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André Schinkel: Mondlabyrinth

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Dietmar Ebert

André Schinkel: Mondlabyrinth. Gedichte. Halle/Saale (Mitteldeutscher Verlag) 2024. 135 S. 20,00 Euro.

Mondlabyrinth ist das „Adagio“ in André Schinkels „Gestirn“- Tetralogie


André Schinkel ist ein Dichter, der in großen Zeiträumen denkt. Er gibt seinem lyrischen Werk Zeit zum Wachsen und Reifen. Im September dieses Jahres ist mit Mondlabyrinth nun der dritte Band seiner lyrischen Tetralogie erschienen. Die Lyrik-Bände Löwenpanneau (2007) und Bodenkunde (2017) haben mit Mondlabyrinth einen Geschwisterband bekommen. Der vierte Band der Tetralogie, ihr „Schlussstein“, wird sich den Gestirnen widmen. Vergleicht man André Schinkels Lyrik-Tetralogie mit einer viersätzigen Sinfonie, so bildet Mondlabyrinth den langsamen Satz, das „Adagio“. Für dessen Umschlaggestaltung hat der Mitteldeutsche Verlag Halle die Kaltnadelradierung Pappeln von Susanne Theumer ausgewählt. Diese bildkünstlerische Landschaftsdarstellung umhüllt die 92 Gedichte André Schinkels und gibt seinem ruhig fließenden lyrischen Sprechen einen schützenden Rahmen. Der vorliegende Band ist in vier in sich geschlossene Gedichtkreise untergliedert, die gleichwohl miteinander in Korrespondenz stehen. Auch sie bilden eine Tetralogie, gleichsam die kleine Tetralogie innerhalb der großen. Versunkener Kontinent umfasst 22 Gedichte, Mondbucht, der Kernbereich des gesamten Bandes, 32, Stille Bewegung 16 und Das porphyrne Land wiederum 22. Der erste und der finale Teil des Gedichtbandes sind miteinander verspiegelt. In der Sprache der Architektur wird diese Struktur als Rondell, in der Sprache der Musik als Rondo bezeichnet.
           Das Gros der in Mondlabyrinth zusammengestellten lyrischen Texte ist zwischen 2014 und 2024 entstanden. Erweitert wurde es um eine Auswahl aus dem frühen Band Unwetterwarnung (2007), der Schinkels Gedichte aus seiner Zeit als Raniser Stadtschreiber enthält. Dass einige der in Mondlabyrinth versammelten Texte im Verbund mit Kunstwerken von Susanne Theumer, Andrea Ackermann, Claudia Richter, Cornelius Brändle, Uwe Klos und Frank Eißner bereits in originalgrafischen Veröffentlichungen zu lesen waren, zeigt zum einen, wie eng sie der Grafik verschwistert sind, zum anderen jedoch, wie organisch sie sich in die Struktur des vorliegenden Gedichtbandes einfügen.
     Die Gedichte sind durchweg in einem „hohen Ton“ geschrieben, manche strahlen klassisch-helle Klarheit aus, andere wiederum sind von romantischer Dichtung inspiriert und verströmen eine dunkel getönte, leise Melancholie.
          Nicht alle der 92 Gedichte können eine umfassende Würdigung erfahren. Deshalb habe ich aus jedem der vier „Kapitel“ einige mich besonders ansprechende Gedichte ausgewählt.
     Versunkener Kontinent enthält mit Apfel und Szepter, Da lagst du vor mir, Deine Schönheit und Die blauen Kirschen deiner Augen vier der schönsten Liebesgedichte, die André Schinkel bislang geschrieben hat. Als Beispiel sei das letztgenannte zitiert:

DIE BLAUEN KIRSCHEN deiner Augen
Küssend gepflückt – wenn wir
Uns lieben und du in mich/Verschlungen liegst: Laut und
Fern aller Nöte und Dinge.
Die Liebesgedichte werden ergänzt durch Gedichte, die Reisen in ferne Weltgegenden spiegeln, Reisen, die dem studierten Archäologen und Philologen wichtig waren und sind. Eines dieser Gedichte trägt sogar den programma-tischen Titel Auf Reisen. Aufbruch in die Ferne und Rückkehr ins Heimische werden mit feinem Bezug zu Goethe und Schiller ebenso thematisiert wie Schinkels Reise nach Armenien. Die Erfahrung dieser Reise, einer Begeg-nung zwischen armenischen und sachsen-anhaltinischen Schriftstellern, hat André Schinkel in seinem Poem Unter dem Ararat verdichtet. Religiöse Tradition, über Jahr-hunderte bewahrt, mischt sich mit dem Erschauen einer einzigartigen Landschaft und erfahrener Hilfe und Zuwen-dung.
Liebeslyrik und „Reisebilder“ stiften, gewollt oder ungewollt eine Verbindung zum Großen in Weimar, an den das vorletzte Gedicht des ersten Zyklus erinnert. Es trägt den Titel Fürstengruft. Sechs Zweizeiler bilden die lyrische Substanz. Der Reim wird erst in den letzten beiden Zweizeilern sanft aufgebrochen: Du gehst hinein, der Brodem fängt dich; Das edle Holz des Meisters knackt,-/Du bist erregt, Dein Atem senkt sich, Und legst die scheue Rose ab.
         Fürstengruft ist ein Liebesgedicht der anderen Art; ist doch die Lyrik Goethes, vor allem dessen erotische Dichtkunst, immer eine Quelle der Inspiration für André Schinkel gewesen. Weimar und dessen Umgebung sind es ebenso. Dazu gehört auch das Wieland-Gut in Oßmannstedt. Der Wieland-Forscher Jan Philipp Reemtsma ließ es aus Mitteln seiner Stiftung großzügig und sachkundig restaurieren. Wielands Grab ist eine Hommage an den lange in seiner wahren Bedeutung unterschätzten Dichter. Der erste der vier Gedichtzyklen, Versunkener Kontinent, könnte nicht besser abgerundet und beschlossen werden als mit den Christoph Martin Wieland gewidmeten Versen: Alles vergeht/ Nur nicht der Ruhm der wirklichen Dichter.
          Auch im zweiten Gedichtkreis Mondbucht gibt es drei Gedichte, in denen der Ruhm zweier „wirklicher Dichter“ besungen wird. Möge es sein. Für Wulf Kirsten ist eine zart gereimte Hommage an den neben Harald Gerlach wohl bedeutendsten Thüringer Land-schaftsdichter, ein Gedicht, in dem gute Wünsche an den in Klipphausen bei Meißen geborenen Dichter gebündelt werden. In Donnermond für Wulf Kirsten ruft André Schinkel die sächsischen und thüringischen Landschaften auf, die Wulf Kirsten so oft wandernd durchmessen und seinen Gedichten eingeschrieben hat. Und er beschwört die magischen Kräfte des Donnermonds – eines Vollmondes, in dem die  Gewitter ziehen – auf dass sie im Licht des Mondes die Kunst des Dichters, der André Schinkel Lehrer und Freund war, lautstark preisen:

[…]Nun  bleibst du – und mir
Bleibt nur zu gehen, zu schauen nach dir, groß, in der
Bleichen Uhr dieses Mondes, der dir zu Ehren wieder
Und wieder erklingt und lange (und längst sind wir fort)
Über den Ebenen, Plateaus, den Flüssen und Bergen
Und der Schrittspur, so denke ich, dröhnt, summt – ein
Riese, der scheppert und: unendlich langsam verhallt.            

In Trauer um Rosenlöcher gedenkt André Schinkel des Dresdner Dichters, der uns so oft mit seiner zugleich ernsten und heiteren Lyrik erfreut hat. Dieses Gedicht ist Hommage, Erinnerung und tröstlicher Segenswunsch für den Verstorbenen. Es bildet das Gegenstück zum Taufgedicht für Daniela Stein.
         So stehen im zweiten Gedichtkreis Mondbucht Anfang und Ende, Freude und Trauer, Natur und Kunst, Liebe und Enttäuschung, Verzweiflung und Sich-Mut-Zusprechen eng beieinander. Viele der 32 Gedichte dieses Zyklus sind von der Beziehung zwischen der Erde und ihrem Trabanten, dem Mond, durchdrungen. Der Mond bestimmt nicht nur die Gezeiten des Meeres, er steht mit den Seen, Flüssen und Weihern in Beziehung. Diese Konstellation durchzieht die Dichtung, Musik und Malerei der Romantik. Denken wir nur an Caspar David Friedrichs Gemälde Zwei Männer in Betrachtung des Mondes, Eichendorff/Schumanns Mondnacht, Franz Schuberts Der Wanderer an den Mond oder E.T.A. Hoffmanns Verrücktheiten eines Mondsüchtigen. Friedrich de La Motte Fouqué hat die Erzählung über die Wassernixe Undine geschrieben, die durch E.T.A. Hoffmann, Albert Lortzing und Antonin Dvořák Eingang in die Welt der Oper fand. Bei Dvořák heißt sie Rusalka und singt ihr berühmtes Lied an den Mond. In André Schinkels Gedicht Saaleck I ist auch von einer Wassergeliebten die Rede: Du aber, Wasser-Geliebte,/ Wartest bei den Strudeln unter dem Burgfuß auf mich…
         Gleichviel, ob sie eine Frau, ein magisches Wesen oder der Fluss selbst ist, sie wird als „Du“ angesprochen. Und dieses Du ist es, das den Dichter erwartet, dem er sich zuwendet, es anspricht und in seine Dichtung hineinzieht.
      Flüsse sind für ihn, wie es in dem Gedicht Bei Halle heißt, das mähliche Band der Hoffnung. Von allen Flüssen, über die sich André Schinkels Gesänge erheben, ist die Saale der wichtigste. Sie ist sein Schicksalsfluss. Sie bestimmt sein Leben, und zu ihr kehrt er immer wieder zurück. An der Saale gelegene Orte sind ihm zur Heimat oder zu lebenswichtigen Stationen seines Denkens, Lebens und Schreibens geworden. Halle ist ihm seit langen Jahren Mittelpunkt seines Lebens. In Blick von der Plattform heißt es: Seit wann liebe ich diese Stadt haltlos, und/ Was ihr entwächst – wie lange, frage ich/ Mich, hat das gedauert? Wo bin ich gewesen? Etliche Kilometer flussaufwärts ist Saaleck mit der Rudelsburg und der Burg Saaleck gelegen, ein Ort, an den sich André Schinkel zum Schreiben zurückzieht. Die Gedichte Saaleck I und II und Über dem Fluss erzählen von der Geschichte des weit in die Landschaft vorgeschobenen Örtchens und der Vertrautheit des Dichters mit Fluss, Bergen und Burgen. Folgen wir der Saale weiter flussaufwärts, erreichen wir Jena. Vor 10 Jahren, 2014, war André Schinkel hier Stadtschreiber. In dieser Zeit entstanden drei Gedichte, die einen engen Bezug zur Stadt, ihrer Geschichte und deren Bewohnern haben: Am Hang, Vor dem Neutor und Ein Ginkgo für Clara. Geschrieben hat sie André Schinkel in seiner Stadtschreiberwohnung in der Villa Rosenthal. Dieses Haus gehörte der jüdischen Familie Rosenthal. Eduard Rosenthal, Rechtsgelehrter und sozial wie kulturell engagierter Stadtbürger, schrieb 1919/1920 den Entwurf der ersten demokratischen Verfassung in Thüringen. Von den Nationalsozialisten totgeschwiegen, in der DDR  fast vergessen, ist er heute wieder als „Vater“ der ersten demokratischen Verfassung fest im historischen Gedächtnis des Landes Thüringen verankert. Seine Frau, Clara Rosenthal, wählte, als die Nationalsozialisten sie aus ihrem Haus vertreiben wollten, den  Freitod. Heute finden in der Villa Rosenthal Lesungen, Konzerte und Ausstellungen statt, und im Dachgeschoss wohnen die Stipendiaten. Wenn alljährlich am 9. November die Stolpersteine zum Klingen gebracht werden, ist es guter Brauch, aus André Schinkels lyrischer Hommage an Clara Rosenthal Ein Ginkgo für Clara zu zitieren:

[…] Unter die Gabel des Ginkgo
Sind wir gekommen, um dich zu sehen…
Der Kauz ruft, der Kernbeißer knackt, still in
Der Hasel für dich eine falbe Reminiszenz,
Die Spechte und Drosseln zucken im Schlaf,
Der Ginkgo berichtet, sagt deinen Namen
Zu uns. Der Fluß bricht sein Schweigen für
Uns. Ich sehe den Baum. Wir sehen den Baum.
Er legt dir ein Blatt auf den blinkenden Stein.                

André Schinkel ruft alles Lebendige im Garten der Villa auf, um von Clara Rosenthal zu erzählen, die alten Bäume und die Vögel, die im Garten singen und in seine Stadtschreiber-Klause schauen, selbst den Fluss, den er sehen kann, wenn er ans Fenster tritt. Sie alle sind ihm Zeugen des Lebendigen, die von Clara Rosenthal erzählen können, und sie sind ihm auch zugleich Garant, dass nichts von dem Schönen, was sie erlebt hat und dem Schrecklichen, was ihr widerfahren ist, vergessen wird und der Ort gerade deshalb die Magie des Guten noch immer in sich trägt. Er ist lebendig wie das Wort des Dichters.
         Stille Bewegung ist der dritte Gedichtzyklus betitelt. Bereits im ersten Gedicht Ich denke an die Stadt meiner Kindheit wird ein weiterer Schicksalsfluss André Schinkels besungen, die Mulde. Sie durchfließt seine Geburtsstadt Eilenburg, die Stadt seiner Kindheit, Bad Düben, und mündet bei Dessau-Roßlau in die Elbe. Im Gedicht über die Stadt seiner Kindheit heißt es: Es gibt Weniges, das/ mich so schmerzt wie der Verlust dieser Stadt./ Hier hat mein Unglück, das Halbparadies meiner Anwesenheit, begonnen, und ist/ zugleich die Möglichkeit meiner Erfüllung, meines – und wenn/ nur geträumten – Glücks verborgen bis zum heutigen Tag.
          Damit ist ein Ton angeschlagen, der mehrfach wiederkehrt, das Zwiefache im Leben des Dichters: Hineingeworfensein in die Verhältnisse zum Einen und Glücksstreben durch Lieben und Dichten zum Anderen, „Glücksqual“, wie das Imre Kertész einmal genannt hat. In Dübener Moment werden Ton und Motiv aufgenommen und fortgesponnen: Hier ging ich, als ich kaum schon gehen konnte – ein leiser/Eleve der Trauer und doch dem Leben und Lachen verwandt. Poetisch verdichtet kehrt das Motiv noch einmal in Meines Vaters Kind wieder:

Meines Vaters Kind, so werde ich gezeichnet sein immer,
Unter der Aufsicht des Halbstroms, vereint aus den Tälern
Lind der sächsischen Gebirge kommend, vor Energie schier
Die wässernen Köpfe schüttelnd bis zur Mündung, wo sich,
Ein schwarzer Bach, der Nachglanz der Seelen einmischt.

Hier kippt das Motiv der Herkunftsreflexion in die Molltonart und versinkt in Stille.
         Ein zweites Motiv, das in den Gedichten An Cidli, Meine Blicke ruhen auf dir, Spätes Lied, Späte Sonne, Stille Bewegung und An Cidli im Traum zu einem großen Thema mit Variationen aufblüht, sind die Liebesgeständnisse an die meist nahe, manchmal ferne Geliebte. Es sind Gesänge, genauer gesagt: Oden. Der Vater dieser lyrischen Form ist der in Quedlinburg geborene Friedrich Gottlieb Klopstock. Seine Oden haben das Zeitalter der Empfindsamkeit eingeläutet und den jungen Goethe wie den jungen Herder stark beeinflusst. Klopstocks berühmteste Ode An Cidli hat Klopstock seiner Geliebten und späteren Frau Margareta „Meta“ Moller gewidmet. Franz Schubert hat diese Ode unter dem Titel Furcht der Geliebten vertont. Indem André Schinkel „Cidli“ den Titeln und Texten seiner Gedichte einschreibt, zeigt er, dass Klopstocks Oden nichts literarisch Verzopftes an sich haben. Im Gegenteil, ihr Inhalt berührt uns noch heute, und die Form nutzt André Schinkel souverän für heutige Liebeslyrik. Er bricht sie auf und passt ihr Metrum seiner Sprache an. Auch das ist eine Stille Bewegung. André Schinkel nimmt in seinem Gedicht An Cidli den empfindsamen Ton Klopstocks auf und lässt ihn sanft im Heute ausschwingen:

[…] Atme, oh
Edle Okeanidin, mit mir, und komme mit kreisenden Lidern
Und Sätzen zu mir, wenn ich festliege in mir … und gib
Mir den Mut ein, den du fandst, auf deiner Suche und Reise zu
    Mir.
Einmal, sag ich, werden wir stehen, im Gebirge der Lüfte;
Rastlos treffen die Küsse uns dann, wir versinken in Wellen aus
   Glück.              

Der vierte, den Gedichtband beschließende Zyklus trägt den Titel Das porphyrne Land. Er bezieht sich auf die Porphyr-Vorkommen in der Hallenser Gegend und wird bereits im Gedicht Die Saale bei Wettin metaphorisch überhöht, wenn von  Porphyrbögen aus Licht die Rede ist. In einem weiteren Sinne bezeichnet porphyrnes Land die Schichtung der Gesteine und der Landschaft, wie sie uns im Laufe der Jahrtausende überliefert ist und von uns wahrgenommen wird. André Schinkel benutzt porphyrnes Land als Metapher. Durch deren poetische Kraft gelingt es, für die ihm lieb gewordenen Gegenden an Mulde und Saale, an Bosna und in Armenien die ihnen zugedachte und angemessene lyrische Gestalt zu finden. In den Landschafts- und Liebesgedichten dieses Gedichtkreises stehen noch stärker als in den vorangegangenen Ruhe, Schönheit und Gefährdung, auch Zerstörung eng nebeneinander. Und doch setzt André Schinkel ein starkes Zeichen, dass Lyrik in der heutigen Zeit möglich und notwendig ist. Sein Credo ist dem Gedicht Auf dem versehrten Ödfeld eingeschrieben.

Auf dem versehrten
Ödfeld vor dem
Fenster im Schutt
Blüht eine Rose.      

Ihr dünner Hals tanzt
Im wenigen Wind
Wie der zitternde Blick
Eines verhungernden

Igeltanreks –unwahr,
Wie nicht wirklich
In die Blicke gelenkt:
Eine staubige Aurora.

Rot vor grünem Grau.
An sie will ich mich
Halten in den Tagen,
Die noch kommen.                          

Dieses Credo, dieses leise Sich-Mut-Zusprechen ist wohl der Grund, dass auch im vierten Teil dieses Lyrik-Bandes Gedichte von großer Ruhe zu finden sind, in denen die karge Schönheit der Landschaft gepriesen wird, eben, weil ein „Du“ anwesend ist. Denn Liebe ist, was ein Gegenüber braucht – wie das Wasser den/ Weg sucht, die Pflanze zu finden, bevor die Knospe verlischt.
        Das Gedicht bei den Bäumen am Fluss wirkt, als sei es das lyrische Pendant zu Susanne Theumers Kaltnadelradierung Pappeln. In den Gedichten Am Wehr hinter der Bogenbrücke, Kröllwitz gegenüber im Wind und In der Strömung werden heimische Gewässer ins Bild gesetzt, ehe André Schinkel den geographischen Horizont weitet, in dem er einem Fluss im Land seiner Sehnsucht besingt: Die Bosna:

[…] und noch
Immer liebe ich es und fürchte um es … und will
Nicht verstehen, wohin es treibt, mit seinen

Weiden und wirklichen Bergen, seinen Tälern, in
Die seine Flüsse gelegt sind: Vrbas und Drina,
Miljacka, Neretva und Buna, winzig, eine winzige
Bosna… und eben die Bosna, nach der dieses

Land heißt, nach dem ich in Sehnsucht lebe, seit
Ich es sah, einatmete, roch und: wieder verließ.
Vrelo Bosne… ach, könnte ich einmal dort stehn –
Und nachsehen, ob Frieden ist, vollkommen.                        

Im abschließenden Gedicht dieses Lyrik-Bandes führt uns André Schinkel in die Grenzregion zwischen Armenien und Aserbaidschan, ins apostolische Kloster Gandzassar. Das Gedicht heißt Abschied von Gandzassar und korrespondiert mit seinem Pendant Unter dem Ararat.
        Obwohl das Kloster Gandzassar während des militärischen Konfliktes um Bergkarabach 1991 beschädigt und ein Gebäude zerstört wurde, ist es weiterhin in Betrieb und Sitz des Erzbischofs der Diozöse Arzach. In seinem Langgedicht erzählt André Schinkel von der durch Krieg versehrten Landschaft und ihren Menschen.
        Das bewegende Gedicht Abschied von Gandzassar endet mit folgenden Versen:

[…] Ich stehe in Goris, im Traum,
Halte Ausschau und sehe die herbstlichen Lichter verlöschen,
Falb im Gavit, unter der Sonne, von der es heißt, daß sie keinem
Gehört … Solange man träumt, kehrt auch die Liebe zurück.
Und kehrt mit dem Treiben der Flüsse die Sprache – sich noch
Einmal verstehen zu können? Von Osten blakt eisern und
Fahrig der Mond. Der Azur dreht sich langsam ins Schwarz.            

In diesen Versen scheint abermals die Porphyr-Metapher auf. Sie wird von der Geologie auf die Geschichte übertragen, und ihr Muster wird als Gewaltzusammenhang sichtbar, der Leid über Land und Menschen gebracht hat. Nur im Traum-Gedicht blinkt noch ein Fünkchen Hoffnung.

André Schinkels Mondlabyrinth endet mit zwei Abschiedsgedichten Abschied von den Perseïden und Abschied von Gandzassar. Liest man das von schmerzvollen Gedanken und Gefühlen durchzogene Gedicht Tonsur gleichfalls als Abschiedsgedicht, so endet der Band gleich mit einem dreifachen Abschied-Nehmen. Hier ähnelt Mondlabyrinth Gustav Mahlers  Lied von der Erde, dessen letzter Satz Abschied immer leiser werdend verklingt.
          Mit Mondlabyrinth hat André Schinkel zu lyrischen Formen gefunden, in denen er die Freuden und Leiden unserer Zeit und seines Lebens in einprägsamen Bildern verdichtet. Die Schrecken und Gefahren werden durch diese Formen nicht verdoppelt, sondern durch ein ruhig fließendes Sprechen gebändigt. Für mich ist Mondlabyrinth der bisher reifste und mich als Leser am stärksten berührende Lyrik- Band André Schinkels. Er weckt Neugier und Erwartung auf den „Schlussstein“ der Tetralogie.  


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