André Schinkel: Die Schönheit der Stadt, die ich verlasse
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Dietmar Ebert
André Schinkels Erzählungsband Die Schönheit der Stadt, die ich verlasse
versammelt Prosa-Arbeiten aus 30 Jahren. Er beeindruckt durch poetische Reife
sowie thematische und stilistische Vielfalt.
André
Schinkels schmaler Prosaband Die
Schönheit der Stadt, die ich verlasse hatte es im Jahr 2022, da allerorten
die Auswirkungen der Corona-Pandemie nachzitterten und Russlands Angriffskrieg
gegen die Ukraine das gesamte Leben in Europa überschattete, nicht leicht, vom
Publikum wahrgenommen zu werden. Es sind nicht die großen Themen der Zeit, die
hier verhandelt werden, es sind die großen Themen des Einzelnen, des Dichters,
der über sein „In-der-Welt-Sein“ schreibt, seine Bemühungen, wie ein
„gelingendes Leben“ zu führen sei und welche Zweifel ihn hierbei immer wieder
beschleichen. Dem Band ist ein kurzes Zitat von Robert Seethaler vorangestellt:
Es gibt keine Zufälle, dachte er. Alles
ist entweder Arbeit oder Bestimmung.[…] Halt dich gerade. Es ist noch nicht
Zeit.
André
Schinkel schreibt in einer lyrisch getönten Erzählsprache, der das Verdichten
ebenso eingeschrieben ist wie der Hang zum ausschmückenden Detail. Die Texte
dieses schmalen Bändchens zeichnen sich wie die seines Gedicht- und Essay-Bandes
Parlando (2012), seines Prosa-Bandes Das Licht auf der Mauer (2015) und seines
Lyrik-Bandes Bodenkunde (2017) durch
eine unverwechselbare Stimme und einen ganz eigenen Rhythmus seines poetischen
Sprechens aus. In den gelungensten Texten ist eine Reife spürbar, die es André
Schinkel ermöglicht, über die schmerzhaftesten Ereignisse seines Lebens ohne
Bitterkeit zu schreiben. Die im vorliegenden Band versammelten Texte stammen
aus den Jahren 1993 bis 2022. Zeitlich getrennt entstandene Texte treten nun zueinander
und korrespondieren miteinander. Texte wie Stadt
meiner Kindheit. Augenblicke, die erste gemeinsame Arbeit mit Susanne
Theumer, und Sommerwurz, oder Ein
unsichtbarer Garten mit seinem engen Bezug zu den Fotografien von Uwe
Jacobshagen mögen vielleicht im Zusammenklang von Wort und Bild eine noch
stärkere Wirkung entfalten. Hier, allein auf das Wort gestellt, verlangen sie
ein hohes Maß an Konzentration und Imaginationskraft der Leserin oder des
Lesers. Nach der zweiten, spätestens der dritten Lektüre verströmen jedoch
gerade diese Texte ihren Reichtum an Phantasie und Schönheit.
Bereits
in dem siebenteiligen Eingangstext Blick
auf die Stadt, einer Art Ouvertüre, werden die zentralen Themen des
gesamten Bandes angeschlagen und immer wieder variiert. Gemeinsam mit der
zeichnenden oder radierenden Gefährtin Theumer entdeckt der Dichter die
Schönheit der Stadt, in der er lebt und die er am Ende nicht mehr verlassen
kann und will. Dieses gemeinsame Entdecken, das Aufzeichnen in Wort und Bild,
das gemeinsame Sprechen über das Wahrgenommene – hier nimmt die Beziehung
zwischen Ich und Du (Martin Buber)
innerhalb der Erzählung eindrucksvoll Gestalt an. In Pfännereck. Panorama schreibt André Schinkel: Du zeichnest, ich denke und halte im Kopf die Notizen fest, die ich
später, wenn ich sie lange im Kopf wie ein Maulbrüter trug, in meine farbigen
Hefte eintrage. […] Ich hoffe, dass mancher der Augenblicke, die ich darin
versuche zu fangen, seiner eigenen Sterblichkeit entsteigt und damit auch meine
verkleinert. So wie du dich zeichnend dem näherst.
André
Schinkel ist ein lyrischer Erzähler, der lange das in der Natur- und Stadtlandschaft
Geschaute durchdenkt und verdichtet, ehe er es behutsam „zur Sprache bringt“. Wie
ein Tagträumer vernimmt er Vogelstimmen, hört ihnen lange zu und kann sie exakt zuordnen. Durch dieses genaue
Wahrnehmen gewinnt der Autor ein Reservoir erzählerischen Rohmaterials, das
gesammelt, bewahrt und geformt werden will.
Ein
Erzählstrang befasst sich mit der Entdeckung der Stadt, in der André Schinkel
lebt und die ihm längst zum inneren Lebenskreis geworden ist. Ein zweiter führt
ihn in die Stadt seiner Kindheit, ins sächsische Bad Düben. In Fliegen können und Sleeping Playgrounds werden sehr geschickt Kindheitserinnerungen
mit dem heutigen Erkunden der Stadt, in der der Autor aufgewachsen ist,
verflochten. Mag sein, dass die Wut und der Zorn seines Vaters, der sich später
das Leben nahm, die Jahre der Kindheit überschattet und die Erinnerungen
verdunkelt haben. Doch im letzten Jahrzehnt ist André Schinkel immer mehr zu
einem Autor gereift, der seine natürliche und soziale Umwelt sehr genau
beobachtet und seine Begegnung mit ihm nahestehenden Menschen verständnisvoll
beschreiben kann. Mit dieser Lebens- und Schreibhaltung lassen sich auch andere
Kindheitserinnerungen erzählen, wie in dem mir liebsten Text des Bandes, der
mit Albumblatt überschrieben ist. In
ihm porträtiert der Autor seinen Großvater, den Vater seiner Mutter, als
liebenswerten, gütigen Menschen. Eine leise Melancholie und ein feiner Humor
durchziehen diesen Text, der ein besonders Licht auf die Stadt der Kindheit
wirft:
Ich sehe das Antlitz, den ruhigen, auch verschmitzten Blick, diese >sächsischen< Züge und bemühe mich, darin die meinen zu erkennen. Es ist ein langwieriges Spiel. Es ist einfach sehr viel Wasser durch die Stadtbäche, in denen ich einst Gründlinge fing, und über die Mulde gen Norden geflossen. Die Schönheit der Stadt, in der ich lebte und mein Großvater in einem aufgelassenen Grab liegt, diese Schönheit der Stadt, die ich nun in Gedanken verlasse, die ich längst verlassen habe, um wiederzukehren und an alles noch einmal zu rühren und mich zu erinnern, ich werde sie nicht vergessen…
Den
ruhigen, verschmitzten Blick auf sich und die Welt gibt es in ein paar
Prosa-Stücken dieses Bandes, vor allem in der heiter-ironischen Erzählung Im Geflecht und in dem humorvollen
kurzen Text Synthiepop. In Im Geflecht
schildert der Erzähler, dass nach einer Gallenoperation per Ultraschall
entdeckt wird, dass er nicht nur ein einzelnes Buch, sondern gleich eine ganze
Bibliothek mit wertvollen bibliophilen Exemplaren der „abendländischen“
Literatur in seinem Bauchraum mit sich trägt. So wird er für die Ärzte und
sogar für den Kulturminister zu einem wertvollen Menschen.
Man
baut ein eigenes Haus für ihn, und Herr van Hoffens schreibt ihm täglich
Bittbriefe, ihn nach seinem Tod plastizinieren zu dürfen, damit er künftig
einen Platz im Weltkulturerbe einnehmen könne, wie der Naumburger Dom oder die
Himmelsscheibe von Nebra. Vorerst beschließt jedoch der Erzähler, 160 Jahre alt
zu werden und bis dahin die Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen. In dieser
Erzählung wird jedes phantastische Detail genussvoll ausgeschmückt und
selbstironisch konnotiert. Ganz anders ist der kurze Text Synthiepop gebaut. Synthiepop - so heißt der Hund des Erzählers.
Der Erzähler sagt zu ihm „Synthiepop, was
haben wir nicht schon alles erlebt!“ Und Synthiepop lächelt mich an. Mehr ist
nicht zu sagen. Das Glück, es kann so einfach sein.
Bisweilen
kann das Leben wirklich einfach sein, aber bisweilen kann es auch sehr
kompliziert werden Darüber zu schreiben führt an die Grenzen des Sagbaren, an
die Grenzen der Sprache. André Schinkel findet dann wie in Ein Minotaurus, Umbo und Ultramrarin zu einem mythisch
grundierten Erzählen. In Ultramarin,
einem der besten, poetisch-dichtesten Texte dieses Bandes wählt der Erzähler
diese Farbe, um die Tiefe des menschlichen Daseins und die Höhe der Träume zu beschreiben und immer wieder dieses damit
verbundene Leuchten zu beschwören, für das Ultramarin als Metapher steht. Zu Ultramarin steht die
mythisch-phantastische Erzählung Reise im
Traum, oder an Dante denken in enger Korrespondenz. In der Mitte des Lebens
keimt der dunkle Gedanke in uns auf, dass wir längst verlernt, aber nicht
vergessen haben: aus der eigenen Tiefe
(zu) schöpfen. Grund genug für den Erzähler, seine Leserinnen und Leser ins
Reich der Träume zu entführen und vor ihrem inneren Augen Szenen aus Dantes Divina Commedia erstehen zu lassen, den
Blick auf die Höllenkreise, die Zweifel, Selbstzweifel und –anklagen im Purgatorium und die nie zu stillende
Sehnsucht nach dem Paradiso. Und
wieder und wieder wird die Frage umkreist, ob nicht die Monster in der Tiefe,
vor denen wir uns fürchten, wir selbst sind. Dieses Paradoxon ist nicht
aufzulösen, der Erzähler liefert jedoch eine Reihe von Variationen, wie es
auszuhalten ist. Dazu gehören die phantasiereichen Szenen aus Dantes Divina Commedia ebenso wie unsere innere
Wirklichkeit im Reich der Träume. Träume ergänzen und korrigieren unser Erleben
in der „äußeren Wirklichkeit“.
Verkörpern
Reise im Traum und Ultramarin eine besondere Höhe
mythischen Erzählens in André Schinkels neuem Erzählband, so weisen die auf
genauen Naturbeobachtungen beruhenden Texte Der
Nachtigallschlag, Gott liebt die
Vögel und Hohltaubenlied eine
besondere Nähe zum lyrischen Sprechen auf. Hohltaubenlied
ist sogar ein in Prosa geschriebenes Liebeslied, und ein besonders schönes noch
dazu.
Wenn
auch die Inhalte, Formen und die poetische Substanz der 42 Prosaarbeiten des
vorliegenden Bandes sehr verschieden sind, so sind es doch allesamt Texte, die
in einem urbanen Umfeld entstanden sind und im weitesten Sinne von urbanem
Leben, dessen Wahrnehmung und poetischer Darstellung erzählen.
Zwei
Städte sind es, die eine ganz besondere Rolle in den Erzählungen dieses Bandes
spielen, ich sagte es schon, die Kindheitsstadt Bad Düben und André Schinkels
heutiger Lebensmittelpunkt: Halle. Beide liegen an Flüssen, die in die Elbe
münden, die Mulde und die Saale. Vor allem letztere ist für den Dichter so
etwas wie sein Schicksalsfluss und durchzieht leitmotivartig seine Lyrik.
Es ist
kein Zufall, dass nach dem literarischen Prolog
die siebenteilige Erzählung Blick auf die
Stadt André Schinkels Erzählungsband einleitet und dass er mit der
neunteiligen Erzählung Pappeln, Feldmark beschlossen wird. Es sind
Texte, in denen der Dichter und seine zeichnende Gefährtin behutsam ihre Stadt
Halle erkunden, ihre äußere Erscheinung, aber vor allem ihre urbane Substanz,
immer deutlicher wahr- nehmen und sie bildkünstlerisch und literarisch ins Werk
setzen. Der Eingangs- und der Schlusstext bilden gleichsam einen literarischen
Rahmen – in der Sprache der Architektur hieße er „Rondell“, in der Sprache der
Musik wird er „Rondo“ genannt. An dieser Stelle sei auch noch einmal
ausdrücklich betont, wie gut der Bauplan ist, der die 42 Erzählungen ordnet und
sie miteinander korrespondieren lässt. Ob die Zahl 42 für André Schinkel eine besondere
Bedeutung hat, kann nur er selbst sagen, aber immerhin hatte das erste
gedruckte Buch, die „Gutenberg-Bibel“, 42 Zeilen pro Spalte.
In der
letzten Erzählung des schmalen Bandes ist vom Gesang der Ammer die Rede, vom
Rauschen der Pappeln, vom Übergang des Frühlings in den Sommer. Er endet nicht
mit dem Wegfahren des Dichters und der ihm verbundenen Frau, die ihr
Zeichengerät immer mit sich führt, sondern er endet mit Worten, die ins Offene
führen: Aber wir werden wiederkommen,
sagst du, wieder und wieder, und das erfüllt mich, wenn ich daran denke, mit
Hoffnung.
André Schinkel: Die Schönheit der Stadt, die ich verlasse. Halle (Mitteldeutscher Verlag) 2022. 176 Seiten. 16,00 Euro.