Direkt zum Seiteninhalt

Andrej Belyj: Der Senator

Montags=Text
Andrej Belyj
Der Senator

Übersetzt von Alexander Eliasberg


Der Staubregen berieselte die Straßen und Prospekte, Bürgersteige und Dächer; er ergoß sich in kalten Strömen aus den blechernen Dachrinnen.
    Der Staubregen berieselte die Passanten und beschenkte sie mit Grippen; Influenza und Grippe drangen zugleich mit dem feinen Regenstaub hinter die hochgeschlagenen Kragen: des Gymnasiasten, des Studenten, des Beamten, des Offiziers und des Individuums; und das Individuum (auch ein Bürger!) sah sich griesgrämig um und wandte sein farbloses graues Gesicht dem Prospekt zu; das Individuum zirkulierte durch die Unendlichkeit der Prospekte, es überwand die Unendlichkeit, ohne zu murren – im unendlichen Strom gleicher Wesen –, mitten im Hasten, Dröhnen und Zittern der Droschken, dem melodischen Dreiklang der Autohupen und dem anwachsenden Tosen der gelbroten Trambahnen (deren Tosen dann allmählich wieder abnahm), im ununterbrochenen Geschrei der Zeitungsverkäufer, lauschend.
    Aus der einen Unendlichkeit floh er in die andere, bis er schließlich an den Quai stieß; hier endete alles: die melodische Autohupe, die gelbrote Trambahn und jedes Individuum; hier war das Ende der Welt und das Ende der Unendlichkeit.
    Dort aber, dort: Tiefe, grünliche Trübe; in weiter Ferne, scheinbar weiter, als wo sie zu liegen haben, ducken sich erschrocken die »Inseln«; die Erde duckt sich, die Gebäude ducken sich; und es scheint: gleich wird sich das Wasser senken und alles mit Tiefe und grünlicher Trübe überströmen. Über dieser grünlichen Trübe aber dröhnte und zitterte im Nebel verschwindend die schwarze, ach so schwarze Nikolaibrücke.
    An diesem trüben Petersburger Morgen wurde die schwere Tür eines vornehmen gelben Hauses plötzlich aufgemacht; die Fenster des gelben Hauses gingen auf die Newa. Ein rasierter Lakai mit goldenen Borten an den Aufschlägen stürzte aus der Tür und winkte dem Kutscher. Ein Paar grauer Apfelschimmel stürmte vor die Tür und rollte eine Equipage heran, die ein altadliges Wappen schmückte: ein Einhorn, das einen Ritter durchbohrt.
    Ein schneidiger Revieraufseher, der zufällig des Weges kam, machte augenblicklich ein dummes Gesicht und stand stramm, als Apollon Apollonowitsch Ableuchow im grauen Mantel und hohem, schwarzem Zylinderhut, mit steinernem Gesicht, das an einen Briefbeschwerer erinnerte, schnell aus der Tür trat und noch schneller in die Equipage stieg, im Gehen einen schwarzen wildledernen Handschuh anziehend.
    Apollon Apollonowitsch Ableuchow streifte mit einem schnellen, zerstreuten Blick den Revieraufseher, die Equipage, den Kutscher, die große schwarze Brücke und die weite Wasserfläche der Newa, hinter der so bleich die verschwommene, schornsteinreiche Ferne lag und von wo so erschrocken die Wassiljewskijinsel herüberblickte.
    Der graue Lakai schlug schnell die Wagentür zu. Die Equipage raste in den Nebel hinein; der zufällige Revieraufseher blickte noch lange, von allem Gesehenen erschüttert, über die Schulter in den schmutzigen Nebel, in dem die Equipage verschwunden war; und er seufzte auf und ging weiter; und bald war im Nebel auch die Schulter des Revieraufsehers verschwunden, wie in ihm alle Schultern, alle Rücken, alle grauen Gesichter und alle schwarzen nassen Regenschirme verschwanden. Auch der würdevolle Lakai sah hin; er blickte nach rechts und nach links, auf die Brücke und auf die Newa, hinter der so bleich die verschwommene, schornsteinreiche Ferne lag und von wo so erschrocken die Wassiljewskijinsel herüberblickte.
    »He! ... Achtung! ...«
    So schrie der Kutscher.
    Und die Equipage spritzte den Schmutz nach allen Seiten.
    Dort, wo der nasse Nebel allein in der Luft hing, erschien erst als matte Silhouette und senkte sich dann vom Himmel auf die Erde die schmutzige, schwärzliche Isaakskathedrale, allmählich trat das Reiterdenkmal Nikolais I. hervor; der metallene Kaiser trug die Uniform seiner Leibgarde; vor dem Sockel tauchte aus dem Nebel ein Nikolai-Grenadier in Bärenpelzmütze auf, der gleich wieder im Nebel verschwand.
    Die Equipage aber raste auf den Newskij-Prospekt.
   Apollon Apollonowitsch Ableuchow wiegte sich auf den Atlaskissen des Sitzes; von Nebel und Schmutz schieden ihn die vier senkrechten Wände; sie schieden ihn auch von den Menschenfluten und von den regendurchweichten roten Umschlägen verdächtiger Zeitschriften, die an der Ecke verkauft wurden. – Die Planmäßigkeit und die Symmetrie beruhigten die Nerven des Senators, die wie durch die Unebenheiten seines häuslichen Lebens, so auch durch die hilflose Rotation unseres Staatsrades aufgepeitscht waren.
    Harmonische Einfachheit war für seinen Geschmack bezeichnend.
   Über alles schätzte er den geradlinigen Newskij-Prospekt; dieser Prospekt erinnerte ihn an den Ablauf der Zeit zwischen zwei Punkten des Lebens; und noch an eines: daß alle anderen Städte nur unordentliche Haufen hölzerner Häuschen darstellten und daß Petersburg sich so scharf von ihnen unterschied.
   Der nasse, schlüpfrige Prospekt: die Häuser bilden hier eine planmäßige Reihe fünfstöckiger Würfel; diese Linie unterscheidet sich von der Lebenslinie nur in einer Beziehung: diese letztere hat weder Ende noch Anfang; die Mitte des Erdenwallens des mit dem höchsten Orden ausgezeichneten Senators entsprach dem Ende des Lebensweges vieler anderer Würdenträger.
   Begeisterung bemächtigte sich der Seele des Senators, sooft sein lackierter Würfel wie ein Pfeil die Linie des Newskij-Prospektes durchschnitt: er sah durch das Fenster die Numerierung der Häuser und das Zirkulieren der Menge; dort, von dorther leuchteten an heiteren Tagen aus weiter Ferne die goldene »Nadel« der Admiralität, die Wolken und ein Strahl des blutigen Abendrots; dort, von dorther leuchtete an nebeligen Tagen nichts.
   Dort aber lagen die »Linien«, die Newa und die »Inseln«. Wohl in jenen fernen Tagen, als sich hier aus den Sümpfen die hohen Giebel, Masten und Fahnenstangen, den ewigen grünlichen Nebel durchbohrend, erhoben, kam auf seinen Schattensegeln aus den bleiernen Fernen der baltischen und deutschen Meere der Fliegende Holländer nach Petersburg geflogen, um hier sein trügerisches Nebelland zu errichten und Wellen flüchtiger Wolken-»Inseln« zu nennen ... Apollon Apollonowitsch liebte die »Inseln« nicht: ihre Bevölkerung besteht aus Fabrikarbeitern, sehr rohen Menschen. Ein vieltausendköpfiger Menschenschwarm zieht dort jeden Morgen in die schornsteinreichen Fabriken und Werke; dort ist, wie er weiß, die Browningpistole im Umlauf und noch manches andere. Apollon Apollonowitsch dachte: die Bewohner der »Inseln« gehören zur Bevölkerung des Russischen Reiches; die Volkszählungen erstrecken sich auch auf sie; sie haben auch numerierte Häuser, Polizeireviere und amtliche Institutionen: unter den Inselbewohnern gibt es Rechtsanwälte, Schriftsteller, Arbeiter, Polizeibeamte; sie halten sich für Petersburger; sie sind aber Bewohner des Chaos und drohen der Hauptstadt des Reiches wie eine heraufziehende Gewitterwolke ...
    Apollon Apollonowitsch wollte nicht weiter daran denken: unruhig sind diese »Inseln«! Ach, wenn man sie zerdrücken könnte, mit einer riesengroßen Eisenbrücke an die Erde schmieden und in allen Richtungen mit Pfeilen von Prospekten durchbohren! ...
  Und wie er so träumerisch in die Grenzenlosigkeit der Nebel blickte, dehnte sich der Staatsmann plötzlich nach allen Seiten aus und schwebte auf einmal über dem schwarzen Würfel seiner Equipage. Und er hatte den Wunsch, daß die Equipage weiterrase; daß ihm die Prospekte einer nach dem anderen entgegenflögen; daß die ganze Kugeloberfläche des Planeten von Reihen schwarzgrauer Häuserwürfel wie von Schlangenwindungen umspannt werde; daß die ganze, von den Prospekten umspannte Erde in ihrem kosmischen Lauf die Unendlichkeit nach dem Gesetz der geraden Linie durchschneide; daß das Netz der parallelen Prospekte, von einem anderen Netz paralleler Prospekte durchschnitten, als ein System von Quadraten und Würfeln sich über alle Abgründe des Weltalls erstrecke: ein Würfel pro Kopf; daß ... daß ...
    Neben der Geraden wirkte auf ihn am beruhigendsten das Quadrat.
  Oft versank er ohne Gedanken in die Betrachtung von Pyramiden, Dreiecken, vierseitigen Prismen, Würfeln und Trapezen. Unruhe beschlich ihn nur beim Anblick eines Kegelstumpfes.
Die Zickzacklinie konnte er aber gar nicht ertragen.
   In der Equipage sitzend, ergötzte sich Apollon Apollonowitsch ganz ohne Gedanken an den viereckigen Wänden, am Aufenthalt im Inneren des vollkommenen, mit Atlas bespannten Würfels: Apollon Apollonowitsch war für Einzelhaft geboren; und nur die Liebe zur Planimetrie des Staates hatte ihn bewogen, sich ins Polyeder des verantwortungsvollen Postens einzuschließen.

Der nasse, schlüpfrige Prospekt wurde unter einem Winkel von neunzig Grad von einem anderen nassen Prospekt durchschnitten. Im Schnittpunkt der beiden Linien stand ein Schutzmann ...
   Die gleichen Häuser erhoben sich da, die gleichen grauen Menschenströme fluteten vorüber, und der gleiche grünlichgelbe Nebel hüllte alles ein. Gesichter mit gespanntem Ausdruck zogen vorbei; die Bürgersteige flüsterten und scharrten mit Gummischuhen; feierlich schwebten die Bürgernasen vorüber. Eine Unmenge von Nasen: Adler-, Enten- und Hahnennasen, grünliche und weiße Nasen; auch völlige Nasenlosigkeit schwebte mitunter vorbei. Die Menschen wogten einzeln, zu zweit, zu dritt und zu viert vorüber; ein steifer Hut nach dem anderen; steife Hüte, Federhüte, Mützen; Mützen, Mützen, Federhüte; Dreispitz, Zylinderhut, Mütze; Kopftuch, Regenschirm, Federhut.
  Parallel zu diesem laufenden Prospekt lief ein anderer Prospekt mit der gleichen Reihe Häuserwürfel, mit der gleichen Numerierung und den gleichen Wolken und mit dem gleichen Beamten.
 Es ist eine Unendlichkeit in den in die Unendlichkeit laufenden Prospekten mit der Unendlichkeit der in die Unendlichkeit laufenden, sich schneidenden Schatten. Ganz Petersburg ist die Unendlichkeit eines in die n-te Potenz erhobenen Prospektes.
Hinter Petersburg ist aber nichts.

Auf der Wassiljewskij-Insel, in der Tiefe der siebzehnten Linie, blickte aus dem Nebel ein riesengroßes graues Haus; vom Hof aus führte eine schmutzige schwarze Hintertreppe hinauf; viele Türen gingen auf diese Treppe. Eine von ihnen wurde aufgemacht.
   An der Schwelle zeigte sich ein Unbekannter mit kleinem schwarzem Schnurrbart.
  Der Unbekannte schloß die Tür hinter sich und begann langsam die Treppe hinunterzusteigen; er kam aus der Höhe des fünften Stockwerkes und trat sehr vorsichtig auf; in seiner Hand pendelte gleichmäßig ein nicht sehr kleines, aber auch nicht sehr großes Bündel in einer schmutzigen Serviette mit rotem verwaschenem Fasanenmuster.
   Der Unbekannte behandelte das Bündel mit äußerster Vorsicht.
  Die Treppe war natürlich eine Hintertreppe und mit Gurkenschalen und vielfach von Füßen durchlöcherten Krautblättern übersät. Der Unbekannte mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart glitt auf der Treppe aus.
  Mit der einen Hand griff er nach dem Treppengeländer, während die andere (die mit dem Bündel) eine nervöse Zickzacklinie beschrieb; an der Zickzackbewegung nahm eigentlich nur der Ellenbogen teil: der Unbekannte wollte offenbar sein Bündel von einem ärgerlichen Zufall – vom Sturz auf eine der Steinstufen bewahren, denn in der Bewegung des Ellenbogens zeigte sich die Geschicklichkeit eines Akrobaten: die fein berechnete Bewegung war offenbar von einem gewissen Instinkt diktiert.
  Und auch später, bei der Begegnung mit dem Hausknecht, der mit einer Tracht Brennholz die Treppe heraufkam und ihm den Weg versperrte, zeigte der Unbekannte mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart äußerste Sorge für das Schicksal seines Bündels, das mit einem der Holzscheite hätte kollidieren können; die im Bündel enthaltenen Gegenstände waren wohl sehr zerbrechliche Gegenstände. – Das Gebaren des Unbekannten ließe sich anders auch gar nicht erklären.
   Als der bedeutsame Unbekannte die Treppe herabgestiegen war und die Ausgangstür erreichte, durchkreuzte seinen Weg eine schwarze Katze; sie fauchte und ließ zu seinen Füßen ein Stück Hühnereingeweide fallen. Ein Krampf durchzuckte das Gesicht des Unbekannten; er warf den Kopf nervös in den Nacken, wobei er einen zarten Hals sehen ließ.
  Solche Bewegungen waren den jungen Mädchen der guten alten Zeit eigen, wenn sie die Sehnsucht spürten, durch irgendeine ungewöhnliche Tat die interessante Blässe ihres Gesichts, die vom Essigtrinken und Zitronensaugen herrührte, zu bekräftigen.
 Die gleichen Bewegungen kann man zuweilen auch bei jungen, durch Schlaflosigkeit erschöpften Zeitgenossen beobachten. Der Unbekannte litt aber an Schlaflosigkeit: seine tabakdurchräucherte Behausung bestätigte dies; auch der blaue Schimmer seiner zarten Haut zeugte davon; diese Haut war aber so zart, daß, wenn der Unbekannte nicht im Besitz des Schnurrbartes gewesen wäre, man ihn für ein verkleidetes junges Mädchen hätte halten können.
  Und nun steht der Unbekannte auf dem kleinen viereckigen, ganz mit Asphalt bedeckten und von allen vier Seiten vom fünfstöckigen Hausungetüm eingeschlossenen Hof. Auf dem Hof ist feuchtes Brennholz aufgestapelt; von hier aus ist auch ein Stück der windumpfiffenen siebzehnten Linie zu sehen. – Die Linien sind die letzte Erinnerung an das Petersburg Peters des Großen.
  Peter hatte einst die parallelen Linien durch den Sumpf gezogen. Die Linien kleideten sich in Granit, in steinerne Mauern und auch Bretterzäune. Von den regelmäßigen Linien Peters ist in Petersburg keine Spur mehr geblieben. Nur hier zwischen den Hausungetümen stehen noch hier und da Häuschen aus Peters Zeit. Da ist ein aus Balken gezimmertes Häuschen, da ist ein grünes, da ein blaues mit grellrotem Schild »Volksküche«; Die gleichen Häuschen standen hier auch in alten Zeiten. Die verschiedensten Düfte schlagen hier einem entgegen: es riecht nach Seesalz, Heringen, Tauen, Lederjoppen, Pfeifentabak und geteertem Segeltuch.
  Der Unbekannte erinnerte sich: hier im Fenster dieses mit Ölfarbe gestrichenen Häuschens sah er im Juni ein altes Weiblein mit den Lippen schmatzen; im August blieb das Fenster geschlossen; im September wurde ein Sarg herausgetragen.
  Er dachte daran, wie teuer das Leben geworden, und daß das arbeitende Volk bald nichts mehr zu essen haben wird; daß von der Brücke her Petersburg sich mit den Pfeilen seiner Prospekte, mit der Schar seiner steinernen Riesen hereinbohrt; daß die Schar der steinernen Riesen gar bald die Armut der Inseln in Kellern und Bodenkammern begraben wird.
  Der Unbekannte von der Insel haßte Petersburg schon seit langem; dort erhob sich in einem Nebelmeer Petersburg; dort schwebten die Gebäude; dort schien über den Gebäuden jemand Böser und Finsterer zu schweben, dessen Atem die einst grüngelockten Inseln in Fesseln von Granit und Stein geschlagen hat; jemand Finsterer, Drohender und Kalter starrte von dort, aus dem heulenden Chaos, mit steinernen Blicken, schlug in wahnsinnigem Schweben seine Fledermausflügel und peitschte mit seinen schwerwiegenden Worten die Armut der Inseln ...
Als der Unbekannte das dachte, ballte er in der Tasche die Faust ...

Im grünlichen Lichte des Petersburger Morgens, im rettenden »Ungewiß« zirkulierte vor dem Senator Ableuchow das gewohnte atmosphärische Phänomen – der Menschenstrom; die einzelnen Menschen waren stumm und starr; doch die Fluten brandeten dröhnend und brüllend. Das abgestumpfte Ohr hörte aber nicht heraus, daß dies eine Brandung vor dem Sturme war.
  Die vom Nebeldunst zusammengelötete Menschenflut bestand aus einzelnen Gliedern; ein Glied flutete nach dem anderen vorbei; jedes Glied war von dem anderen ebenso weit entfernt wie ein Planetensystem vom anderen; Mensch stand zu Mensch in annähernd gleicher Beziehung wie ein Strahlenbündel vom Firmament zu der Netzhaut, die mittels des Nerventelegraphen dem Gehirnzentrum eine vage Kunde von den Sternen vermittelt.
  Der alte Senator verkehrte mit der vorbeiflutenden Menge mittels Drähten (Telegraphen- und Telephondrähten); und der ganze Schattenstrom erschien seinem Bewußtsein als eine ruhig jenseits der Weltenräume vorbeiziehende Kunde. Apollon Apollonowitsch dachte an die Gestirne, an die Undeutlichkeit des vorbeiwogenden Donnergetöses und berechnete, sich auf den schwarzen Kissen wiegend, die Stärke des vom Saturn kommenden Lichts.
  Plötzlich schrumpfte sein Gesicht wie im Krampf zusammen; die steinernen, blau umrandeten Augen brachen schier, und die in schwarzes Wildleder gekleideten Hände flogen an die Brust, als wenn er sich mit ihnen schützen wollte. Der Oberkörper fiel zurück, der Zylinderhut schlug an die Rückwand und stürzte vom kahlen Kopf auf die Knie ...
  Die instinktive Bewegung des Senators ließ sich auf keine hergebrachte Weise erklären; im Gewohnheitskodex des Senators war nichts dergleichen vorgesehen ...
  Apollon Apollonowitsch betrachtete die vorbeiflutenden Silhouetten – die steifen Hüte, Mützen, Mützen, Mützen, Hutfedern – und verglich sie mit Punkten am Firmament; aber einer dieser Punkte hatte plötzlich seine Bahn verlassen und flog mit rasender Geschwindigkeit, die Gestalt einer riesengroßen roten Kugel annehmend, gerade auf ihn zu. Das heißt, ich will sagen, beim Betrachten der vorbeiflutenden Silhouetten (der Mützen, Mützen und Hutfedern) bemerkte Apollon Apollonowitsch unter den Mützen, steifen Hüten und Federn ein Paar toll gewordener Augen; diese Augen verrieten eine durchaus unstatthafte Eigenschaft: diese Augen hatten den Senator erkannt und waren, nachdem sie ihn erkannt, toll geworden; vielleicht hatten die Augen auf ihn gelauert. Als sie ihn erblickten, erweiterten sie sich und blitzten auf.
  Dieser tolle Blick war ein bewußt hingeworfener Blick und kam von einem Individuum mit kleinem schwarzen Schnurrbart und aufgeschlagenem Mantelkragen; als Apollon Apollonowitsch später an dieses Erlebnis zurückdachte, begriff er (es war ein Begreifen und kein Erinnern), daß das Individuum in der rechten Hand ein Bündel in nasser Serviette gehalten hatte.
  Die Sache war höchst einfach: die von den Menschenfluten eingeklemmte Equipage blieb an einer Straßenkreuzung stehen (der Schutzmann hatte seinen weißen Stab erhoben): die vorbeiflutende Menge von Individuen wurde durch den Strom der senkrecht den Newskij-Prospekt durchschneidenden Wagen aufgehalten; diese Flut preßte sich nun an die Equipage des Senators und zerstörte die Illusion, daß er, Apollon Apollonowitsch, in seinem Fluge durch den Newskij-Prospekt Milliarden von Meilen vom menschlichen Tausendfuß entfernt sei, der sich auf dem gleichen Prospekt bewegte. Apollon Apollonowitsch rückte unruhig dicht an die Fensterscheibe heran und sah sich von der Menge nur durch die dünne Wandung und einen Raum von wenigen Zoll geschieden; da sah er auch das Individuum und begann es ruhig zu mustern; an der unscheinbaren Gestalt war wohl etwas Bemerkenswertes. Ein Physiognomiker wäre wohl bei einer zufälligen Begegnung mit dieser Gestalt erstaunt stehengeblieben und hätte sich später wohl oft dieses Gesichts erinnert; das Außergewöhnliche an diesem Gesicht bestand ausschließlich in der Schwierigkeit, es in eine der bestehenden Kategorien einzureihen. Das war alles ...
   Diese Beobachtung würde wohl den Kopf des Senators durchzuckt haben, wenn die Situation etwa eine Sekunde gedauert hätte; sie dauerte aber nicht so lange. Der Unbekannte hob die Augen und sah hinter dem Fensterglas der Equipage kein Gesicht, sondern einen Totenkopf im Zylinderhut ...
  Im gleichen Bruchteil einer Sekunde sah der Senator in den Augen des Unbekannten das gleiche uferlose Chaos, aus dem die nebelige, schornsteinreiche Ferne und die Wassiljewskij-Insel seit jeher das Haus des Senators anstarrten.
   In diesem Augenblick erweiterten sich die Augen des Unbekannten und blitzten auf; in diesem Moment flogen, durch die Wandung der Equipage und den Raum von einigen Zoll von ihm getrennt, die Hände zu den Augen empor.
  Die Equipage raste vorbei; mit ihr raste auch Apollon Apollonowitsch in die nebelfeuchte Ferne; dort, von dorther leuchteten an heiteren Tagen die goldene Nadel, die Wolken und das blutige Abendrot; dort, von dorther kamen heute nur schmutzige Nebelwolken.
   Dort, in den schmutzigen Nebelwolken, an die Rückwand der Equipage gelehnt, sah er immer dasselbe: die schmutzigen Nebelwolken; sein Herz klopfte; sein Herz erweiterte sich, erweiterte und erweiterte sich; in der Brust entstand die Empfindung einer wachsenden blutroten, zu zerspringen drohenden Kugel.
   Apollon Apollonowitsch Ableuchow litt an Herzerweiterung.
   Das alles währte nur einen Augenblick.
Apollon Apollonowitsch setzte mechanisch den Zylinderhut auf, drückte die mit schwarzem Wildleder bekleideten Hände an das klopfende Herz und gab sich wieder seiner Lieblings-beschäftigung hin – dem Betrachten der Würfel, um sich ruhig und vernünftig Rechenschaft über das Vorgefallene abzugeben.
  Apollon Apollonowitsch blickte wieder aus der Equipage hinaus; was er jetzt sah, löschte das Vorgefallene aus: ein nasser, schlüpfriger Prospekt, nasse, schlüpfrige Pflastersteine, in denen sich fieberhaft der Septembertag spiegelte.

Die Pferde hielten. Ein Schutzmann salutierte. Hinter dem Glas der Eingangstür, unter der bärtigen Karyatide, die einen kleinen Balkon stützte, erblickte Apollon Apollonowitsch das gleiche Bild, das er hier immer sah: den funkelnden Messingstab mit dem schweren Kugelknauf; den Dreispitz des Portiers und dessen achtzigjährige Schulter. Der achtzigjährige Portier duselte über der »Börsenzeitung«. So duselte er auch vorgestern und gestern. So duselte er die verhängnisvollen letzten fünf Jahre. So wird er auch die nächsten fünf Jahre duseln.
 Fünf Jahre sind seit dem Tage vergangen, an dem Apollon Apollonowitsch als unverant-wortliches Haupt des Ressorts zum erstenmal über diese Schwelle des Ressorts getreten: es sind sogar mehr als fünf Jahre! Manches hat sich seitdem ereignet: in China hat es einen Aufstand gegeben, und Port Arthur ist gefallen. Aber die Vision der Jahre blieb unverändert: die achtzigjährige Schulter, die goldene Tresse, der Vollbart ...
 Die Tür ging auf. Der messingene Portierstab klopfte gegen den Boden. Apollon Apollonowitsch richtete den steinernen Blick aus der Equipage in die weitgeöffnete Tür. Und die Tür schloß sich hinter ihm.


Zurück zum Seiteninhalt