Àlvaro Seiça, Mathias Traxler: 365 vorhergesagte Gedichte. Poemas previsao para 365
Rezensionen/Verlage
Michael
Braun
Àlvaro
Seiça, Mathias Traxler: 365 vorhergesagte Gedichte. Poemas previsao para 365. Deutsch,
portugiesisch. Köln (Parasitenpresse) 2021. 96 Seiten. 12,00 Euro.
Die
Intimität der Stimme
„365
vorhergesagte Gedichte“: Mathias Traxlers poetische Kollaborationen mit Àlvaro
Seiça
In der
Dunkelheit des Kehlkopfs, bei den Stimmbändern, beginnt unsere Geschichte. Das
notierte Marcel Beyer in seinem epochalen Roman „Flughunde“. Und weiter:
„Geformter Atem, Hauch: Das was den Menschen ausmacht.“ „Lange behauptete ich“,
so konstatiert nun der jenseits aller Gattungsgrenzen operierende
Sprachkünstler Mathias Traxler, „dass nichts so intim ist wie die eigene
Stimme.“ Um seine Behauptung kurz danach wieder aufzulösen, zu überschreiben in
einem seiner (noch) unveröffentlichten Texte, die als Materialbasis dienen für
immer neue Metamorphosen seines poetischen Materials.
Mathias
Traxler ist ein Dichter und Übersetzer, der seine Werke in immer neuen
Überarbeitungs-Prozessen verändert und ständig neu konstelliert, seine Sprachkunststücke
in eine flirrende Schwebe bringt, sie in Klangräume setzt, wo sie in interaktiven
Gestaltungen mit befreundeten Künstlern ständig neue Gestalt annehmen. Und
seine Stimme, wie sie in starker Suggestivität die Texte spricht, flüstert, in
entsemantisierende Glossolalie transformiert, spielt dabei eine große Rolle.
Traxler wurde
1973 in Basel geboren, seine Stimme hat sich im Allemannischen und im
Baslerdeutsch geformt, seit vielen Jahren lebt er in Berlin. Und dort bringt er
einiges zum Tönen – als Übersetzer amerikanischer Dichter, wie z.B. der
inter-textuellen Poeme Charles Bernsteins. 2015 erhielt er für die
Bernstein-Übersetzung („Angriff der schwierigen Gedichte“ luxbooks) zusammen
mit Tobias Amslinger, Norbert Lange und Léonce Lupette den Münsteraner Preis
für internationale Poesie und ihre Übersetzung. Sein jüngstes Projekt: Er irritiert und fasziniert in einem soeben
erschienenen Buch, einer poetischen Gemeinschaftsarbeit mit dem portugiesischen
Lyriker Àlvaro
Seiça – mit der Übertragung von
„365 vorhergesagten Gedichten“.
Mathias
Traxler, so zeigt sich hier, ist nicht nur Sprachkünstler, er ist auch
Tonkünstler, er ist wohl primär Stimmenkünstler. Aus seinem Kehlkopf kommen
Stimmen, die uns verwirren, die sich überlagern, die uns nahegehen, die uns
berühren und verzaubern. Stimmen, „nachtdurchwachsen“ (Paul Celan) und
tagesüberwuchert, zarte Stimmen, Stimmen auch, die ins Stocken geraten und über
Fehler stolpern. Er bringt gemeinsam mit dem zehn Jahre jüngeren Seiça die Texte in starke Bewegung, in lautliche
und rhythmische Schwingungsprozesse, was man auf den Audio-aufnahmen dieser
Gedichte hören kann, die auf Seiças Website abrufbar sind
(https://projects.alvaroseica.net/).
In
einer Notiz zum Seiça/Traxler-Band heißt es, dass hier Übersetzungs-Methoden
angewendet würden, „deren Bestandteile auch Missverständnisse, Vermutungen und
eigene Weiter-schreibungen sind“. Tatsächlich sind Traxler und Seiça seelenverwandt, sie schreiben
beide eine offene Poesie, die sich in ihren Kollaborationen ständig
weiterentwickelt. Die Übertragungen, die wir hier in „365 vorhergesagte
Gedichte“ lesen, sind also als sehr fluides Ergebnis dieser Zusammenarbeit zu
verstehen.
Die
kalendarische Form von Àlvaro Seiças Gedichten ist an den Freitagen eines
Jahres orientiert, die 52 Gedichte sind als eine Art Vorschau („previsào“) auf
den ganzen Jahreslauf angelegt: „previsào para
365“. Traxler macht daraus „365 vorhergesagte Gedichte“.
Viele
dieser Gedichte sind assoziativ notierte Bewusstseinsprotokolle und
Wahrnehmungs-augenblicke, leuchtende Partikel einer intensiven Geistesgegenwart:
„grad
eben leicht das Feld der Sonne wogte/ und schon stürzen die Krähen herab und
beben in Saatbeeten/ wie Kohle weissglühend// eine lange rote Scheune im
Hintergrund/ und ein Tuch mit geschnittenem Stroh/ gebreitet auf der Tafel des
Augusts…“
Durch
Improvisation, durch Störungen des Sprachverlaufs, durch lautliche Entgrenzung
und Glossolalie verwandeln sich diese Texte, werden unabschließbar. Die
Produktion von lautlichen Verschiebungen und Fehlern ist dabei konstitutiver
Bestandteil der „Übertragung“: „ich erinnere mich, das ist doch alles falsch
ausgesprochen_/ Ich erinnrmich an Brotschnitten hoch auf dem Elefanten_/das
Kanu in der schilafabr länglichen Grotte_/ die Italienerin die mich mit Janusch
bat ihre Zigarette auszumachen_/ Bäumeschskpie uam Meeresgrund_...“
Traxlers
Stimmen-Komposition bindet die Poesie immer wieder zurück in die jeweils
aktuelle Situation des Sprechenden. Es ist eine faszinierende, situativ sich
verwandelnde Literatur, ein die Textur immer wieder neu gruppierendes Sprach-
und Stimmen- und Ton-Kunstwerk.
Der
Romantiker John Keats hat einmal die lyrische Disposition mit einer „negative
capability“ verglichen, mit einer „negativen Befähigung“, die dann eintrete,
wenn einer fähig sei, „in Unsicherheiten zu sein, in Unerklärlichkeiten, in
Zweifeln, ohne dem ärgerlichen Ausstrecken nach Faktum und Vernunft“. Mathias
Traxler knüpft an diese schöne Unsicherheits-Liebe an, wenn er in seinem Text
„Rückführungen“ (noch unveröffentlicht) davon spricht, „aus der gesicherten
Position in eine ungesicherte hinauszutönen“. Es lohnt sich, ihm bei diesem
Hinaustönen zuzusehen und zuzuhören.