ihr Schicksal bildet den dritten Handlungsstrang. Sie leben im Wald, in ständiger Gefahr von den Deutschen aufgegriffen zu werden. Sie wollen in die Sowjetunion, in die jüdische autonome Oblast Birobidschan, aber dazu müssen sie über den Fluss. Für ihre Angst findet Stasiuk starke Bilder. Wie der gesamte Roman von Renate Schmidgall hervorragend übersetzt.

»Was ist das?«, fragte sie.
»Ein Ziegenmelker. Der Todesvogel.«
»Was?«
»Ein Ziegenmelker. Er begleitet die Seelen der Toten. Oder er entführt sie.«
»Wie sieht er aus?«
»Das weiß man nicht. Es hat ihn niemand gesehen.«
»Eine Art Charon?«

Diese drei Erzählstränge wechseln sich ständig ab, berühren und verschränken sich. So weigert sich Lubko, die Geschwister überzusetzen, nicht nur, weil die Nächte zu hell seien, sondern auch weil er Angst vor Siwy hat, der ihn fast erschießt und ihm vorwirft, er würde zu vielen Jidden zur Flucht verhelfen. Dafür versteckt Marysia Doris und Maks bei sich in der Scheune und Lubko hilft Siwy, einen Hauptmann über den Fluss zu bringen. Am Schluss sind alle bei Marysia. Nun beginnt tatsächlich der große Krieg, aber auch bei den Protagonisten kommt es zur Katastrophe. Die Geschwister werden entdeckt, brutal behandelt, und zwei aus Siwys Gruppe von eigenen Leuten umgebracht.

Die eigentliche Grenzfahrt unternimmt allerdings ein namenloser Ich-Erzähler, der sich mit seinem dementen Vater auf Spurensuche begibt und herausfinden will, was 1941, als sein Vater sechs Jahre alt war, wirklich geschehen ist. Er will in alten Zeiten wittern, sucht nach Stellen, nach Brücken, Häusern, wo die Protagonisten gewesen sein könnten. Sein Vater hat in der Gegend gewohnt und der Erzähler selbst seine Kindheit dort verbracht. Überhaupt spricht er wiederholt vom Reich meiner Kindheit.

Das Reich meiner Kindheit, wo der Fluss die Grenze verlässt und nach Westen biegt. Das Reich der Kindheit meines Landes.

Somit sind diese Ereignisse nicht nur eine individuelle Erfahrung, sondern für ihn die Folie für die polnische Gegenwart. Da diese sich allerdings als zerbrechlich erwiesen hat, ist es ihm wichtig, die sichere Vergangenheit darüber zu legen. Um die Vergangenheit für sich selbst nutzbar zu machen, muss er sie neu imaginieren. Es darf nicht sein, dass die Vergangenheit wie bei seinem dementen Vater in der Vergessenheit versinkt. Als Ich-Erzähler, als Autor, als Stasiuk will er sie mit Worten retten.

Doch vielleicht kann man sich eine fremde Vergangenheit nicht einfach anhören, sondern muss sie selbst neu erzählen, um sie verständlich zu machen, um sie zu verwandeln, für den eigenen Gebrauch nutzbar zu machen. Was sollen wir mit einem fremden Leben, wenn es unseres nicht berührt.

Durch diese zweite Erzählebene, die kunstvoll zwischen den historischen Ereignissen steht, bleiben diese nicht in der Vergangenheit, sondern Stasiuk gelingt es, ihre Bedeutung für die Gegenwart kritisch zu beleuchten.


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