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Andrew Duncan: Radio Vortex

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Erec Schumacher


M U T M A S S U N G E N    Ü B E R    A N D R E W    D U N C A N


      My poetry is not myself (Andrew Duncan)


Radio Vortex.

Ah! we see every trait!

Wer sich auf diesen von Norbert Lange herausgegebenen Sammelband mit dreißig zumeist mehrseitigen long poems aus dem Werk von Andrew Duncan (*1956) einlässt, darf sich auf komplexe Strukturen und Sprachfelder gefasst machen, sollte zuvor abwägen, ob er die Brüche, Spannungen, das Dazwischengeschobene, die Interferenzen aushalten will. Duncan macht es dem Leser und sich selbst nicht leicht. Und doch, einmal angefixt, in Schwingung versetzt und getrieben von narrativen Aktions- und Leuchtspuren, vermitteln sich die ausufernden Geflechte, Mycelien, die sich über weitläufige Raum- und Zeit-Kontinua erstrecken, mitunter auf eine erstaunlich zugängliche Weise. In ihrer doppelbödigen Struktur sind Duncans Texte durchdrungen von postmoderner Offenheit und permanentem Perspektivwechsel. Zugleich verweigern sie sich dem „Ende der großen Erzählungen“, begeben sich hartnäckig auf die Suche nach einem Narrativ, einem breiten Weltzusammenhang, oftmals im Scheitern, im Inhumanen der waste lands, aber durchaus auch im Mystischen. Sie verweisen dabei immer auf das Tellurische, das Einfache, Elementare, Körperhafte.

Es handelt sich in Duncans Werk um ein poetisches Programm, das sich dezidiert als postkolonialistisch versteht, das gesellschafts- und tagespolitisch Stellung bezieht und die zugrundeliegenden historischen Zusammenhänge und theo-retischen Diskurse offenlegt. Sprache in Bewegung, im Transit, freigesetzt und zugleich wieder verschnürt im Plot rasanter Blickfolgen. Kartografierte Sprachräume. Einflüsterungen im Modus head stream of dark air. The world buckles / we represent it, gritting our teeth and clothing our eyes. / Some people can´t even see it and / ah! we see every trait! Wer sich einläßt, ist eingeladen, jede Einzelheit in ihrem oszillierenden Umschwungpotential zu erkennen, zu sehen - und selbst wenn der Leser sie nicht sieht, sie übersieht oder einer falschen Fährte folgt, irritiert ist – so schärft er jedenfalls mit Duncans Texten sein Sehvermögen.  

Es sind Dunkelfeldbeleuchtungen. Genaugenommen unternimmt Duncan große Anstrengungen, an den Lichtverhältnissen herumzuexperimentieren, um für den Leser eine optimale Lichtausbeute zu erzeugen.

Heteronyme eines crumbling empire

Eine Schlüsselfigur ist Fernando Pessoa, angerufen als Lusitanian Angel. Das Gedicht korrespondiert mit einem zentralen Motiv von Duncan, dem des crumbling Empire. In dem Gedicht durchgespielt anhand einer Überblendung vom British Empire auf die portugiesische See- und Kolonialmacht unter Heinrich der Seefahrer, deren hinweggefegte Glorie von Pessoa im Buch der Unruhe mit fatalistischer Emphase als Phantomschmerz heraufbeschworen wurde. Dieses Gedicht ist ein gutes Beispiel für Duncans Technik, den Text in weiten Bögen zu öffnen, Haken und Kapriolen zu schlagen, beiläufig Anspielungen etwa auf T.S. Eliots The Waste Land einzuflechten, die Matrix zu verschieben, zu erweitern, um dem Leser plötzlich einen enigmatischen Episodenführer einer series of novels vorzusetzen. Dort wiederum finden sich überraschenderweise Verweise auf Lewis Carroll, auf Irma Vep, einer vampiresken Juwelendiebin aus einem französischen Stummfilm. Jemand singt einen Song, den es gar nicht gibt: „Hearful of Soul“, allenfalls als Verschreiber des Yardbirds-Klassikers Heart Full of Soul recherchierbar. Verständlich wird das alles aber als Vergegenwärtigung von Pessoas Spiel mit Identitäten und Heteronymen, dessen Autorenhaltung er wie folgt zusammenfasst: My poetry is not myself. Jene Hommage an Pessoa ist nicht frei von Kitsch, aber von anrührender Intimität und analytischer Evidenz zugleich. Sie kulminiert in den Versen: is the magnitude dissolved in my eyes / no larger than a bud; / when my egoism is like a machine and like a Convent girl, / the marble head of Vergil appears in my room / and the lonely, drunken, Pessoa.  

Kartografien der Zerstörung

Überhaupt ist Duncans Sinn für Topologie sehr ausgeprägt. Seine Techniken der Raumgenerierung sind gepaart mit Zeit-, Kultur- und historischen Sprüngen. Mit Überschreitungen. Ausbrüchen. Look traveller, mag der Leser mit ihm ausrufen. Hier Venedig, Lower Egypt, Finnic tundra, dann zurück nach England the brand: Stafford- and Lancastershire. Moors in Hell. Floodbed of Avon. Camden High Street. Kurze Stippvisiten nach Heligoland, Seeland, Dogger. Silesia, The Rhine, the Atlantic Shore. Jamaika Docks. Doch wer Lonely-Planet-Impressionen erwartet, könnte nicht falscher liegen. Zu versehrt sind diese aufgerufenen Orte: an island on the edge of the ocean waste. Und immer wieder Russland, Siberia(n wilderness). Beginnend mit Trotsky from Petrograd. Ein Gedicht, das etwas abfällt, weil es letztendlich in einer rein historischen Perspektive verharrt, vorstellbar als ein Reflex auf Orlando Figes historische Revolutions- und Bürgerkriegsepen. Eine Bewegungsabfolge der Zerstörung, der Selbstzerstörung, der Paranoia, von revolutionärer Gewaltverherrlichung, mörderischer Tod-den-***-Rhetorik, die mit Death for Trotsky absehbar endet. Ein Gedicht, das sich eine Spur zu kohärent um geschichtliche Verallgemeinerung müht, sich weitet in einem Völkerwanderungs-furor, nomadische Reitervölker, möglicherweise als Analogie zur Komintern, (als Phantasma?) eine rote Gefahr heraufbeschwört.

Sowjetisches und postimperiales Waste Land

Weitere Russland-Gedichte sind Martyrdom and Triumph of Sergei Korolev, einem legendären sowjetischen Raketenbauer, der verantwortlich war für die erste Interkontinentalrakete und den ersten Weltraumflug von Juri Gagarin; der selbst während der Zeit des Großen Terrors sechs Jahre Arbeitslager erleiden musste. On course for the boundless slightness. Komplexer sind die Three Graves betitelten Gedichte, die einen Bogen spannen von 500 v. Chr. über den von Stalin ausgerufenen Großen Vaterländischen Krieg bis Tschernobyl. Letzteres beginnt mit dem Vers: they wished to change human nature. Es rekapituliert den Einsatz der Liquidatoren als das letzte Aufbäumen eines kollabierenden regimes of lies. Hier wird auch die rigide Ablehnung ideologischer Konzepte deutlich, ihrer Verwüstungen, sei es unter dem Label Sowjetkommunismus, global Thatcherism oder einer culture of technology. Und noch ein Schlüsselmotiv kristallisiert sich heraus: forms of a fallen world. Suggestive Darstellungen apokalyptischer Szenarien, die oft an Andrej Tarkowski gemahnen: waste land, ocean waste, city of dead substances, etc. In dem Gedicht Light wird ein postexpressionistisches Endzeit-Szenario entworfen. Metal bursts into flame / the daystar blows up, grinding / iron into light. Apokalypse pur. Aber auch die Heraufkunft einer neuen Ordnung wird beschworen: an image of awesome size / without an image / aswirl / around the yolk of the flying threads. Mit der neutralen Stimme eines Chronisten wird in Vanished Tribe, Siberia eine leergefegte Tundralandschaft skizziert, ewiges Winterland, breath turns to ice. Nur die Reste einer Feuerstelle, etwas Salpeter-Asche zeugen noch von vergangener menschlicher Anwesenheit.

Millions died – in the ethographical museum

Das Gedicht In the Ethnographical Museum verzahnt das Thema Empire mit einer Topografie der Ausrottung und Unterdrückung. Millions died, so die katastrophale Bilanz des Kolonialismus: we cross countries whose names we don´t know / to burn whole cities and despoil holy shrines. Auch hier wird deutlich, dass Duncans Poetik sich dezidiert dem Politischen öffnet, und dies sehr konkret und mit geradezu aphoristischer Prägnanz. Ihn zeichnet ein Gespür für historische Zusammenhänge aus, die locker über Jahrhunderte springt, er verknüpft sie mit sozialer Realität und Alltagswirklichkeit. Duncan ist ein Virtuose in der Verschachtelung der Diskurse, ein Meister der Zuspitzung, der Pointierung, der Simultanität.  

Who the fuck is Andy-the-German

Wer ist jener seltsame Andy-the-German Servant of Two Masters in dem gleichnamigen Gedicht, jener theorist of stalking. Eine abstrus klingende Erklärung Andy, Mr Bundesverfassungsschutz is not Budweiser führt eher in die Irre. Und ritsch, ratsch steckt man mitten im America for the Americans. Auftritt Timothy McVeigh, Verschwörungstheoretiker und verantwortlich für den Bombenanschlag von Oklahoma City, dem Mitte der 90er 168 Menschen zum Opfer fielen. Duncan rekonstruiert dies mit seinem poetischen Repertoire sehr gekonnt, umklammert die Geschehnisse in der Horizontalen und Vertikalen. Verdichtet den Text immer oszillierender in fragmentierten Shortcuts, kreist um Gewalt, moralischen Konsens, Spurensuche, data excess, etc. Der Text deliriert in seiner politischen Evidenz. I´m gonna run to the City of Refuge. Es ist Elohim City, die Stadt Gottes, eine geschlossene Siedlung der rechtsextremen Christian-Identity-Bewegung, violent white supremacists, die immer wieder mit dem Oklahoma City Bombing in Verbindung gebracht wurden. Eine Gewaltphantasie. Überhaupt ist Gewalt ein sehr favorisiertes Thema von Duncan. Die dunklen Seiten Amerikas, seine Abgründe und Paranoia. Der Dolly Parton Theme Park, Trailerparkkulissen: schwerbewaffnete footsoldiers of the New Rights, redneck heads. Aber was hat es nun mit Andy two for one auf sich, dieser flüchtigen Gestalt? Andy, das Phantom. Der Strippenzieher? Am Ende bleibt nur Spekulation. Vanishing in plain sight, wie es an anderer Stelle heißt. So ist alles politisch, auch das Spekulative, das Fluidum des Verschwörungstheoretischen, ist Kommentierung tagespolitischer Geschehnisse. Twenty thousand people fired and I´ve made a career, heißt es lakonisch und treffend in Roots of a Revolution.  

Die Kehrseite der Postmoderne – poetologische Phantombilder

The Poet and the Schizophrenic verweist auf ein anderes Spiel. Vordergründig eine antagonistisch angelegte Gegenüberstellung zweier Personen, liegt der Verdacht nahe, dass das Schizophrene bereits im Dichter selbst angelegt ist und hinter einem Einwegspiegel abgeschoben und als Widerpart personifiziert wird. Der lakonische Vers you are regressive könnte genauso gut auf semi-kindliche Rollenspiele zurückverweisen, auf das flattrige Wechselspiel verschiedener sich überlappender Charaktere. Von daher auch die Vogel-Metapher, Zuschreibungen wie: I am post-modern, I am above you als die beiden Pole Hybridisierung und Hybris, im Wechselspiel und metonymisch. Am Ende inkorporiert der Dichter das Schizophrene als Opfer (like the sacrifice inside a god). Postmodernes Denken in einem archaischen Akt kurzgeschlossen. An dem Text, der in seiner poetologischen Brisanz nicht unterschätzt werden kann, wird so nebenbei auch das Problem der Übersetzung deutlich. Bereits im Titel klingt es im Deutschen wie die Ankündigung eines schlechten Witzes: trifft der Dichter auf den Schizophrenen. Wer You don´t move around much mit du stagnierst übersetzt, verkennt die sprunghafte Grunddynamik dieses ambivalenten Aneignungsprozesses. Das schlichte I inhalate inspiration verumständlicht sich zu einem sperrigen: ich atme schöpferischen Atem ein. Aus happiness wird Freudigkeit, I sue to the NHS for an audience mutiert bandwurmartig in: ich verklage das National Health System darauf, mich an ein Publikum zu überweisen, etc.  

Vortex is spiral channel for skitter of silver crab

In Gedichten wie Photographing the Ideal, Coastal Defenses of the Self, Les Paul´s Garage Studio oder On the Planting of a New National Forest in Staffordshire and Leicestershire variiert Duncan sein poetisches und szenisches Repertoire, die Bandbreite seiner Ausdrucksformen. In Summe überwiegen postindustrielle Kulissen, Szenerien einer ökologischen Katastrophe, ökonomischer Ausplünderung, globalen Klimawandels. The factories are empty and the streets / are full of sleeping people. Oder: why are people dying in the streets / it´s part of the price mechanism. Und dann Radio Vortex. Der faszinierendste, schillerndste Text. Als Vortex bezeichnet man in der Strömungslehre eine drehende Bewegung von Fluidelementen, vulgo einen Wirbel. Oder in den Worten von Duncan: vortex is spiral channel for skitter of silver crab. Die Komplexität dieses post-anthropozänen Gedichtes, die virtuose Eleganz, mit der Duncan Maschinentechnik und Naturgewalt auf verschiedenen Ebenen ineinanderschiebt, ist atemberaubend und bewegt sich auf allerhöchstem Niveau. Es flirrt, perforiert, schwirrt, pulsiert, donnert und kreischt, was das Zeug hält, eine vielschichtige Genealogie einer Augenblicksabfolge, Zwischenraumkaskaden von jeglicher menschlicher Zuschreibung entblößt, frei von psychologisierenden Deutungen, gespeist aus sehr heterogenem Material, vielleicht eine Vision, ein Schöpfungsakt reloaded, eine Souveränitätserklärung im Zeichen des Neumonds, ein enthumanisierter, all den wiederläufigen Dynamiken zum Trotz merkwürdig befriedet wirkender Gegenentwurf zu Charlie Chaplins Kampf gegen den Fordistischen Maschinenpark in Modern Times. Der US-amerikanische Dichter Charles Bernstein hat in den späten Siebzigern den New American Poets vorgeworfen, sie würden ausschließlich die conditions of our alienation beschreiben, nicht aber Wege skizzieren, wie diese zu transformieren seien. Möglicherweise erbringt Radio Vortex genau diesen Transformationsnachweis, nur das für die Menschheit kein Platz mehr vorgesehen ist. Spectre caught on empty paper leaf. Wahrscheinlich versteht sich die zitierte Nähe zu J.H. Prynne in Poems Unwritten, in Faint Exhaustion, One Sunday Night doch nicht nur als ein spielerisches Phantasma auf Ungeschriebenes, sondern als Desiderat. Duncans gedeuteter Entwurf einer post-anthropozänen Utopie könnte der Leser in Beziehung setzen zu J.H. Prynnes Gedicht “The Glacial Question, Unsolved”, ausgelegt als eine Utopie des Pleistozän, als eine Art Backup: We know where the north / is, the ice is an evening whiteness. / We know this, we are what it leaves: / the Pleistocene is our current scene, and / what in sentiment we are, we / are, the coast, a line or sequence, the / cut back down, to the shore.

Angel Exhaust

Abschließend noch der Hinweis auf Angel Exhaust, dem sehr lesenswerten Blog von Andrew Duncan. Er enthält elaborierte Texte u.a. über 2000 poets in the alternative poetry world; Celtoscepticism; Socialist poetry of 1950s; Remarks on gay sensibilty in poetry. Wer über eine entsprechende Ausdauer verfügt, wird hier eine ergiebige Quelle zur annäherungsweisen Erschließung weiterer internen Parameter und Erklärungsansätze für Duncans großartiges dichterisches Werk finden. Möglicherweise käme der Leser auch jenem ominösen Thuringian follower of Thomas Kling auf die Spur, in dessen Manier zu schreiben es Duncan ausdrücklich für Poems unwritten vorgesehen hat.

Das Faszinierende an Duncans Gedichten ist, dass ihnen immer mehrere Quellcodes eingeschrieben sind. So könnte beispielsweise das Gedicht Vanished Tribe, Siberia ohne weiteres beeinflusst sein von den Bilder- und Farbwelten eines Joseph Beuys, seinen Materialien und Requisiten sowie seinen Schlussfolgerungen einer neuen Weltordnung, nach der unser Geist ein ganz unvergleichlich viel größeres Gebiet umspannt als unsere Anschauung. Eine Bewegung auf ein Absolutes hin, das erst allen schöpferischen Kräften Sinn verleiht und zurückverweist auf magische und mythische Kulturen. Zeige deine Wunde, wie es Beuys ausgedrückt hat. Zeige die Wunden der Welt, so könnte man es auf Duncans dichterisches Werk übertragen.


Andrew Duncan: Radio Vortex. Gedichte. Hrsg. von Norbert Lange. Englisch / deutsch. Übersetzt von Konstantin Ames, Thomas Kling, Jan Kuhlbrodt, Norbert Lange, Ulf Stolterfoht, Barbara F. Tax, Hans Thill. Berlin, Rottenegg (Brueterich Press) 2016. 168 Seiten. 20,00 Euro.

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