Am Erker, Nr. 79 und Mütze #28
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Am Erker, Nr. 79 und
Mütze #28: Grenzphänomene des Poetischen
„ICH
SCHREIBE NICHT MEHR“


Im
jüngsten Prosabuch der Schweizer Schriftstellerin Zsuzsanna Gahse („Schon
bald“, Edition Korrespondenzen) geschieht nicht viel. Die Protagonisten bewegen
sich durch drei Zimmer einer leergeräumten Wohnung, die nach einer Weile als
Probebühne deklariert wird. So entsteht eine improvisierte Bühne für Szenen,
die in ihrem kahlen Minimalismus den Stücken von Samuel Beckett gleichen. Es
werden Stühle hin- und hergeschoben und an die Wand gerückt. Drei alte Männer
nehmen auf diesen Stühlen Platz und schweigen lange, bis einer ruft: „Wir sind
nicht zum Erzählen hergekommen.“
Als eine
solche Probebühne für minimalistische Exerzitien und ästhetische Sabotagen darf
man sich auch die fortgeschrittene Poesie dieser Tage vorstellen. Im zweiten
Dezennium des 21. Jahrhunderts vermehrt sich jedenfalls die Lust auf
dichterische Störmanöver und an der Aufkündigung aller Narrations-Regeln und
aller Aktualitäts- und Relevanz-Postulate. In den experimentierfreudigen
Literaturzeitschriften sind dieser Tage diese fristlosen Kündigungen der letzten
noch gültigen Regelpoetiken zu beobachten. Zu den bevorzugten Techniken gehören
derzeit die De-Komposition der Autor-Position und der vorsätzliche Rückbau des
schreibenden Ich.
Was
beispielsweise im November-Heft des Merkur der scheidende
Kolumnist Robin Detje vorführt, kann man wohl nur als virtuose Annihilierung
des eigenen Textbegehrens interpretieren. Im Beckett-Stil eröffnet Detje seine
Kolumne mit einem Plädoyer für das Nichts: „Ich habe große Lust, diese Kolumne
nicht zu schreiben.“ Das einzige Ziel seiner Kolumne sei es, „sich dem Nichts
zu stellen, der Leere“ und diesen Zustand auszuhalten: „Nichts zu werden, das
aber nichtesoterisch.“ Solche Verfahren der ästhetischen Unterwanderung des
eigenen Autor-Ichs wie auch aller Disktinktions-Regeln eines Literaturbetriebs,
der sich viel zu wichtig nimmt, finden wir seit vielen Jahren verlässlich in
der im westfälischen Münster produzierten Zeitschrift Am Erker,
die seit 1977 immer wieder kluge Konterbande liefert zu den literarischen Moden
der jeweiligen Saison. Seit einiger Zeit werden dort die ketzerischsten
Beiträge in der Rubrik „Lobgesang & Krittelei“ abgeliefert, und zwar von
zwei Kolumnisten, die unter Pseudonym schreiben. Ein gewisser „Fritz
Müller-Zech“, dem eine Passion für Modellflugzeuge angedichtet wird, verfasst
dort lakonische wie erhellende Rezensionen. In jüngster Zeit profiliert sich
„Anne Smirescu“ mit sprachkritischen Meisterstücken, die mit klugen
Boshaftigkeiten die Platzhirsche des Literaturbetriebs auf Kleinformat schrumpfen
lassen. Im aktuellen Heft 79 von Am Erker skizziert „Anne
Smirescu“ („geb. 1976, lebt zurückgezogen in Berlin – zurückgezogen, das
ist das Größte, das wollte sie unbedingt mal geschrieben haben – und wird nach
Bedarf hervorgeholt“) die Werkgeschichte des ebenso pseudonymen Autors „Einzlkind“,
der 2010 in der Edition Tiamat sein Debüt publizierte und seither als eine Art
Phantom in der Szene herumgeistert.
Auf
außergewöhnliche Sabotageakte an konformistischen Poetiken ist auch die
Performerin Mara Genschel abonniert, die in der neuen, rundum begeisternden
Ausgabe der Mütze (# 28) aus einer Obszönitätsverheißung –
nämlich der „Geschichte vom anusköpfigen Johannes“ – eine ziemlich vertrackte
Abrissarbeit am eigenen Autorinnen-Status konstruiert. Die List ihrer Prosa
besteht darin, dass der Text gewissermaßen selbst über seine Erzählerin und
über deren Neigungen zu teuren Luxusartikeln aus dem Internet berichtet und
nebenher auch noch den Umstand kommentiert, dass der Titel „Die Geschichte vom
anusköpfigen Johannes“ und das plötzliche Auftauchen von „Nazis“ nur als
starker Lockstoff dienen, nur um dann jede Erwartung auf eine psychologisch
plausible Narration abzuweisen. Eine Rückführung auf einen Tabula Rasa-Zustand
vollzieht auch die von Dagmara Kraus übersetzte Prosa der französischen
Künstlerin Fabienne Yvert. Es ist die Urszene einer klassischen Schreiblähmung,
die durch Rituale außer Kraft gesetzt wird: „JE N´ ÉCRIS PLUS/ICH SCHREIBE
NICHT MEHR// DEPUIS UN AN/SEIT EINEM JAHR// DEPUIS DES MOIS/SEIT MONATEN// J´
INSCRIS JUSTE LA LISTE DES COURSES// NOTIERE ICH NUR TO-DO-LISTEN// LA LISTE
DES CHOSES À FAIRE/AUF EINKAUFSZETTELN/CÉST TOUT/ DAS IST ALLES// JE NE COMPRENDS
RIEN/ICH VERSTEHE DIE WELT NICHT MEHR…“ Solche Selbsterkundungen der eigenen
Fundamente probieren auch die Gedichte von Heinz Dieter Geißler aus, die den
Grund der dichterischen Existenz abtasten. Die Buchstaben erscheinen als letzte
verlässliche Elemente: „Letztendlich schreibe ich nur noch einen Buchstaben.“ So
entstehen letzte Lieder aus lakonischen Notaten und auf das Wesentliche
konzentrierten Kinderreimen: „Ich singe meine Lieder/ Und halte die Gespenster
auf/ Und werde immer müder // Ich singe meine Lieder/ Und sammle die Gespenster
ein/ Ein Leichter Wind kommt wieder…“ Ein so insistentes wie grundsätzliches
Ausloten des Schreibprozesses gelingt in der Mütze auch den neuen
starken Gedichten des Frankfurter Lyrikers Marcus Roloff. In diesen acht
Gedichten werden kleine Versuchsstationen errichtet, in denen der Autor die
Haltbarkeit seiner Wahrnehmungen prüft und dann - z.B. in „Steinwidder“ – eine
Grenzerfahrung aufzeichnet, die Übergänglichkeit zwischen Tag- und Nacht-Pol:
„ich beginne den tag/ und ich denke die nacht/ und ich überschaue die// nacht
und ich überstehe/ sie bis sie sich öffnet/ wie die büchse in der büchse/ der
offene raum ist das offene/ das ich dir nicht übersetze“. Ein faszinierendes
Übersetzungs-Projekt steht am Ende der neuen Mütze: Die
arabisch-deutschen Literaturkollektive „Unsichtbare Nacht“ und „Wiese“
unterziehen das Hölderlin-Gedicht „Lebensalter“ diversen Transformationen und
entdecken dabei einen „orientalischen Hölderlin“. Die in Hölderlins „Nachtgesang“
besungene antike Ruinenstadt Palmyra entpuppt sich in Mustafa Khalifas
Übertragung als Ort eines der scheußlichsten Gefängnisse der syrischen Despotie
unter Hafez Al-Assad. Eine Übersetzung, die in politische Abgründe navigiert.
Am
Erker, No. 79: Aufbäumen oder Aufforsten? Dädalus Verlag, Oderstr. 25, 48145
Münster, 136 Seiten, 10 Euro.
Mütze #
28, c/o Urs Engeler, Turnhallenstr. 166, CH-4325 Schupfart, 50 Seiten, 7,50
Euro.