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Andreas H. Drescher: Die Weiße

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Andreas H. Drescher

Die Weiße


Obwohl sie kaum zwanzig war, hatte sich ihr Haar in drei Monaten weiß gefärbt. Das rückte sie in eine optische Alterslosigkeit, ohne die Großmutter sie sicher nicht eingestellt hätte. Vater behauptete sogar, ihr Haar mache sie hässlich. Aber das stimmte nicht. Es stellte nur diesen Abstand her, der, wenn sie ein Familienmitglied während der Hausarbeit einmal versehentlich berührte, so übergangslos in eine berückende Nähe aufbrach, dass zumindest ich mich nur noch in eine heimliche Ohnmacht retten konnte. Ich glaube, Ernst ging es genauso. Zumindest sah ich auch ihn ruckartig mit dem Kauen aufhören und blass werden, wenn sie ihn streifte, während sie beim Mittagessen unterm Tisch die herabgefallenen Krümel aufkehrte. Zwar hatte ihr Großmutter strikt verboten, uns während der Mahlzeiten zwischen den Beinen herumzukriechen, trotzdem konnte sie sich eines wohlgefälligen Lächelns nicht erwehren, wenn sie sah, dass ihr neues Mädchen einfach nicht anders konnte, als die Wohnung gründlich sauber zu halten.

Nie hatte sie eine so hingebungsvolle Haushaltshilfe gehabt. Aus diesem Grund zwang Großmutter sie nach solchen Putzattacken auch regelmäßig, bei uns am Tisch zu essen. Eine Ehre, die der jungen Frau fast bis zur Selbstauflösung peinlich war. Vor allem, weil Großmutter jedes Mal wieder die Geschichte ihrer Vertreibung hören wollte. Eine Zeitlang versuchte das Mädchen sich herauszureden, schließlich musste sie ihre Abenteuer dann aber doch noch einmal erzählen:

„Ich kann mich nicht erinnern, dass es bei uns zu Hause einmal langweilig gewesen wäre. Doch dann brach meine kleine Schwester in das ansteckendste Gähnen aus, dass ich je gesehen habe. Kaum hatte sie den Mund wieder zugemacht, als es meiner zweit-, dann meiner drittjüngsten, dann meiner viert-, fünft und sechstjüngsten Schwester in den Kiefer fuhr. Ganz am Schluss erst mir, der Ältesten. Was konnte ich dafür, dass ich gerade den Briefkasten leerte, als das passierte?

Was konnte ich dafür, dass mein Gähnen es war, das sich stadteinwärts fortsetzte und dort bis heute durch die Straßen streift? Ich weiß nicht einmal, ob es noch immer Unfälle verursacht und so nicht nur den Verkehr, sondern selbst die Wirtschaft lahmlegt. Zur Strafe musste ich nicht nur das Land, sondern sogar den Kontinent verlassen. Dieses einen Gähnens wegen. Nur ich allein, keine einzige meiner Schwestern. Die leben noch immer unbehelligt bei Vater und Mutter.“

„Wenn nicht inzwischen eine andere von ihnen zum Briefkasten hinausmuss.“, antwortete Ernst und Großmutter legte die Stirn in Falten, um ihn zu rügen:
„Nun red’ kein dummes Zeug. Dort kommt doch jetzt gar keine Post mehr.“

So war es weder Ernst noch mir jemals gelungen, ein Gespräch mit der Weißen anzuknüpfen. Großmutter hatte das immer unterbunden. Das Mädchen schwieg ebenfalls. Sogar, wenn die alte Frau nicht in der Nähe war. Zum Beispiel, wenn sie uns im Garten beibrachte, uns nach hinten abzurollen. Großmutter, die ihre Gedanken erraten konnte, hatte uns zugeflüstert: “Sie fürchtet, das Große Gähnen sei noch immer in ihr.“ Ausschließlich aus diesem Grund war sie einver-standen, dass das Mädchen uns das Abrollen zeigte. Damit wir, falls das Gähnen uns doch eines Tages erreichte, noch im Einschlafen nach hinten zu fallen gelernt hätten, ohne uns den Hinterkopf aufzuschlagen. Es war ganz einfach: Wir mussten nur den Fußrücken des einen Fußes hinter der Ferse des anderen aufsetzen, in die Knien knicken, den Rücken rund machen und über die Schulter fortrollen.

Natürlich ging das, wortkarg wie die Weiße war, nicht ganz ohne Berührungen ab. Und eben darauf hatten Ernst und ich es abgesehen. Bei diesen Gelegenheiten steckten wir der Weißen unsere Liebesbriefe zu, die wir noch am selben Abend geöffnet, aber unbeantwortet im Papiermüll wiederfanden. Beschämt nahmen wir sie wieder an uns, schnupperten aber noch lange, lange ihren Händen hinterher. Beim neunten Brief war es schließlich soweit. Beim neunten Brief hatte sie die Zunge so lange gegen das Wort „schlafen“ gepresst, dass es aufweichte. Um es in den Mund ziehen und schlucken zu können. Ernst geriet davon in eine Tage vorhaltende Lachwut, die dem armen Mädchen Tränen der Reue in die Augen trieb.

Trotzdem half sie Großmutter, Vater und mir, Ernst in die Badewanne zu schaffen, um ihm die kalten Güsse zu verabreichen, die ihn von seinem immer wieder aufbrechenden Frohsinn heilen sollten. Doch er gab erst Ruhe, als Großmutter, Vater und ich über dem Wannenrand hängend eingeschlafen waren. Wir drei wachten erst in der Sekunde wieder auf, in der sein Lachen schließlich verebbte. Ohne nach ihr rufen zu müssen, begriffen wir, dass die Weiße fortgegangen war. Doch während Vater und Großmutter sich auf dem Boden ausstreckten, um ihre Rückenschmerzen zu kurieren und Ernst sich in Alan Hobsons Standardwerk über die Schlafforschung vertiefte, machte ich mich gleich auf die Suche nach ihr.

Natürlich war ich ebenfalls zerschlagen. Doch das war gut so. Denn auf diese Art wurde mein Wachsein von „methodisch“ auf „unmethodisch“ umgestellt. Ich bewegte mich folglich in umgekehrter REM-Richtung über die Felder hinweg, die sie auf ihrer Flucht vor Kurzem noch gekreuzt hatte und fand Unterschlupf bei eben den Schlafmohnzüchtern im Ruhestand, die noch Tage vor Ernsts Geburt zuletzt um Großmutters Hand angehalten hatten. Ihrer alten Verehrung für meine Ahnin wegen erlaubten sie mir sogar, mich auf ihren Feldern zu munitionieren.

Ich kam also, als Pharmareferent verkleidet, in der Küstenstadt an, in der die Weiße den altmodischen Taucheranzug gekauft hatte. Das sah ihr ähnlich. Nur jemand diesseits ihrer Naivität konnte ernsthaft glauben, dem Großen Gähnen auf dem Meeresgrund entkommen zu können. Noch dazu unter einem derart schweren Helm. Ich brauchte also nichts weiter als Taucherbrille, Flossen und Schnorchel, um bald bei ihr zu sein. Doch es gelang mir nicht, sie noch vor der Küste einzuholen. Ernsts wegen, der zu mir aufgeschlossen war und mich vom Meeresgrund aus regelmäßig harpunierte. So machten wir uns das Leben schwer. Er mir mit seiner Harpune, ich ihm mit den Knoten im Schlauch seines Sauerstoffgeräts.

Als wir schließlich zu Tode erschöpft ans Ufer des Dritten Kontinents krochen, beschlossen wir noch am Strand, unseren Streit erst im REM zu Ende zu bringen und uns fürs Erste gemeinsam auf die Suche nach der Weißen zu machen. Anfangs irrten wir dabei heillos herum. In den Schlafmittelfabriken nur haltlose Gerüchte. Die einen behaupteten, sie habe heimlich den kleinen Mohnzüchter geheiratet, die anderen, sie habe inzwischen das Alter ihres Haares angenommen.

Sie war aber weder auf den Feldern noch im zentralen Altersheim des Kontinentes zu entdecken. Wir stöhnten auf. Wir heulten vor Ungeduld. Wir kauften uns einen Caravan und fuhren kreuz und quer durchs Land. Unsere Tage brachten wir mit sinnlosen Fragen an die Pharmazeuten hin und erzählten uns am Abend in der doppelten Glut der Ceranfelder unsere zärtlichen Erinnerungen an sie.

Er mir, wie er ihr einmal ein Fensterleder aus dem Putzeimer gestohlen und sich ein ganzes Jahr damit gewaschen hatte. Ich ihm, wie ich einmal eines ihrer weißen Haare aus der Dusche geangelt und als Talisman getragen hatte, bis ich es eines Morgens beim Joggen verlor. Wir lachten uns aus. Wir nannten einer des anderen Erinnerung banal. Doch wir hassten uns dafür, was wir einander voraushatten. Lange Nächte ging das so, dann Vormittage, schließlich halbe Nachmittage lang.

Bald vernachlässigten wir unser Suchen derart, dass wir in eine bedrohliche Nähe zum Finden gerieten: die Weiße als helle Stelle überm Horizont, die Weiße als abnehmendes Glimmen im abgestellten Ceranfeld, die Weiße als Ernsts Augenweiß. Als wir schließlich vor ihr standen, hätten wir sie deshalb um ein Haar nicht erkannt. Vielleicht einfach des Arztkittels wegen, der sie noch blasser machte, als sie ohnehin war. Zwei Streifenpolizistinnen hatten uns in ihr Schlaflabor gebracht, nachdem sie uns mit einem REM-EEG auf der Autobahn aufgegriffen hatten.  

Wir waren angekommen, wir mussten es nur noch begreifen. Jetzt war der Schlaf da, als Reihum, als mathematisches Spiel. Und die Weiße lachte, wie wir sie in all den Jahren unter unseren Tischen niemals hatten lachen hören - und ließ uns nicht mehr heraus aus diesem Schlaf. Wir beide waren ihr jetzt nichts mehr als der Rhythmus auf dem kalibrierten Bildschirm ihres Kathodenstrahloszilloskops.


In Andreas H. Drescher: Mein alter Schwarzfernseher. Erzählungen. Saarlouis (Edition Abel) 2022. 200 Seiten DIN-A-4 mit 25 Abbildungen. 24,90 Euro.


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