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Amichai Chasson: Drei Gedichte

Montags=Text
(Foto © Bar Gordon)
Amichai Chasson
Drei Gedichte
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer


Aus: Medaber im ha-bajit (Im Gespräch mit Zuhause), Raʼanana: Even Hoshen 2015

Es geschah, dass ich

Es geschah, dass ich selbst Löcher nähte, die im Fleisch meiner Seele aufklafften
dass der Körper eine große Phiole war, in der ich eine Herberge fand, als es stürmte
Strommasten wankten, Bäume zusammenbrachen und Autos im Wind flatterten
Schönes auf der Erde zu zerstören

Es geschah, dass ich eine verborgene Scherbe war im Finstern erschöpft vom Licht, dass der
                Burgherr
mich nicht schlafen ließ, ich mondsüchtig wandelte des Tags und mich jagen ließ des Nachts
in meinen besten Gewändern von fernen Festungen zu brennenden Palästen
um heimlich zu rauchen, selbstgedrehte Geheimisse

Es geschah, dass ich ein großer Vogel war ohne Schwung, mit Flügeln schwarz von Erdöl
das an den weißen Spitzen haftete und das Lachen der Witwen gewährte keine Ruhestatt
und ich tröstete mich mit der wenigen Nahrung, die wie ein herrenloses Gut auf dem Boden
              der Welt lag
und niemand half, stand mir zur Seite

Anmerkungen:
Im Midrasch Bereschit Rabba 39, 1-2 bezeichnet Gott sich gegenüber Abraham, der Land, Heimat und Vaterhaus verlassen soll (Gen 12, 1) als „ba’al ha-olam“ (Herr der Welt). In der knappen Parabel vor dieser Selbstaussage wird Gottes Herrschaft mit der eines „Burgherrn“ (ba’al ha-bira) verglichen.
Der letzte Vers „und niemand half, stand mir zur Seite“ ist im Hebräischen ein Echo zu jenem Satz, mit dem Evas Verhältnis zu Adam definiert wird (Gen 2,18). Es geht vor allem um die Formulierung „eser“ mit der suffigierten Präposition „ke-negdo“ (wörtlich: eine Hilfe-wie-ihm gegenüber), die verschieden ausgelegt wird. Die Übersetzung hält sich an die deutsche Version von Naftali Herz Tur-Sinai.  

Großes Schweigen

Ein Mensch schreibt sein Haus neu
innen der Grundriss, außen ein Schmerzherd.
Nackter Beton überzieht erleuchtete Zimmer.

Ein einziges Fenster eröffnet eine ganze Welt:
Bäume, Kinder, Varianten von Bürgersteigen
wohlbeleibte Frauen schreiten über den Pfad.

Nie hat man an seine Tür geklopft.
Nie hat er sein geschriebenes Haus im Plural publiziert.
Die Schaulustigen sind vor den Schmerzen geflüchtet
die paar Neugierigen nahmen vor den Hunden Reißaus.

Und in dem stillen, möblierten Haus
ist das Licht glatt zwischen die Wände gespannt.



Aus: Bli ma (Sinn Lose), Jerusalem: Mosad Bialik 2018

Mond-Hain

Nachts erklingt Geheul
tief im Innern Jerusalems
und wer nicht schlafen kann geht hinaus, sucht
in menschenleeren Straßen nach
einem widerspenstigen Schakal, der unter uns umhergeht

und es geschieht, dass im „Hain des Mondes“
ein Mensch unter der hohen Kiefer sitzt
und unter seinen Füßen wird ein brennender Dornbusch verzehrt
und seine Hände sind Kohle und er hat die Stimme des Schakals

Anmerkung:
„Churschat ha-jare’ach“ (Der Mond-Hain) heißt ein Park in Jerusalem. Darüber hinaus ruft das Gedicht mit dem „brennenden Dornbusch“ die bedeutsame Szene am Berg Horeb auf, wo Moses erstmals Gott begegnet (Ex 3, 1-6). So spielt der Text mit der Spannung, die zwischen der mystischen Aura des Kompositums „Mond-Hain“ und dem Verweis auf den konkreten Park liegt, der jeder und jedem Jerusalemer*in ein Begriff ist. Die beiden Worte für den Namen des Parks stehen darum für deutsche Leser*innen in Anführungszeichen.


Amichai Chasson (*1987) ist ein israelischer Dichter, Herausgeber, Kurator, Drehbuch-autor, Regisseur und Filmemacher. Geboren und aufgewachsen in Ramat Gan, studierte er Tora an verschiedenen Jeschivot sowie Film an der Sam Spiegel Film- und Fernsehschule in Jerusalem. Als ehemaliger Journalist wirkt er inzwischen als Sprecher beim Sender „Kan Tarbut“ des Israelischen Rundfunks; außerdem ist er Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Lyrik Maschiv haruach. Für seine drei bisher erschienenen Gedichtbände wurde er unter anderem mit dem „Preis des Ministeriums für Kultur und Sport für Dichter am Anfang ihrer Laufbahn“ (2015), dem „Preis der Frau des Ministerpräsidenten für hebräische Dichtung“ (2018) und dem „Kunstpreis für hebräische Schriftsteller“ (2021) ausgezeichnet. Er hat mehrere Filme geschrieben und als Regisseur produziert, darunter den Dokumentarfilm Yeshurun: 6 Sprüche der Väter (Yeshurun: 6 Pirkei Avot) über den Dichter Avot Yeshurun. Seit 2015 ist er künstlerischer Leiter und Kurator der Kunstgalerie im Kulturinstitut Beit Avi Chai in Jerusalem, wo er mit seiner Frau Mirjam und den drei Kindern lebt.
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