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Andre Rudolph: Blicktot, Nixe <Klaffende Tags>

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Dirk Uwe Hansen

Weberei



Donnerwetter! (Erstreaktion). Ein Gedicht auf 92 Seiten, in sieben Kapiteln, oder doch eine Sammlung von Einzelgedichten? Was Andre Rudolph hier vorlegt, nötigt so oder so zur Bewunderung. Eine zweite Reaktion kann nicht ausbleiben, der Wunsch nämlich, sich mit diesem Buch für einige Zeit zurückzuziehen, wäre es nicht so abgedroschen gar auf die sprichwörtliche einsame Insel, um der Fülle dessen, was es bietet wenigstens annähernd gerecht zu werden. Wobei es natürlich nützlich wäre, wenn diese einsame Insel über eine gutsortierte Bibliothek verfügte.

Eine lyrische Erzählung, ein Gedicht in einzelnen Gedichten, fast jedes eine Seite lang mit kürzer werdenden Zeilen, so dass es eine Form bekommt, die an Theokrits Syrinx erinnert: dass dieser Gedanke nicht nur meiner professionellen Deformation zuzuschreiben ist, zeigt sich, wenn weitere Parallelen zur hellenistischen Dichtung auftauchen. Der Bezug zu anderen Autoren von Pindar über Sibylla Schwarz und Paul Heyse bis zu Jesse Thor etwa, den die den einzelnen Kapiteln vorangestellten Zitate herstellen, und der unbekümmert eklektische Umgang mit der (Literatur)geschichte und verschiedenen literarischen Registern („sagt Strolchi, sagt Pan”), den Rudolph so sicher beherrscht und dabei zeigt, dass man kein Zwerg sein muss, um auf den Schultern von Riesen zu stehen.

Zusammenhängend lesen lassen sich die einzelnen Stücke des Bandes weniger im Sinne einer fortlaufenden Erzählung, eher als eine Bewegung in einem ständig sich erweiternden Raum, wie es der vom Autor selbst als Klappentext vorangestellte Hinweis nahelegt. Oder, auch das ein aus der Antike bekanntes Bild für den Text, als ein sich auf einer ständig neu und weiter abgesteckten Fläche ausbreitendes Gewebe, bei dem die einzelnen Stücke durch kleine voraus- und zurückweisende Fäden miteinander ebenso verflochten werden, wie die Gedichte selbst so sehr in sich selbst verwoben sind, dass es mir nicht gelingt, einzelne Formulierungen oder Verse als Beispiele herauszuziehen. So sei denn eines im Ganzen angeführt:

<phrasentroja to go>

echo echo jetzt aber doch schilf rohr aus versehen mitten in der provinz
metropole & schwanen teich auch wasser vögel ihre verstreuten debatten bei träge
ent nimm dem schrein eine über zählige nymphe und lad sie zum essen ein am besten zwar
ist wasser aber zur not tut es auch wein spare nicht am setting herz reiches
schwesterlein ganz von allein brennt sich das feuer leer & nieder & die
nacht & die wacht & wer ver nünftiger rede nicht fähig ist soll orakeln
<hören die mit> und ohne pro krasti nation kein oden ton o phrasen
troja togo tobak test o steron wahn mit plan öko strom station o tödlicher hades
fluss o lymphische kampf spiele mit streu munition jetzt reichts
aber un entwegt geht die suche nach position hast du sie
schon maul helden sind sie alle samt die nach dem kunst
schönen rufen und ich muss immer wieder um dich
kreisen <liebe> wie oft hab ich schon abgeschworn
stell vertreterin meiner an sprache und ort dieser
geister ver sammlung adresse meiner physischen
oxidation stellen fest er heblichen ab rieb bei
un übersichtlicher sippen situation stellen
fest vergitterte heidnische muse &
wandernde kreise neue passion

Ein kunstvoll verwobener Text, und je nachdem, mit welchem Fadenzähler man an ihn herangeht, werden unterschiedliche Lektüren möglich; Sippe und Schwesterlein binden dieses Stück in das Ganze der Erzählung ein, Antikes taucht auf, sei es im Schilf, das Pan und Syrinx evoziert, sei es im doppelten Echo. Pindars erste Olympische Ode erscheint als Zitat (ἄριστον μὲν ὕδωρ) und Andeutung (αἰθόμενον πῦρ), in spitzen Klammern schiebt sich womöglich noch ein zweiter Sprecher in den Text, und immer mehr Fäden, die Teile eines Musters, und Muster, die Teile größerer Muster sind, ließen sich entdecken.
Die gleichzeitige Betrachtung von Faden und Muster kann verwirrend und auch beglückend sein, oder aber die beiden Zustände einander bedingen lassen, wie Rudolphs Technik – die mir, das gestehe ich gern, beim ersten Blättern manieriert erschien –, Komposita aus ein ander zu nehmen und dabei etwa plötzlich die Nation in der Prokrastination auftauchen zu lassen. Ähnlich wie dieses etymologische Spiel ermöglichen die in die Texte gestreuten fettgedruckten Texte auch immer wieder eine „andere Reise” oder Lektüre, so als fände man – um das Bild noch einmal zu strapazieren – auf der Rückseite eines Gewebes noch ein weiteres, bei der Betrachtung der Vorderseite unsichtbares, Muster.
Es wird jeder Leser dieses Buches seine eigenen Wege durch die Texte finden. Mögen es viele sein!


Andre Rudolph: Blicktot, Nixe <Klaffende Tags>. Gedicht. Wiesbaden (luxbooks) 2015. 120 Seiten. 19,80 Euro.


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