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Amira Hess: Fünf Gedichte

Werkstatt/Reihen > Reihen > Lyrik aus Israel

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Foto: Michal Fattal
Amira Hess

Fünf Gedichte
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer


Zu dem Vogel

Zu den Ufern Mesopotamiens
schickte ich meine Seele, ein Vogel,
und keine Grenze war gesetzt jenem Moment  
des Springens ins Herkunftslose.

Die Wände der Zeit sind dem Ort enthoben.
Die Wände des Orts sind der Zeit enthoben.

Auf der Reise zwischen den Tagen
glitt ich, verrückt vor Sehnsucht.
Sechs Flügel für die Sehnsucht, sechs Flügel für eine einzige
und sieben Ströme Erbarmen,
und ich schickte meine Seele.



*
Oh, auf dunklen Wegen die Fackel seines Herzens, denn sie flackerte mir Leuchten gleich zu
auch damals war ich verfinstert von heiliger Scheu
und ich fiel auf mein Antlitz zur Erde
wegen des Lichts, das vergossen aus dem Herzen eines Menschen
und er selbst ist eine Waise
auf Weges Schwellen sich bewegend zwischen Begehren und Traum
zwischen Erinnerung und Sehnsucht
zwischen Umherirren und meinen Widerfahrnissen
und siehe, ich bin seine Frau
damals fiel Regen auf die Nacht, als wir uns, Körper und Seele, berührten zum Spiegel hin
da waren wir Silhouetten
schwankten in einem wundersamen Tanz
und vom Fenster drang Mondlicht herein,
wie das Mondlicht, das den Pfad bedeckte damals
als ich neu eingewandert war
über den Sand wandelte
wo man meine Schritte zertrat
und die Fußabdrücke niedersanken

und wer in Liebe versank, versank
wessen Herz schmolz in jener Nacht, Honig floss über ihn
wie das Wasser des Euphrat
wer seine Seele gärte im Glanz werdender Mediziner
weilte
im Gleißen und Glanz
einer gerahmten Welt wie lichte Brillanz
und sieben Feen über uns
in uns Engel und um uns her ein Orchester
bis in den hellen Morgen
und ich öffnete meine Augen und siehe da, eine Feuersäule
siehe, der Mann Gottes
siehe, wir, Fleisch und Blut und der Mann Gottes ist mit mir mit uns sie alle sind der Mann
Gottes



*
Plötzlich der Morgen bricht nachts einen Lichtstrahl heraus
wie einen Schofar-Stoß
und das Herz von innen erlebt wieder
die Explosion der Hoffnung
wie ein Horn der Befreiung
in den Windungen der Zeit
Menschen ihr seid mir Edelsteine
eine handgearbeitete Fassung
eingearbeitet in die Finsternis des Lebens
möge Gott mit uns sein
uns kleine Tröstungen schenken
der Liebe
wachsend auf lebendigen Feldern



*
Heute Nacht war eine sengende Dunkel-Flamme
Zeit bedeckend
und verschlossene Geheimnisse
aus deren Büchse der Pandora
zu wem werden sie kommen
wie die Schlange der Heilkraft
und einer rief zum anderen Seelen-Kerzen und sprach
heilig heilig Zebaoth
fließend
und ich wusste nicht
was das Verschanzte spricht
nur der Kompass der Seele
wie eine Fackel brennt
und ich sprach bitte mein Herr



*
Ich habe euch geheiratet, Buchstaben
in meinem Blut wallt ihr
Worte war ich in der Falle
im Schoße eurer Natur schöpfte ich Kaskaden
und euer Fangnetz der Verknüpfung galoppierte durch mein Blut
Fische in mich zu legen
und den Leviathan
zu Friedens-Schnipseln ausgebreitet auf der weiten Fläche
denn ich bin das blitzende Schwert, das sein Inneres umkehrt
um rein zu sein für endlos lange Zeit

und ich kam zur Hochzeit
mit blendend hellen Freuden in mir
die Traurigkeit pflückte ich zu Wein
legte in die Weinrebe die Reinheit der Traube

ihr, die ihr mir beigeschlafen, Vergewaltigerinnen meiner unberührten Seele
ihr wart mir wie Haftstrafe
und Wundveband
und Lebens-
Droge


„Zum Vogel“, in: Die Bulimie der Seele (Habulimja schel haneschama), Helikon 2007; alle anderen Gedichte, in: Amira Hess: Ein Denkmal in meinem Herzen (Gal’ed belibi), Tel Aviv: Hoza’at Gama 2016.


Amira Hess, geboren 1943 in Bagdad, Irak, entstammte einer wohlhabenden jüdischen Familie, aus der über Generationen Dichter, Gelehrte und Rabbiner hervorgegangen waren. Sie gilt als eine der herausragenden mizrachischen Dichterinnen und wegweisende Stimme des mizrachischen Feminismus. 1951 immigrierte sie nach Israel und kam zunächst in einem Übergangslager (Mabara) unter; später zog Amira Hess nach Jerusalem, wo sie bis zu ihrem Tode im Dezember 2023 lebte. Für ihren ersten Gedichtband Und der Mond träufelt Wahnsinn (Wehajareach notef schiga’on), den sie 1984 mit 41 Jahren veröffentlichte, wurde ihr der Luria Prize verliehen. Es folgten 12 weitere Gedichtbücher – der letzte war 2022 Mein Gesicht ist ein Ozean (Hapanim scheli okjanos) –, für die sie Auszeichnungen wie den Preis des Premierministers (2005) und den Amichai Preis für Poesie (2015) erhielt. Auf kunst-fertige Art setzt sie in ihrer Lyrik die verschiedenen linguistischen Register des Hebräischen, Bruchstücke aus der Heiligen Schrift und eine schlichte, mitteilsame Sprache in Verbindung.

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