Alina Nelega: eine wolke in form eines kamels (Auszug)
Montags=Text
Foto: Andra Cadariu / obiectivsubiectiv
Alina Nelega
Auszug aus dem Roman eine wolke in form eines kamels,
Polirom Verlag
(Sofia-Nădejde-Preis für Frauenliteratur, Prosa)
Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke
Ich muss mich jetzt zusammenreißen, um
all deine Vorwürfe runterzuschlucken, sie über mich ergehen zu lassen. Ich habe viel zu wenig
außerhalb des Theaters gelebt, außerhalb dieser Existenz, in der die
Mutterrolle von anderen statt von mir gespielt wurde. Es fällt mir nicht leicht
zu akzeptieren, dass nicht du derjenige bist, der mich beschuldigt, sondern dass es deine Krankheit ist, die durch
dich spricht, aber wie viel davon bist du und wie viel ist die Krankheit? Ich kann das nicht mehr unterscheiden, du bist ein
Baum, der unter dem Einfluß einer anderen,
unbekannten Pflanze, eines
Parasiten, lebt, man weiß nichts von dieser Pflanze, sie ist mysteriös und wandelbar, sie
passt sich an, greift an, verändert; man kann die Pflanze nur auf eine
Weise töten – indem man
den Baum opfert. Und ich fühle mich dazu bereit. Dieser Marius ist ein
gefährlicher Fremder, vor dem ich Angst habe und ich versuche gar nicht erst,
mich mit ihm anzufreunden. Am Anfang deiner Krankheit habe ich ihn getroffen
und ich habe gesehen, wie er meine unkontrollierte Angst auskostete, wie er das
Haus auf den Kopf stellte, wie er nach Peilsendern suchte, nach versteckten Kameras, wie er sein Handy und seinen
Laptop zerschlug. Den Krankenwagen habe ich nicht gerufen, weil ich unfähig
war, mir vorzustellen, dass irgendwo, hinter diesen blutunterlaufenen Augen, nicht du sein könntest, mein Sohn,
der ums Überleben kämpft, der sich losreißen möchte.
Deinen Vater kann ich letztendlich nicht zurückbringen und meine Sehnsucht nach
ihm ist formlos, kaum mehr als eine Erinnerung. Du aber bist hier, wie ein
Zombie, bewohnt von jemand anders, von einem Fremden, der mir ab und zu
erlaubt, meinen Sohn zu sehen. Ich versuche mit ihm zu verhandeln, aber er
lacht, verachtend und hasst mich. PDF für Marius Mihet 24
Nicht einmal
jetzt möchte ich glauben, dass du gegangen bist, ich meine, manchmal, wenn du
zurückkehrst und mir sagst, dass du mich liebst und dass ich die Beste-Mutter-der-Welt
sei, dann bist du es, derjenige, den ich kenne, nicht der Fremde, der deinen
Platz eingenommen hat, der sich deine Sachen, deinen Körper aneignet und mich
an sich reißt. Er will mich als seine Mutter haben, er hat mich auserwählt,
mich in Besitz genommen. Nachts geistert er herum, dann schrecke ich hoch mit
einem Gefühl der Gefahr auf und ich sehe ihn neben unserem Bett stehen, wie er
uns anstarrt, wer weiß wie lange schon, wie viele Stunden er schon da gewesen
ist, um sich wie ein Vampir von unserem Schlaf zu ernähren. Ich schreie auf und
er erschreckt sich nicht vor mir, sitzt brav auf seinem Stuhl und wenn ich Geh-in-dein-Zimmer
raune, steht er gehorsam auf und geht, tuschelt so etwas wie Wart-Mal-ab und Das-hier-wird-sehr-böse-enden.
Claudiu zischt
durch die Zähne. Er
steht auf, geht nackt zur Schlafzimmertür und schließt sie ab. Dann kehrt er zurück
und möchte therapeutischen Sex habe. Ich lehne ab und er schläft unzufrieden
ein. Ich kann nicht wieder einschlafen, seit einiger Zeit wache ich ständig nachts
auf, habe einen leichten Schlaf und zwinge mich dazu, nichts zu träumen, weil
Träume die Realität viel unerträglicher machen.
Zu leiden, weil
man seinen Sohn verloren hat, ist legitim. Du aber stehst vor mir, ich kann
nicht akzeptieren, dass du nicht mehr hier bist, ich vermisse dich und
verstecke mich. Eine Heuchlerin, ja, die bin ich, verstelle mich, weil allein
diese Lüge mich am Leben hält: Ich suche nach dir, meinem liebsten, verspielten
und schlauen Kind mit all den lästigen Fragen. Was böse und was gut sei, was
gerecht und was ungerecht. „Das war böse und ungerecht!“, sagst du mit
Nachdruck, oder, sogar noch schlimmer: „Das war illegal!“. Dass ich dich gegen
deinen Willen einweisen ließ – „Ich habe nichts unterschrieben!“, sagst du –
trotz der Tatsache, dass dort deine Unterschrift steht – „Na gut, aber ich
wusste nicht, was ich tue, du hast mich gezwungen, du hast mich kontrolliert
und unterdrückt, genauso wie du das auch mit deinen Schauspielern tust“. Dieser
Fremde weiß ziemlich viel über mich, und über dich, er nimmt dir deine
Erinnerungen, siebt sie und schmeißt mir die Schlacke ins Gesicht, er will,
dass ich erblinde. Für dich ist das kinderleicht, Mutter, mich zu beeinflussen
und überzeugen, das zu tun, was ich nicht tun möchte. Ist das nicht dein Job,
Mutter? Ist es nicht das, womit du deine Brötchen verdienst, Mutter? Das
Manipulieren der anderen, während du dich von deinen und ihren Gefühlen
ernährst? Ich widersetze mich nicht, wir wollen keine Konflikte haben, so
meinte das Zaharagiu, es soll keinen Ärger geben. Aber du machst immer weiter:
Selbst jetzt bin ich mir nicht sicher, ob du irgendwo in deinem Kopf Notizen
machst, meine Reaktionen studierst. Ich bin dein Recherchematerial, Mutter,
vielleicht werde ich mich in irgendeinem deiner Stücke wiederfinden, haha, ich
inspiriere dich Mutter, stimmt’s?“
Du nennst mich „Mutter“ und das Wort klingt spöttisch,
wie ein Messer im Rücken. Mutter. „Meine liebe Mutter“ ist ein langer Schlag
von unten nach oben „Mutter-Mutter-Mutter“ sind drei aufeinanderkommende
Schläge in die Brust, in den Magen, „Mutteeer“ sind siebenundvierzig
Messerstiche, ausgestochene
Augen, abgeschnittene
Ohren, die Hände gleiten in die Kanalisation, die Beine krampfen unkontrolliert
und nachdem alles zu Ende ist, bevor das Rigor Mortis eintritt, wird die Mutter
zum Leben erweckt, wird sie aus den blutigen Teilen wieder zusammengefügt, sie
ist wieder da, wie neu, bereit, ein nächstes Opfer für ihren geliebten Sohn zu
bringen.
Alina Nelega ist vor allem als Dramaturgin
bekannt. Ihre Stücke
werden international auf-geführt und haben bereits zahlreiche Preise gewonnen. Sie wurde zweimal von UNITER
ausgezeichnet, war
als europäische Autorin im Heidelberger Stückemarkt
eingeladen und erhielt ein Ehrenstipendium für literarisches Schreiben an der
Iowa Universität, SUA. Sie leitet den Fachbereich Szenisches
Schreiben (Master) an der Kunstuniversität in Târgu-Mureș, wo sie auch selbst
unterrichtet. 2001 wurde ihr erster Roman ultim@vrăjitoare/die letzt@hexe
für den ASPRO-Preis nominiert. Der Roman ca și cum nimic nu s-ar fi
întâmplat/so als wäre nichts passiert erschien 2019 im Polirom Verlag und
wurde im selben Jahr für den Sofia-Nădejde-Preis für Frauenliteratur nominiert.
un nor în formă de cămilă/eine wolke
in form eines kamels
ist ihr dritter Roman, der ihr 2021 den Sofia-Nădejde-Preis für Frauenliteratur
einbrachte.