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Andreas Puff-Trojan: Der Surrealismus

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Monika Vasik

Andreas Puff-Trojan: Der Surrealismus. Kunst, Literatur, Leben. München (Verlag C. H. Beck – Reihe Beck Wissen) 2024. 128 Seiten. 12,00 Euro.

100 Jahre Surrealismus


Der Surrealismus gilt als eine der wichtigsten Kunstrichtungen der Moderne in Europa, die bis heute kaum etwas von ihrer Strahlkraft eingebüßt hat. Er begann mit der Veröffentlichung des Ersten Manifests des Surrealismus durch André Breton im Oktober 1924. Zum 100-jährigen Jubiläum legte der Literaturwissenschaftler Andreas Puff-Trojan im Herbst 2024 seine Rückschau Der Surrealismus vor, mit der er, wie es im Klappentext heißt, „das ganze Spektrum“ in Wort, Bild, Film und Fotografie beleuchten will. Der Rahmen für das Unterfangen ist eng gesteckt, denn die „Ära des Surrealismus reicht von 1924 bis zum Ende der 1930er Jahre“ und endet mit dem Zweiten Weltkrieg, wie der Autor in seiner Einleitung festhält. Er konzentriert sich auf Paris als Zentrum des Surrealismus, streift mit dem Künstler René Magritte auch den Surrealismus in Brüssel. Ergänzt wird das Buch mit einigen Schwarz-weiß-Fotografien von Künstlern und deren Werken.

Schade allerdings, dass der Autor anlässlich des 100-jährigen Jubiläums nicht die Chance ergriff, auch auf das Nachwirken des Surrealismus einzugehen, der bis heute in Literatur, Film und bildender Kunst Spuren hinterlässt, obwohl er in seiner Einleitung anspricht, dass sich

„fortlaufend Spuren surrealistischer Kunstauffassung finden, etwa bei Paul Celan, Ernst Jünger oder Friederike Mayröcker. Maler wie Rudolf Schlichter oder Richard Oelze zeigen in ihren Bildern starke surrealistische Einflüsse, ganz zu schweigen von der „Wiener Schule des Phantastischen Realismus“ um Ernst Fuchs und Rudolf Hausner. Auch deutsche Philosophen wandten sich in ihren Analysen dem Surrealismus zu“

etwa Walter Benjamin, Theodor W. Adorno. Doch es bleibt bei der Erwähnung in der Einleitung, der Gedanke wird nicht weiter ausgeführt. Das Buch weist zudem einige Dysbalancen auf. So wird zu vieles nur angetupft und der Text driftet gelegentlich ins Triviale ab.

Anliegen surrealistischer Künstler:innen war es, im kreativen Prozess über (franz.=sur) den Realismus und damit das Reale von Vernunft und Verstand hinauszugelangen, um das Un- und Unterbewusste sowie Träume wirken zu lassen. Das Buch beginnt mit dem Schaffen von Literaten, die sich der neuen Bewegung zuordneten. Puff-Trojan rekapituliert die Anfänge des Surrealismus aus der Dada-Bewegung, zeigt Bezüge und Unterschiede zwischen den beiden Kunstrichtungen. Anschaulich geht er auf Begriffe wie „das Wunderbare“, die surrealistische Radikalmetapher oder die Bedeutung des Mystischen im Denken der Surrealisten ein und weist wiederholt auf den Einfluss von Phantasie, Träumen und Freuds Traumdeutung hin.

Der Autor unterteilt seine literarischen Ausführungen nach Gattungen, widmet sich zunächst der surrealistischen, metaphernreichen Lyrik und geht u.a. auf das Schaffen von Paul Éluard, Philippe Soupault, Benjamin Péret, Robert Desnos oder André Breton ein. Danach stehen surrealistische Prosaformen im Mittelpunkt, wenn er Referenzwerke für surrealistische Prosa wie Louis Aragons Montagewerk Le paysan de Paris, André Bretons Nadja sowie L’amour fou oder die Gemeinschaftsarbeit Die unbefleckte Empfängnis von Breton und Paul Éluard beschreibt, in der Wahnsinn literarisiert wird. Knapp weist er zudem auf Merkmale einiger anderer Werke und die Intention ihrer Autoren hin. Im dritten literarischen Kapitel widmet sich Puff-Trojan „in aller Kürze“ den drei wichtigsten surrealistischen Zeitungen La Révolution surréaliste, Minotaure sowie Der Surrealismus im Dienst der Revolution, wobei es ein wenig verwundert, dass letztere im Gegensatz zu den beiden anderen nicht mit dem französischen Titel Le Surrealisme au service de la Révolution benannt ist.
Im folgenden Abschnitt widmet sich Puff-Trojan der bildenden Kunst, vor allem der Bedeutung von Verdich-tungen und Verschiebungen in Malerei, Skulptur und Collage. Er beleuchtet zudem das narrative Element in der bildlichen Darstellung und die Ideenassoziation als Umsetzung der Radikalmetapher. Auch hier zeichnet der Autor Bezüge zu Dada nach, hebt einige Künstler hervor, etwa Hans Arp, Max Ernst, Salvador Dalí oder René Magritte und geht auf die Unterschiede zwischen deren Kunstauffassungen ein. In Literatur und bildender Kunst erwähnt Puff-Trojan zudem das automatische Schreiben bzw. Zeichnen als Form der Kreation mit Hilfe des Unbewussten und des Zufalls, das heißt ohne Kontrolle der Vernunft, und beschreibt verschiedene Zugänge surrea-listischer Künstler.
Die Bereiche Objekt, Fotografie und Film fasst er in einem eigenen Kapitel zusammen, das jedoch nicht mit derselben Hinwendung komponiert wurde wie die Kapitel zuvor. Auf knapp vier Seiten werden Namen von Künstlern und Kunstwerken aufgezählt, auf die meist nicht näher eingegangen wird, ebenso kaum auf den surrealistischen Kontext. Künstlerinnen und weibliche Urheberinnenschaft im Surrealismus kommen hier erstmals vor. So werden Meret Oppenheims Objekt „Frühstück im Pelz“ und die Fotografinnen Dora Maar, Claude Cahun und Lee Miller erwähnt, von denen man gern mehr erfahren würde. Auch der Film kommt zu kurz. Genannt werden zwei Filme von Luis Buñuel (Ein andalusischer Hund; Das goldene Zeitalter), von denen „Breton meinte“, dass sie die „einzigen vollkommenen surrealistischen Filme“ seien. Doch zuvor gab es schon den von Germaine Dulac nach einem Drehbuch von Antonin Artaud realisierten Kurzstummfilm Die Muschel und der Kleriker, der als erster surrealistischer Film gilt und angesprochen hätte werden können. Man Ray hat ebenfalls surrealistische Filme gemacht, andere wie Robert Desnos und Philippe Soupault verfassten Drehbücher für surrealistische Filme, was allerdings in diesem Kapitel ohne Erwähnung bleibt.

Ein Ärgernis ist das Kapitel La femme surréaliste (=Die surrealistische Frau, Die Surrealistin), Untertitel: Frausein zwischen Kreation und Kreativität. Elf Seiten sind diesem Thema gewidmet, zieht man den Platz für fünf abgedruckte Bilder ab, dann deutlich weniger. Das goldene Zeitalter des Surrealismus, das von 1924 bis zum Zweiten Weltkrieg reichte, war eine schwierige für Künstlerinnen und für die Stellung der Frau in der Gesellschaft.

„Ohne Zweifel haben die männlichen Surrealisten ihre sexuell-erotischen Phantasien auf das Weibliche projiziert. Die Frau ist eine Kreation der Männer – in der Kunst wie im Leben. Ihr Wesen sollte zwischen Hingabe, Musentum und antibürgerlicher Anarchie oszillieren.“

Wohl waren die Surrealisten mehrheitlich „antikapitalistisch eingestellt“ und agitierten „gegen eine bigotte und rein merkantil ausgerichtete Bourgeoisie“. Der behauptete Wunsch nach einer Verbindung von Frauen und antibürgerlicher Anarchie wäre aber zu hinterfragen, denn Konsequenz wäre möglicherweise das Ende der Unterwerfung von Frauen, der männlichen Kreation von Weiblichkeit und von „Bretons Erhöhung der Liebe“, die „mittelalterliche Züge“ annahm. Beim „Wesen“ von Frauen ging es den Surrealisten jedoch neben ihrer Eignung als Modell zuvorderst um Hingabe und Musentum. Schon in der Einleitung lesen wir: „Die Frau war für die Männer im Surrealismus Geliebte und «femme inspiratrice», also Muse.“ Und Puff-Trojan weiter:

„Dass es nicht wenige Künstlerinnen gab, wird in vielen Darstellungen zur Nebensache erklärt. Das soll in diesem Buch im Ansatz korrigiert werden.“

Davon ist wenig zu bemerken in einem Buch, das sich in diesem Aspekt auf das Niveau von Klatschzeitungen begibt. Die Frau existiert zu oft als Geliebte von ..., als (Ehe)Frau von ... oder als Tochter von ..., auch im Kapitel „La femme surréaliste“. So heißt es u.a. „Das Liebesleben der Surrealisten war äußerst schillernd“, was mit Bretons drei Ehefrauen und einer Tochter belegt wird, auch „Max Ernst war viermal verheiratet“. Sind sie deshalb die bekannteren Maler? Gala wiederum war die „Gattin“ von Paul Éluard, wandte sich dann aber Salvador Dalí zu und wurde, nein, keine Künstlerin, sondern seine Muse und zeichnete sich dadurch aus, dass sie ihn „perfekt managte“. Wichtig ist dem Autor noch zu erwähnen: „Die sich wandelnden Liebesverhältnisse konnten auch tragisch ausgehen“ – wer hätte das gedacht? Über die Kreativität surrealistischer Künstlerinnen hingegen weiß Puff-Trojan wenig zu sagen:

„Einige Frauen des Surrealismus waren bei weitem nicht bloß Kreationen ihrer Männer, sondern gaben ihrer Kreativität einen eigenen Ausdruck. Im Rahmen dieses Bands kann auf sie nur kursorisch eingegangen werden. Ob die Surrealistinnen Werke von gleichem Wert wie die der männlichen Künstler realisiert haben, wird die Kunstgeschichte zu entscheiden haben.“

Man glaubt sich verlesen zu haben! Der Autor vermag dann doch einige Namen surrealistischer Künstlerinnen und ihrer Werke zu nennen. Er kleidet dies allerdings in Wendungen mit seltsam abwertendem Beiklang wie: „Die Amerikanerin Dorothea Tanning – vierte Ehefrau von Max Ernst – trat vor allem als Malerin in Erscheinung“ oder: „Valentine Hugo, die sowohl mit Éluard als auch mit Breton eine Affäre hatte, porträtierte viele Surrealisten“ oder: Dora Maars Fotografien „bedienen sich gewissermaßen der Radikalmetapher“ oder Leonor Fini „versuchte sich im Automatischen Zeichnen“. Puff-Trojan stellt sogar Frieda Kahlos Nähe zum Surrealismus in Frage, obwohl „Breton selbst ... von der surrealistischen Strahlkraft der Bilder Kahlos überzeugt“ war. So weckt der Autor den Eindruck, er sei in der Frage der Einschätzung des Werts von Künstlerinnen und ihres Werks im frühen 20. Jahrhundert steckengeblieben, wenn er heute noch ernsthaft die Frage stellt, ob „die Surrealistinnen Werke von gleichem Wert wie die der männlichen Künstler realisiert haben“. Man darf in diesem Zusammenhang etwa an die Ausstellung „Fantastische Frauen“ 2020 in der Frankfurter Schirn erinnern, bei der Werke von 34 internationalen Künstlerinnen des Surrealismus zu entdecken waren. Der Autor hätte sich nicht nur dort von der Qualität eigenständiger weiblicher Kunst des Surrealismus kundig machen können. Allerdings bestärkt sich bei der Lektüre allmählich die Vermutung, dass das Buch unbedingt zum 100-jährigen Jubiläum des Surrealismus fertig sein sollte und deshalb für weiter gehende Recherchen und Ausarbeitungen schlicht keine Zeit blieb, was bedauerlich ist!


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