Andreas Koziol: Menschenkunde
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Felix Philipp Ingold
«Menschenkunde»
Ein Gedenkbuch von und für Andreas Koziol
(1957-2023)
Andreas Koziol, Dichter und Laientheologe, erprobt als Privatlehrer, Postbote, Heizer und Totengräber, ist ein Autor, der viel zu sagen hat – vieles und vielerlei aus eigener Lebenserfahrung, aus politischem und gesellschaftlichem Interesse, aus beharrlicher Nach-denklichkeit, und er tut es vorzugsweise in althergebrachter lyrischer Form, auch dann, wenn er gemeinsprachlich auf Aktuelles, Akutes Bezug nimmt. Die rare Verbindung von konven-tioneller, streng praktizierter Formgebung mit eigensinniger Gedankenführung und kühner Metaphernbildung bestimmt seinen Personalstil.
Was Koziol als Dichter «gesagt» hat, war stets begleitet, wenn nicht gefährdet vom radikalen Zweifel, ob und inwiefern das Gesagte denn überhaupt sagbar und des Sagens wert sei. «Würde man überhaupt schreiben, wenn man etwas zu sagen hat?», fragte er sich schon 1985 in einem Gespräch mit Egmont Hesse: «Oder anders gefragt, besitzen wir noch die Worte, die uns besetzen?»
Von Worten (von der Sprache) besetzt, also besessen zu sein, ist ja tatsächlich kein Besitz, schon eher ein Verhängnis, womöglich eine Verpflichtung. Koziol hat sich durch diese Besetzung nicht einschränken lassen, er hat sie durch Selbstdisziplinierung produktiv gemacht. Disziplinierung des Ausdrucks und damit des Überdrucks, der Überfülle dessen, was zu «sagen» ist. Gebundene Form zur Sicherung ungebundener Ideen, Gefühle, Fragen, Erinnerungen. Das regelgerecht ausgearbeitete Gedicht scheint Koziol für eine adäquate, dabei autonome, ihn selbst einschliessende «Lebensform» gehalten zu haben, die seine irdische Wenigkeit im doppelten Wortsinn «aufheben», sie gleichzeitig eliminieren und bewahren sollte. So erklärt sich wohl sein spätes, ebenso selbstloses wie anmassendes Geständnis, wonach er sich «am liebsten nur noch als Text» sehen würde, also nur noch gelesen werden möchte, unabhängig von seiner Person, seiner Biographie – seinem Leben eben.
Wie sich Andreas Koziol, in solchem Verständnis, als «Text» etabliert hat, ist nun ein weiteres, ein letztes Mal mitzuvollziehen am Leitfaden seiner lyrischen Hinterlassenschaft, die seit kurzem unter dem schlichten Titel «Menschenkunde» als Buch vorliegt – 55 Gedichte in vier Sektionen auf insgesamt 70 grossformatigen Druckseiten.*
Bei der Durchsicht des Inhaltsverzeichnisses trifft man mehrheitlich auf Textüber-schriften, die in geläufiger Lyrik gang und gäbe sind: «Dezembermorgen», «Traum», «Vom Nebel verschlungen», «Romanze», «Nostalgie», «Meisenwerk», «Oktoberlied», «Zum Alter», vereinzelt auch auf Titel, die sich auf die Sprache, das Reden und Schreiben beziehen: «Redensarten», «Schreiben ist nichts oder Nähe», «Auf die Frage nach dem Grund zum Dichten» und zuletzt: «Nachschrift».
Doch auch dieses Gedicht – «Nachschrift» wozu? – ist mit gängigen Begriffen lyrischer Rede bestückt, ein Herbstgedicht mit «Nebelwänden», «Blättern auf dem Dach», «Wolken wie Asche», «Baumskeletten», «Herzerbarmen», «Träumen» usf. Indes gelingt es Koziol, die naheliegende, geradezu sich aufdrängende Klischeehaftigkeit auf zweierlei Weise zu parieren. Erstens dadurch, dass er abgegriffene Vokabeln in neue, unerwartete Redewendungen einbringt, Verse wie diese: «Herbste haben aufgehört zu malen», «Sterne fallen lautlos in den Müll», «Schweigen ist ein Spiel das ich verliere»; zweitens durch die Einbindung solch prägnanter Aussagen in ein zwar konventionelles, doch zumindest stellenweise durchaus innovativ gehandhabtes poetisches Schema.
Den hier vorgegebenen 5-hebigen Jambus mit Kreuzreim (a :: b :: a :: b, weiblich/männlich) realisiert Koziol in drei Strophen nahezu perfekt, die Reimpaarungen fügt er passgenau, einige davon gewinnen durch minimale Abweichungen an Wirkkraft (Müll :: Fossil; Hieroglyphen :: schliefen). Weniger kohärent ist die Syntax, uneinheitlich die Interpunktion, so dass – der metrischen Korrektheit zum Trotz – manche Aussagen keinen Zusammenhalt gewinnen, so in der Schlussstrophe der «Nachschrift»: «… Schwarze Hiero-glyphen | Monde narbenglühenden Gesichts | Baugelände wo einst Tote schliefen …» Solche Unbestimmtheit oder Unfertigkeit rauht die lyrische Rede auf, bringt die Lektüre zum Stocken und verhindert somit voreiliges, bequemes, letztlich unergiebiges Verstehen.
Hier, als Beleg dafür, ein anderes Gedicht von Andreas Koziol in Volltext:
AkopalypseDie Tage sind gezähltDer grosse Umbruch nahtDie Masse hat gewähltDer Kreis heisst jetzt QuadratDas Fundament heisst Dachund Loch das FundamentDavor heisst jetzt danachund Abreise Advent
Der Rahmen wird zum BildDer neue Mensch heisst ManschDer Jäger wird zumWildund Gnade heisst RevancheDer Wandel wird zur WandDas Wunder wird zumWitzDie Mitte wird zum RandDer Geist zu Bytes und BitsDas Mittel wird zum ZweckDas Wesen wird zum ScheinDer Besen wird zu DreckDer Dreck zum reinen Sein
Der Schatten wird zum LichtDie Pole kehrn sich umDer Arsch wird zum GesichtDer Himmel weiss warumDie Stille wird zum LärmDie Zeit stoppt ihren LaufWas Schale war wird KernDer Globus bläst sich aufDas ganze Hier und JetztZerplatzt mit einem KnallDem Bürger fliegt das Netzvom Kopf und fort ins All.
Das ist ein auf den ersten Blick fehlerloses Gedicht, ebenso formstark wie aussagekräftig, die kurzen jambischen Verse und die gekreuzten, stets männlichen Endreime sind grösstenteils korrekt gesetzt; um so mehr springt die Fehlschreibung des Titels ins Auge – «Akopalypse» statt Apokalypse (so auch im Inhaltsverzeichnis!), und man fragt sich gleich, ob der Fehler vom Autor gewollt oder von den Herausgebern beim Abschreiben des Skripts verursacht worden ist.
Dass in diesem makellosen Text durchgehend von Fehlern die Rede ist, mehr noch und allgemein von der fundamentalen Fehlerhaftigkeit der heutigen Welt, der heutigen Zeit und des «neuen Menschen», erbringt einen sicherlich beabsichtigten Grundkontrast, von dem denn auch die gesamte Lektüre imprägniert wird. Die offenkundig apokalyptische Gestimmtheit des Autors findet ihren streng disziplinierten Ausdruck in einer langen Reihe von gegensätzlichen Begriffen (Kreis/Quadrat, Rahmen/Bild, Mitte/Rand, Schatten/Licht, Schale/Kern, Wesen/ Schein), die jeweils für das stehen, was bisher war, beziehungsweise für das, was nun sein wird. Da alles Kommende, teilweise bereits Eingetretene negativ konnotiert ist (Loch, Lärm, Knall, «Mansch» usf.), liest sich das Gedicht tatsächlich wie eine dystopische Prophetie oder auch wie ein langatmiger versifizierter Fluch.
Koziol verwendet dafür ausschliesslich einfache Wörter aus der Alltagssprache, folg-lich keine Kunst- oder Fremdwörter, so dass seine Klage (die auch Anklage ist) zur unmittelbaren, fast schon persönlichen Ansprache wird. Eine Ausnahme (die einzige) bildet der Begriff «Mansch», als Neologismus hergeleitet von «Mensch», anklingend an «Matsch» oder «Gemansch» – blanker Hohn auf die Krone der Schöpfung, erwirkt allein durch die Ersetzung eines Buchstabens! Die konsequente Einhaltung des Metrums und die Verwendung des Reims verhindern im Übrigen – sehr gekonnt! – die Auflösung der dichterischen Rede im Alltagsparlando.
Was sich hier ausnimmt, als wäre es beiläufig dahergesagt, ist in Wirklichkeit das Ergebnis ingeniöser dichterischer Arbeit, ist poetisches Handwerk höchster Güte: «Der Wandel wird zur Wand | Das Wunder wird zum Witz | Die Mitte wird zum Rand | Der Geist zu Bytes und Bits.» – Den banalen Reim «Wand :: Rand» konterkariert Koziol mit der ungewöhnlichen Paarung «Witz :: Bits»; den bedrohten, wohl schon verlorenen «Geist» verbindet er klanglich mit «Bytes» und markiert mit dieser rein sprachlichen Ähnlichkeit zugleich einen Gegensatz, so wie die Stabreime «Wunder / Witz» und «Wandel / Wand» trotz äusserlicher Übereinstimmung (Alliteration) den bedeutungsmässigen Unterschied markieren.
Lyrische Bravour, die sich in geschickter Handhabung von Metrum und Reim be-weist, kommt heute bestenfall noch in humoristischer, satirischer, parodistischer Poesie zum Einsatz und läuft stets Gefahr, in unbedarftes Verseklappern zu verfallen. Koziol, der sich solcher Bravour konsequent verschrieben hat, ist diesbezüglich eine Ausnahmeerscheinung. Auch wenn seine Dichtung gelegentlich zu diskreter Ironie tendiert, witzig (im gewohnten Sinn) ist sie nie, eher umgekehrt – tragischer Abgesang eines luziden Melancholikers. Aus all seinen Texten lassen sich einzelne Zeilen herauslösen, die in aphoristischer Qualität bittere Erfahrungen und Einsichten auf den Punkt bringen – so wie hier: «Es gibt keine Lösung – es gibt nur das Los.» – «Sprache vom feinsten – Sprache vom Feind.» – «Ein paar Dinge gehen zu Ende | und selber kommt man nicht mit.» – «Die Zeit heilt keine Wunden | Ein Spruch: Du Meer, ich Sieb.» – «Die Welt ist Rauch der Grund ist Feuer. | Verkohlen kann ich mich allein.» – «Wie ein Mann der seine Einsamkeit wie eine Waffe trägt …» Usf.
Bei all seiner Unerbittlichkeit ist Andreas Koziol ein freundlicher Apokalyptiker. Auch wenn er alles Schöne, Gute, Wahre verloren gibt, hält er doch wenigstens an dessen überdauernden Spurelementen fest, an jäh aufkommenden Reminiszenzen, kurzfristigen Auf-hellungen, momentanen Düften oder Klängen. Dominant bleibt jedoch allemal das unvermeidliche, rasch näherrückende Ende, das bedrohliche Nichts. Bleiben nur die kleinen einmaligen Sensationen, das Flattern, Flimmern, Flirren – zum Beispiel – eines Schmetter-lings:
Einmaligkeit weiss nichts von Ironie.Ein Pfauenauge taumelt durch das Haus.Es ist wie jede wahre Poesiedem Tod um einen Flügelschlag voraus.
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Andreas Koziol, «Menschenkunde». Herausgegeben von Lutz Seiler in
Zusammenarbeit mit Henryk Gericke. Berlin (Kookbooks - Reihe Lyrik) 2024. 80
Seiten. 24,00 Euro.