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Amir Eshel: Dichterisch denken

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Jan Kuhlbrodt

Amir Eshel: Dichterisch denken. Ein Essay. Berlin (Jüdischer Verlag) 2020. 279 Seiten. 24,00 Euro.

Zu Amir Eshel. Dichterisch denken


In dieser Gestalt bildet sie den Gegenstand einer Unterhaltung, die in einem Zimmer, also nicht in der Consiergerie stattfindet, einer Unterhaltung, die, das spüren wir, endlos fortgesetzt werden könnte, wenn nichts dazwischen käme. (Paul Celan in: Der Meridian)

Unsere Gespräche über Kunst also sind immer schon Fortsetzungen, Fortsetzungen einer unterbrochenen endlosen Unterhaltung. Sie wird unterbrochen durch Krieg und Vernichtung, Vertreibung. Den Tod, den Menschen über Menschen bringen, und durch den Zwang, der Menschen verstummen lässt.

In seinem Buch „Dichterisch Denken“ versammelt Amir Eshel Essays zu der Kunst, die weit über das Dichterische hinaus betrachtet wird und letztlich Celans Satz zur Bildenden Kunst hin verlängert. Das ist die eine Seite, die Seite der Kunst, die diese Arbeit mit der anderen, ihrem gewissermaßen philosophischen Gegenüber, konvergieren lässt. Dabei geht Eshel von Hannah Arendts Fragestellung aus, ob es ein Denken geben könne, das nicht tyrannisch sei.
Eshels These besteht darin, dass wir ein solches poetisches Denken dringend benötigen, „damit wir die Diversität und den Reichtum unseres geistigen Lebens schützen und kultivieren können. Und diese wiederum sind essentiell, um den Angriffen auf Freiheit und Menschlichkeit etwas entgegensetzen zu können, Angriffen, die derzeit überall auf der Welt stattfinden.“

Im ersten Essay beschäftigt sich Eshel mit jeweils zwei Gedichten von Paul Celan und Dan Pagis. Wie Celan wurde Pagis in einer deutschsprachigen jüdischen Familie in der Bukowina geboren. Allerdings ist er zehn Jahre jünger als Celan. Er wurde in den Vierzigerjahren deportiert, zur Zwangsarbeit verpflichtet. 1944 gelang ihm die Flucht aus dem Konzentrationslager und 1946 emigrierte er nach Palästina. Dort begann er auf Hebräisch zu schreiben.

Die Gedichte beider Autoren sind von jener existentiellen Erschütterung geprägt, die von der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus in Europa ausging.
    Eshels Interpretation der Gedichte beider Autoren beginnt mit den Schlussversen aus Celans Gedicht „Zürich, zum Storchen“, das auf einem Treffen Celans mit Nelly Sachs gründet. „Wir/ wissen ja nicht/ weißt du/ wir/ wissen ja nicht,/ was gilt.“ Während Nelly Sachs an einer Vorstellung Gottes festhält, zeigt sich Celans Denken von einem Skeptizismus durchzogen. Es mag sein, dass Gott existiert, aber wenn, dann hat er sich aus den Geschicken der Menschen zurückgezogen. Radikaler noch fällt das Urteil in den beiden Gedichten von Dan Pagis aus, die Eshel zitiert. In der ersten Strophe von „Zeugenaussage“ heißt es:

Nein, Nein. Es waren bestimmt
Menschen. Die Uniformen, die Stiefel.
Wie soll ich das erklären. Sie waren Geschöpfe ihm
zum Bilde.      

Aber sowohl Celan, als auch Pagis weisen nach Eshels Interpretation in ihren Texten über die Ausweglosigkeit der Situation hinaus, und Eshel sieht in ihnen die Forderung nach einer neuen Ethik anklingen.
    Im Rückgriff auf amerikanische Philosophen wie Richard Rorty und Hilary Putnam einerseits und auf den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber sieht Eshel Grundsteine einer solchen Ethik, die Toleranz im Sinne einer Anerkenntnis der Fremdheit entwickelt und somit das Denken jenseits des Tyrannischen einfordert.

Eshels Buch ist, wiewohl es Kunst zum Gegenstand hat, ein eminent politisches Buch. Und es ist ein Buch zur rechten Zeit, da Identitätsdenken von Links und Rechts schauerliche Blüten treibt. Diesen setzt Eshel ein Anerkenntnis der Fremdheit und mit Celan eine Atemwende entgegen.


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