Direkt zum Seiteninhalt

Andreas Rentz: "Irreversibilitäten"

KIOSK/Veranstaltungen > antimon


Andreas Rentz

Andreas Rentz wurde 1987 im bayerischen Traunstein geboren, studierte an der LMU München Geschichte, Lateinische Philologie und Philosophie und arbeitet aktuell an seiner Dissertation.
Erste literarische Erfahrungen sammelte er als Mitglied der Komparatistik-Schreibwerkstatt der LMU, die er aktuell leitet und für die er u. a. Lesungen organisiert. 2013 erschien sein Kurzgeschichtenband „In der Grauzone“ im Textkontor Verlag. Es folgten weitere Veröffentlichungen in den Zeitschriften mosaik und Das Prinzip der sparsamsten Erklärung, sowie eine Reihe öffentlicher Lesungen, u. a. im Münchner Rationaltheater, auf dem StuStaCulum 2014, auf dem Großen Tag der jungen Münchner Literatur 2017, sowie im Rahmen der Veranstaltung „Zwischen den Zeilen“ der Süddeutschen Zeitung in München.

Kinder sind grausam



Evelyn Pitmann war mit Zwangsjacke und Maulkorb ausgestattet, als sie an einer Bahre festgeschnallt von einem Polizisten in einen gänzlich mit schwarzem Kunststoff verkleideten Gerichtssaal ohne Fenster gerollt wurde. Aufgrund des dichten Dunstes, der von den rauchenden Zuschauern verursacht wurde und Evelyn zu einem Hustanfall animierte, war nur undeutlich zu erkennen, wie die Wände zu atmen schienen. An mehreren Stellen bildeten sich in unregelmäßigen Abständen und bisweilen gleichzeitig kleine Hügel, die sich bald wieder einebneten und immer wieder an wechselnden Stellen von neuem bildeten. Selbiges galt für die Decke wie auch für den Boden, der durch diese Atembewegungen die Zuschauerbänke beständig anheben und senken ließ. An den Zuschauerreihen vorbei wurde Evelyn ans Ende des Saals befördert, wobei sie sich Beschimpfungen aller Art wie „Mörderin!“ oder „Monster!“ gefallen lassen musste. Rechts vom Richterpult aus gesehen wurde sie schließlich abgestellt, ehe der Polizist vor die Zuschauer trat und eine eigene Zigarette souverän zwischen den Lippen balancierend verkündete: „Sehr geehrtes Publikum, begrüßen Sie nun mit mir die ehrenwerte Richterin Barbara Freisler.“
Während die Anwesenden klatschten, betrat Frau Freisler in schwarzer Robe und mit einer Allongeperücke gekrönt den Saal und trat an das Richterpult, auf das sie mit einem kleinen Hammer dreimal klopfte.
„Haltet die Fresse, ihr Narren! Ich hasse euch!“, fügte sie hinzu, worauf die Zuschauer den Applaus einstellten und sich gemeinsam mit ihr setzten. „Ich erkläre die Sitzung für eröffnet! Evelyn Pitmann! Sie sind angeklagt, eine Teekanne böswillig zerstört zu haben! Sie sind ein Scheusal, ein jämmerlicher Haufen Scheiße, nicht wert, geboren worden zu sein, und noch weniger wert, anderen die Zeit damit zu stehlen, für Ihre Hinrichtung zu sorgen! Was sagen Sie dazu? Es ist doch völlig einerlei! Kommen wir aber zuerst zu Ihren Personalien. Sie heißen Evelyn Pitmann, sind sechs Jahre alt und gehen in den Kindergarten, ja?“
„Ja“, antwortete die kleine Evelyn beinahe flüsternd durch den Maulkorb.
„Und Sie sind ledig und kinderlos, nicht wahr?“
„Ja.“
„‚Ja‘ was?“
„Ja, ich bin ledig und kinderlos.“
„Unfassbar.“
Frau Freisler schüttelte den Kopf und zündete sich eine Zigarette an.
„Ich bitte den Kläger in den Raum: Kanni, die freundliche Teekanne.“
Auf einem Serviertisch wurde vom Polizisten eine nahezu gänzlich von Klebebändern und Pflastern überzogene Teekanne in den Raum gebracht, die er anschließend auf den Zeugenstand rechts neben der Richterin abstellte.
„Frau Teekanne, Sie genießen mein vollstes Bedauern für das Ihnen zugefügte Unrecht. Unser Volksgericht wird sich um Aufklärung und Bestrafung gleichermaßen bemühen. Dafür stehe ich mit meinem Namen. Kommen wir aber zuerst zu Ihren Personalien. Sie heißen Kanni, die freundliche Teekanne, sind zwölf Jahre alt, arbeiten als Teekanne und haben fünf Tassen im Schrank, nicht wahr?“
Die Teekanne schwieg wie die übrigen Anwesenden.
„Ich weiß, Frau Teekanne, dass es schwer ist, sich in Gegenwart Ihrer So-gut-wie-Mörderin zu äußern, allerdings haben Sie mein Wort, dass wir unser Menschenmöglichstes getan haben, um ihr jede Bewegungsfreiheit zu rauben. Sie können sich folglich entspannt zurücklehnen und uns erzählen, was sich zugetragen hat, um uns dabei zu helfen, das verletzte Recht wiederherzustellen.“
Abermals zeitigte die Teekanne keine Reaktion. Dafür begannen die Anwesenden ungeduldig zu flüstern.
„Eine verfahrene Situation“, stellte Dr. Freisler fest.
„Sollen wir dann lieber die Tassen in den Zeugenstand rufen?“, schlug der Polizist vor.
„Vielleicht spricht sie, wenn wir ihr frischen Tee zubereiten“, rief ein Zuschauer.
„Oder wenn wir mehr rauchen“, ergänzte ein anderer. Frau Freisler schlug mit dem Hammer dreimal auf das Pult und beendete damit jede informelle Debatte.
„Maul halten! Die Teekanne ist eben schüchtern! Kein Wunder! Das Monster hat sie durch die zugefügten Verletzungen ja auch nachhaltig traumatisiert! Weil es ja klar ist!“, rief sie den Zuschauern entgegen, ehe sie sich an Evelyn wandte. „Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben, Evelyn Pitmann! Diese ehemals glückliche Teekanne wird niemals wieder Tee in eine Tasse laufen lassen können, Sie Bestie!“
Frau Freisler betrachtete den Hammer, dessen Herzschlag sie dezent an ihrer Handfläche spürte, ehe sie fortfuhr: „Bleibt nichts anderes übrig, als die beiden Vertreter der Teekanne in den Zeugenstand zu rufen, damit diese dem Verfahren Rede und Antwort stehen können.“
Der Polizist nickte ergebenst und führte zwei Personen, eine Frau und einen Mann, in den Saal, die er an den Zeugenstand geleitete, wo sie sich setzten und sich Zigaretten anzündeten.
„Kommen wir zu den Personalien: Sie sind siebenunddreißig und sechsunddreißig Jahre alt, arbeiten als Arzt und als Lehrerin und vertreten in diesem Prozess die Interessen von Kanni der freundlichen Teekanne, gegen den menschgewordenen Abschaum Evelyn Pitmann. Darüber hinaus sind Sie miteinander verheiratet und die Eltern von Evelyn Pitmann.“
„Alles richtig“, kommentierte der Vater. Die Mutter beließ es bei einem schlichten Nicken.
„Gut, mögen Sie schildern, wie diese Schandtat zustande gekommen ist?“
„Nichts lieber als das, Eure Majestät“, erwiderte der Vater und zeigte auf Evelyn. „Dieses Balg, das wir zu unserer Beschämung unser Fleisch und Blut nennen müssen, ist verantwortlich für die Zerstörung von Kanni, der freundlichen Teekanne! Abgründe der Boshaftigkeit und eine widernatürliche Natur sind es, die in ihrem Brustkorb eine unheilige Allianz eingegangen sind, mit dem Ziel, die Welt zu zerstören! Die Teekanne ist nur der Anfang, doch lassen Sie es sich gesagt sein, werte Zuschauer: Wo wird das noch enden? Ich wiederhole: Wo wird das noch enden? Bei einem Kugelschreiber? Einem Blumentopf? Oder gar einer Flasche Holunderbionade? In meinen wüstesten Alpträumen wage ich es nicht, mir auszumalen, wozu diese Bestie aus der Hölle imstande ist!“
Die Mutter begann bei diesen Worten zu weinen, ohne dabei jedoch die Zigarette aus dem Mund fallen zu lassen. Während der Vater tröstend seinen Arm um sie legte, hob sie ihr Gesicht an, an dem die Tränen wie Miniaturwasserfälle hinabliefen, und ergänzte: „Ich habe die Teekanne vor zwölf Jahren gekauft, um meiner Lebensfreude Ausdruck zu verleihen. Ich habe sie mehr geliebt als meine Familie, ja mehr sogar als mich. Ohne Kanni bin ich nichts! Ich bin nichts! Um Himmels willen, ich bin nichts! Und das alles habe ich diesem Monstrum zu verdanken!“
„Haben Sie irgendwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen, Sie Untier?“, fragte Frau Freisler Evelyn.
„Das alles wollte ich nicht. Die Kanne war einfach zu schwer“, antwortete Evelyn.
„Das reicht nicht, Evelyn, das reicht nicht“, entgegnete ihr Vater. „Bist du dir überhaupt im Klaren darüber, was du uns damit zugefügt hast? Du hast nicht nur eine Kanne gebrochen, nein: Du hast auch unser Herz gebrochen. Und das werden wir dir nie verzeihen, Kind.“
„Sie sind vom rechten Weg abgekommen, Scheusal Pitmann!“, fügte Frau Freisler hinzu. „Und niemand wird Sie jemals wieder laufen lassen! Das schwöre ich kraft meines Amtes als Volksrichter.“
„Es tut mir doch leid“, erklärte Evelyn und fing zu weinen an.
„Was bilden Sie sich eigentlich ein, mit einer albernen Entschuldigung begangenes Unrecht ungeschehen machen zu wollen?“, meinte Frau Freisler, deren Gesicht sich abwechselnd grün und rot färbte. „Sie sind eine fleischgewordene Abart, eine überlebte Totgeburt! In Hunderten Wörterbüchern würde ich nichts finden, was meinen grenzenlosen Ekel, den ich für Sie empfinde, adäquat zum Ausdruck bringen könnte! Ich hasse Sie! Ich hasse Sie, so wahr mein Herz zu schlagen imstande ist! Und damit verurteile ich Sie zum Tode durch Erziehung!“
Obwohl Frau Freisler im Zuge des Urteilsspruchs vor Wut (nicht vor Zigarettenqualm) in Atemnot geriet, wandte sie all ihre Kraft dazu auf, mit ihrem Kopf dreimal auf das Pult zu schlagen, um die Rechtskräftigkeit des Urteils mit ihrem Blut zu besiegeln und das pochende Herz des Hammers zu schonen. Während das Pult seufzende Laute von sich gab,  damit gleich einem Brustkorb anschwoll und dabei den aufgrund der Verletzungen zur Leiche gewandelten Körper der Richterin mit sich herumtrug, wurde Evelyn durch den Polizisten aus der Zwangsjacke gelöst und an eine Streckbank gefesselt. Unter schwerem Keuchen und Stöhnen gelang es dieser Gerätschaft, das kleine, grausame Mädchen zu einer verantwortungsbewussten, reifen Erwachsenen zu erziehen. Die gequälten Geräusche der Streckbank beunruhigten die Zuschauer, während Evelyn damit befasst war, sich ihre letzten Atemzüge aus der Lunge zu kreischen. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Erziehung entspannten sie sich allerdings und eilten zur Streckbank, die sie mit mehreren Streicheleinheiten zu ermuntern suchten.
„Herr und Frau Pitmann, Ihr ungezogenes Mädchen wurde in einen wunderschönen und verantwortungsbewussten Schwan verwandelt“, sagte der Polizist Evelyns Eltern, denen er ein Diplom überreichte. „Der Schwan dient selbstverständlich nur als bildhafte Figur. Bitte nicht wörtlich nehmen.“
„Vielen Dank, Herr Polizist“, erwiderte der Vater. „Damit sollte unsere Kanni für den Rest ihres Lebens in Sicherheit sein. Was sagst du dazu, Kanni?“
Die Teekanne gab einen Pfeifton von sich, mit dem sie die Anwesenden in freudige Verzückung versetzte. Derweil verdichtete sich der Qualm fortlaufend, bis schließlich nichts mehr im Saal zu erkennen war.

Zurück zum Seiteninhalt