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Andrew McMillan: Physical

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Stefan Hölscher

Andrew McMillan: Physical. Gedichte. Deutsch, englisch. Übersetzt von Mazlum Nergiz und Richard Stoiber. Berlin (März Verlag) 2023. 120 Seiten. 26,00 Euro.

verheddernd in dem undurchdrungenen Fleisch des anderen


Acht Jahre hat es gedauert, bis der ursprünglich bei Jonathan Cape erschienene Gedichtband „Physical“ von Andrew McMillan seinen Weg in den deutschsprachigen Raum gefunden hat. Vor wenigen Wochen nun ist der Band mit den von Mazlum Nergiz und Richard Stoiber übersetzten Texten und zugleich den englischen Originalen im März Verlag mit einem zum Inhalt kongenial sinnlichen Coverbild erschienen. Für seinen Debutband hat der 1988 geborene McMillan eine ganze Reihe von Preisen erhalten, besonders den damit zum ersten Mal an einen Gedichtband vergebenen Guardian First Book Award sowie auch den Somerset Maugham Award, den Eric Gregory Award und den Northern Writers’ Award.

Was ist herausragend an „Physical“? Vielleicht fällt den lyrikkundigen Leser*innen zunächst mal auf, was hier nicht herausragend ist: Weder sind die Texte sprachlich experimentell oder besonders innovativ, noch zeichnen sie sich durch formale Finessen, wie etwa das virtuose Spiel mit strengeren Form-elementen inmitten moderner Textgestaltung, aus. McMillans Gedichte kommen prosanah und zugänglich daher. Angeordnet sind sie zum größeren Teil in Gebilden mit endreimfreien Strophen gleicher Länge, zum Teil aber auch fließtextartig. Die meisten Gedichte übersteigen nicht den Umfang einer Seite. Fast alle haben es mit dem „Körperlichen“ zu tun, genauer gesagt dem männlichen Körper als Ziel des Begehrens, aber zugleich auch Objekt der Fragwürdigkeit.
      Schon der erste Text, JAKOB MIT DEM ENGEL ist hier prototypisch. Sein Anfang lautet so:

wörtlich genommen passiert es einfach so wie das Wetter
oder der Aktienmarkt passiert
sich verheddernd in dem undurchdrungenen Fleisch des anderen
sich herumschlagend mit der stets wechselnden Frage nach dem Körper des anderen
bis der Morgen über beide hereinbricht und noch immer ihre Kraft
nichts Weiches an den Bäuchen kein bisschen hängt schlaff herunter
wie altes Muskelgewebe
und brennend hinterher oder kaum laufen könnend hinterher
oder keinen Namen nennen denn Namen würden eine Geschichte hinzufügen
und Fleisch und Blut von jemandem zu schmecken
ist etwas Unzeitgemäßes

Ganz schnörkellos, ganz direkt, ganz glaubwürdig klingend, verhandelt McMillan hier das „einfach so wie das Wetter“ passierende „sich Verheddern“ in der sexuellen Begegnung schwuler Männer, die „brennend hinterher oder kaum laufen könnend hinterher“ nicht einmal den Namen des anderen kennen oder auch nur wissen wollen. Mcmillans Gedichte haben nichts Gefühliges, Kitschiges, Dramatisierendes oder umgekehrt spröde Konstruiertes an sich. Sie sprechen direkt und gleichzeitig poetisch, oft in einer Melange von Alltagssprache, sexualisierter Sprache, assoziierten Bildern und literarischen Bezügen. Und die so entstehende Synthese ermöglicht es ihnen auch, über Dinge zu sprechen, die lyrisch gar nicht so einfach auszudrücken sind, wie etwa WÜRGEN:

ist das hier nicht genau so wie das Beste sein sollte?
den Körper zu dem Punkt führen an dem
er fast zerbricht und dann zurückkehren
dein Vertrauen in die
wundersame Zerbrechlichkeit
des Selbst wiederhergestellt
die Nacht in der ich uns fast beendet habe
es war dein Schluchzen es brachte mich zurück
wir redeten uns selbst zusammen
und am nächsten Tag deine Hand noch immer
um meinen Hals tragend fiel es mir schwer
zu schlucken jeder Bissen
war Arbeit ich bemerkte
die Maschinerie meines eigenen Körpers
konnte Teile von mir fühlen
die für gewöhnlich unbemerkt blieben
nachdem deine Hand an meiner Kehle war
begriff ich die Lust
Möglichkeiten zu besitzen die sich niemals
ganz erfüllen fast zerbrochen
fast weg aber entscheide mich
es auszuhalten

Das Universum der zumeist ambivalenten Facetten von männlicher Körperlichkeit, über das McMillan spricht, wird dabei schon in den Überschriften der Texte deutlich, wie etwa:  URINIEREN, DIE MÄNNER WEINEN IM FITNESSSTUDIO, MUSKELPROTZ, YOGA, DIE SCHULJUNGEN, BILDSCHIRM, SATURDAY NIGHT, WÜRGEN, WAS MÄNNER NEH-MEN, WENN’S DIE NÄCHTE NICHT GÄB etc.

Für nicht heterosexuelle oder nicht cis-geschlechtliche Männer dürfte Männlichkeit im allgemeinen aufgeladener und fragwürdiger sein als für Männer, die sich ihres Geschlechts und ihrer heterosexuellen Orientierung unumstößlich sicher zu fühlen meinen. Für das lyrische Ich in „Physical“, dem auch erotische Grenzerfahrungen vertraut sind, die so buchstäblich breathtaking wie eben WÜRGEN sein können, stellen sich die Fragen nach dem Männlichen umso heftiger und existenzieller. In McMillans Gedichten erscheint der Mann dabei gleichzeitig „muskel-protzig“ stark und verletzlich und zerbrechlich. Er erscheint aggressiv-expansiv und gleichzeitig, so könnte man mit Sigmund Freud denken, ständig bedroht von der Angst oder dem verdrängten Wunsch der Regression, der Reise zurück in ein quasi-uterales passives Umfangensein.   

Nicht alle Texte in „Physical“ sind gleichermaßen spannend. Einige erweisen sich als etwas schlicht. Nichtsdestotrotz hat der gerade mal 60 Seiten auf Deutsch und 60 Seiten auf Englisch umfassende Gesamttext eine hohe Stringenz und Eigenstimmlichkeit. Übersetzer und Verlag haben sich dabei dafür entschieden, zunächst alle Texte auf Deutsch und dann die Originale auf Englisch zu bringen. Natürlich hat das den Nachteil, dass man für den direkten Vergleich blättern muss. Der Vorteil ist aber, dass man so jeweils tiefer eintauchen kann in den jeweiligen Fluss der jeweiligen Sprache. Und so habe ich den Band denn auch zweimal gelesen, einmal auf Deutsch und dann auf Englisch bis zum Finale:

FINALLY

a day will come when
woken by the xylophone
of sunthroughblinds
you’ll realise

that the beach was not the place
where horses tore the sand
to ribbon

that the scent of him has lifted
from the last of the sheets
that he isn’t coming back

that it hasn’t rained
but the birds are pretending that it has
so they can sing

Dass die Vögel so tun, obwohl es nicht geregnet hat, als ob es dies hätte, um singen zu können, lässt sich wohl auch auf den Dichter übertragen, der zu „singen“ beginnt, auch wenn er sich verlassen fühlt und neues Glück noch nicht in seinem Körper fühlbar ist. Manche Wendungen in den „Gesängen“ von „Physical“ haben dabei durchaus den Charme lyrischer Aphorismen, zum Beispiel:

Intimität bedeutet
den genauen Geschmack von Schlaf
im Mund eines anderen beim Aufwachen zu kennen

wie sehr ist Kämpfen nur
das Bedürfnis einen anderen Mann zu berühren?

jedes Mal wenn du dich in jemand Neues verliebt hast
hast du dich wieder und wieder in den Ersten verliebt

„Physical“ ist „körperlich“, aber nirgendwo ist das Körperliche dem Psychischen so nah wie im Begehren. „Physical“ ist ein Buch über die atemberaubende Macht und die innere Zerrissenheit unseres Begehrens.


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