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Ali Al-Nasanis Interview mit Stevan Tontić (2000)

Dialoge
Links, Stevan Tontić - Foto Anke Glasmacher
rechts, Ali Al-Nasani - Foto privat
Ohne Hoffnung kann man nicht atmen.
Interview mit Stevan Tontić (2000)
von Ali Al-Nasani

Stevan Tontić, Träger des Hort-Bieneck-Preises 2000 der Kunstakademie München, hat bisher neun Lyrikbände und einen Roman (1998) veröffentlicht, einige Anthologien herausgegeben und viele Essays z.B. über die moderne Dichtung, Literaturkritiken und Nachdichtungen aus der deutschen Sprache veröffentlicht. Am 12. Februar 2022 verstarb Stevan Tontić nach kurzer schwerer Krankheit in Novi Sad. Anlässlich seines Todestages veröffentlichen wir das Gespräch, dass der Literaturwissenschaftler Ali Al-Nasani im November 2000 mit ihm in Berlin führte, wenige Wochen, bevor Stevan Tontić von der Kunstakademie München den Horst-Bieneck-Preis für Lyrik verliehen bekam.

Wir danken neben Ali Al-Nasani auch Anke Glasmacher, die in Tontić einen guten Freund gefunden und auch einen Nachruf auf ihn verfasst hatte, (siehe "der wahrhaftige" hier,) für die Vermittlung.


Ali Al-Nasani: Herr Tontić, Sie haben in der „Verteidigungsrede eines Dichters“ geschrieben: „keinen Tag mehr ohne eine Zeile!“. Gibt es heute Tage, an denen Sie keine Zeile schreiben?

Stevan Tontić: Es gibt viele Tage, an denen ich keine Zeile schreibe.  In diesem Gedicht ist eine alte Sentenz beschrieben, weil das Schreiben als eine selbstverteidigende Tätigkeit erscheint. Man muss versuchen, sich durch das Schreiben zu verteidigen, also die eigene Sprache schreiben, nicht die Sprache der Kriegspropaganda. Eigentlich hat mich ein Dichter aus Sarajevo bewegt, das Gedicht so zu schreiben. Meine Haltung war die Selbstverteidigung durch das Schreiben, nicht irgendwelches Schreiben, sondern das dichterische Schreiben als wahrhaftige Haltung. Durch eine Sprache, die nicht lügt, nicht lügen will oder kann. Es geht um den Unterschied in einer Sprache, die Sprache des Krieges und der Propaganda einerseits und die Sprache der Kunst und der Dichtung andererseits.

Ali Al-Nasani: War dies der Erfahrung des Krieges geschuldet oder war dies das auslösende Moment, dass Sie überhaupt begonnen haben zu dichten?

Stevan Tontić: Ich gehörte nie zu denen, die jeden Tag schreiben. Manchmal vergingen Monate, in denen ich kein Gedicht geschrieben habe. Aber in der Situation, in der man sich Tag und Nacht äußern und sich selbst finden musste, in dieser Situation war das Schreiben ein Mittel für eine Haltung gegen den Krieg. Das Gedicht entstand während des Krieges in Sarajevo im Jahre 1992 nach den ersten Kriegsmonaten. Da ist auch ein Paradoxon: der Dichter sagt, er hat sich früher viel gequält beim Schreiben, und jetzt dagegen ist es leicht geworden. Gedichte in solch einer Situation zu schreiben, die wir oft als Hölle benannt haben, wobei wir dieses Wort oft - zu oft- als Vergleich benutzt haben, war auch meine Erfahrung. Sehr viele von diesen Gedichten habe ich leicht geschrieben. Ich musste mir nicht den Kopf zerbrechen, Sondern die Gedanken waren schon da, sie wurden mir sozusagen gegeben durch diese fürchterlichen Geschehnisse.

Ali Al-Nasani: Zwei Zeilen später heißt es in dem Gedicht: „Jeder dritte Satz schießt wie eine Kugel hervor.“ Darüber bin ich gestolpert, nicht über den Sinn, sondern über das Bild, das dahintersteht, dass Worte zu Kugeln werden in einer Situation, in der die äußere Bedrohung des Krieges gegenwärtig ist, dass sozusagen die Verteidigung des Dichters, der durch reale Kugeln bedroht ist, darin besteht, dass er Worte zu Kugeln werden lässt.

Stevan Tontić: Das ist eigentlich nicht so ganz meine Haltung. Ich wollte nie mit meinen Worten töten. Auch nicht irgendeinen Feind. Das war wirklich die Äußerung des Dichters, den ich als Dichter in dem Gedicht erwähne. Es war seine Haltung, sehr scharf zu schreiben gegen die Belagerer, die Serben. Das ist etwas provokativ.

Ali Al-Nasani: Wo liegen die Ursprünge Ihrer Dichtung?

Stevan Tontić: Wie jeder junge Mann begann ich als Gymnasiast zu schreiben. Ich war Schüler in einer relativ kleinen Stadt in Bosnien, als ich mit meinem Schreiben begann. Die ersten Sachen standen in der Schülerzeitung, nichts, was ich heute als Literatur bezeichnen würde. Es gab einige jüngere Leute, die auch begonnen hatten zu dichten. Ich habe damals literarische Zeitungen gelesen, manchmal sogar in der Schule während des Unterrichts, und dann haben die Lehrer mir die Zeitung weggenommen. Mit 17 Jahren veröffentlichte ich meine ersten Gedichte, so genannte ernste Poesie, in Zagreb in Kroatien. Es gab dort die Kulturzeitschrift ‚Telegramm‘, die eine spezielle Rubrik hatte für die neuen dichterischen Namen aus ganz Jugoslawien.
Meine Eltern waren Bauern, meine Mutter war Analphabetin, mein Vater konnte lesen und schreiben. Für sie waren meine Gedichte nicht so interessant, denn die Welt der Literatur war ihnen nicht bekannt. Später bekamen sie eine Vorstellung davon, dass ich an einer Welt teilnehme, die ihnen unbekannt ist. Ich hatte zwei Brüder und drei Schwestern, ich bin der Jüngste, der einzige, der studieren durfte, und habe mit 11 Jahren mein Elternhaus verlassen, um in der nächsten großen Stadt in die Schule zu gehen. Meine Eltern hatten mir die Freiheit gelassen, mich selbst zu entscheiden, ob ich im Dorf bleiben wollte oder weiter in die Schule gehen wollte.
Meine ältere Schwester hat einmal gesagt: Ich verstehe alles, was Branko Ċopić schreibt, aber das, was Du schreibst, verstehe ich nicht. Branko Ċopić war der populärste jugoslawische Schriftsteller, er hat auch Märchen, Erzählungen und Gedichte geschrieben.
Ein paar Monate vor seinem Tod, als ich als Dichter schon bekannt war, hat mich mein Vater gefragt, ob ich meine dichterische Gabe von ihm geerbt habe. Ich habe ihm gesagt, dass ich das glaube.  Er war zufrieden, denn es schien wichtig für ihn, obwohl ich nie zu Hause oder in meinem Dorf Gedichte vorgelesen habe. Mein Elternhaus ist jetzt, am Ende des bosnischen Krieges, verbrannt.

Ali Al-Nasani: Inwiefern hat der Krieg Ihr Dichten beeinflusst?

Stevan Tontić: Das war schon eine mir unbekannte, schreckliche, grauenhafte Situation, alle diese Geschehnisse und Erlebnisse haben natürlich meine Poesie beeinflusst. Alles war sehr erschütternd für mich, es war ein Bruderkrieg zwischen Menschen, die die gleiche Sprache sprechen, die die gleiche Mentalität haben und ganz ähnliche Traditionen, deren einziger Unterschied die Religion ist. Aber die neuen politischen Eliten, die alle von außen ermuntert waren, neue nationale Staaten unbedingt bilden zu wollen und zu dürfen, haben das als Partner des Krieges gemacht. Ich war fast ein Jahr des Krieges in Sarajevo. Am Anfang wollte ich nicht weggehen. Warum? Wieso? Nein! Aber am Ende musste ich fliehen, illegal, weil ich vor der Einberufung in die bosnisch-muslimische Armee stand. Ich bin Serbe und wollte weder bei den Serben, noch bei den Moslems dienen. Das wollte ich absolut nicht, ich war bereit, zwanzig Jahre oder gar lebenslänglich im Gefängnis zu sitzen, aber nicht als Soldat sterben für die eine oder die andere Kriegspartei. Ich war pazifistischer Gesinnung und habe den ganzen Krieg als einen grauenhaften Unsinn und absurd empfunden. Alles, was ich erlebt habe, war nur Angst und Erniedrigung, das sitzt bis heute sehr tief in mir, und ich sage oft, ich muss mich von der Geschichte bis zum Ende meines Lebens heilen. Das ist auch eine Erfahrung, nämlich dass die Tatsache, dass ich schreibe, mir hilft, dass es eine therapeutische Wirkung hat. Man schreibt nicht wegen einer Therapie natürlich, aber ich habe gesehen, dass es eine gute Wirkung hat.
In einem Krieg zu sein kann nicht ohne Folgen bleiben, das ist eine Verwandlung, eine wesentliche Veränderung, in der Erfahrung, in der Erkenntnis gegenüber dem Anderen, der Welt und der Geschichte. Wenn ich heute etwas hasse, dann ist das die Geschichte, die so gemacht wird, mit Gewalt, mit Terror, durch das Töten, Massenmord, also so eine Geschichte – sage ich manchmal – lehne ich ab. Das klingt verrückt, aber da will ich nicht mitmachen. Und als Gegenpol zu einer solchen Geschichte, erscheint mir die ganze Kunst, die Poesie wird zum eigentlichen Leben. Nur da finde ich noch einen Raum meiner Freiheit, einen Raum der Liebe und des Verständnisses, des Miteinanderseins. Deswegen ist heute für mich Dichtung und alle Kunst viel wichtiger als vor dem Krieg, weil es zum Gegenpol zu Krieg und der Geschichte geworden ist.
Der Dichter in dem erwähnten Gedicht ist kriegerisch gestimmt, er kämpft, er übt Rache mit seinen Worten. Ich selbst bin nicht so kämpferisch gesinnt. Aber seine Haltung ist verständlich und auf gewisse Weise legitim, wenn er seine Worte als Kugeln versteht, nämlich zurückschießt. Ich will das allerdings nicht verallgemeinern, es gibt solche und solche Dichter. Manche sind kämpferisch gesinnt, andere nicht. Es gibt viele Dichter, die das eigene Schreiben als eine Waffe verstanden haben, besonders während des Krieges. Das ist legitim, obwohl nicht die bestmögliche oder schönste Haltung. Wer bedroht ist, getötet zu werden, darf zurückschießen, obwohl dieses Wort sehr missbraucht worden ist, denn jeder schießt nur zurück. Aber damit hat mein Gedicht nichts zu tun.

Ali Al-Nasani: Hat sich durch die Kriegserfahrung die Sprache in Ihren Gedichten geändert?

Stevan Tontić: Ja, etwas. Es kommen Bilder und Erfahrungen vor, die früher nicht vorhanden waren. Es war eine Erschütterung für mich, auch in meinem Verhältnis zu Gott. Gott war schon immer ein Thema für mich, ein Motiv. Jetzt während des Krieges war es besonders präsent, denn ich habe mich als gottverlassen gefühlt. Es war erschütternd zu sehen, dass Gott, der Schöpfer, die Welt der Vernichtung überließ. Das konnte ich nicht verstehen, ich habe seine Intervention nicht erlebt, er wollte nicht zu Hilfe kommen wie ein Großvater, an den wir geglaubt haben. Nein, er blieb stumm und das war für mich unerträglich.
Dass die Welt so ist und dass die Menschen, gottlose Menschen, so sind, dass sie alles Mögliche machen dürfen, dass sie alles Mögliche vernichten dürfen, dass sie Zivilbevölkerung töten und zerteilen dürfen, und Gott interveniert nicht, das war unerträglich, dieses Erlebnis von Gottverlassenheit.
Aber dann als ich Tag und Nacht im Keller mit den Nachbarn saß, glaubte ich doch, dass -sollte ein Mörder mit einem Messer zu mir kommen und mich abschlachten wollen - ich ihn mit meinem unschuldigen Gesicht überzeugen könnte, dass er mich nicht töten soll. Ich habe an Christus geglaubt, weil er nicht so eine abstrakte Figur ist, sondern ein Mensch, Gottmensch, der gekreuzigt wurde. Da habe ich einen Unterschied gemacht zwischen dem Schöpfer Gottvater und Christus, der Mensch war und gekreuzigt wurde. Diese religiöse Erfahrung war wichtig. Ohne jede Hoffnung kann man nicht atmen. Das ist meine Erfahrung. Man muss oder will immer eine kleine Hoffnung bewahren, um atmen zu können, um überhaupt leben zu können, sonst wäre man absolut verloren.
Ich gehörte zu den Leuten, die geglaubt haben -und man wollte es unbedingt glauben - dass wir keinen Krieg haben werden und dass ein Krieg nicht kommen darf, weil er so ein Unsinn ist, so eine sinnlose Tragödie.
Vielleicht waren wir nicht realistisch vor dem Krieg und zu Beginn des Krieges, wir waren nicht imstande zu glauben, dass ein Krieg tatsächlich ausbricht und dass er dauern wird, jahrelang dauern wird. Das wollten wir nicht akzeptieren, weil es so schrecklich sein müsste – und es war schrecklich, das weiß ich erst jetzt, damals wollte ich es nicht glauben.
Ich habe erst durch den Krieg erfahren, wie gefährlich der Mensch ist, dass er in seinem Kern wie eine Bombe ist, die in einem bestimmten Moment der Geschichte aktiviert werden kann.
Es war eine erschütternde Erfahrung zu sehen, wozu der Mensch fähig ist, wenn er unter Zwang steht, wenn er in dem Dilemma steckt, getötet zu werden oder selbst zu töten. Die Mehrheit entscheidet sich dann zu töten, um zu überleben, auch um den Preis, andere zu töten. Das sind meine neuen Erkenntnisse, und jetzt denke ich anders über den Menschen, über die Geschichte, über die Welt, auch über die Kunst, als vor dem Krieg.

Ali Al-Nasani: In Ihren jüngsten Gedichten wird deutlich, welch ein existentielles Erlebnis der Krieg ist. Ein anderes sicherlich ebenso prägendes Ereignis, was eng damit zusammenhängt, ist das Exil. Wie erleben Sie als Dichter das Exil. Wie beeinflusst das Exil Ihr Dichten?

Stevan Tontić: Das Exil ist für mich eine völlig neue Situation. Früher hätte ich nie gedacht, dass ich eines Tages in einem anderen Land leben muss, ich habe sogar einmal vor 20 Jahren geschrieben, dass nur wenn unser Planet zerfällt, auch unser Land Jugoslawien zerfällt. Da kann man sehen, wie naiv wir waren und wie wir unser Land geliebt haben, so dass wir nicht glauben konnten und wollten, dass dieses Land oder die Stadt, in der wir leben, aufhören könnte zu existieren. Und erst recht nicht, dass es durch einen schrecklichen Bruderkrieg ausgelöscht werden könnte.
Am Anfang des Krieges wollte ich nicht fliehen, ich konnte mir mich nicht als Flüchtling, als Feigling oder sogar als Verräter vorstellen, diese Vorstellung war unerträglich. Lieber wollte ich alles erfahren, was kommt, und sei es noch so schrecklich, und das habe ich auch erfahren. Doch dann musste ich fliehen, illegal das Land verlassen.  
Das Exil ist eine völlig neue Situation, ich habe in Deutschland kein Asyl beantragt, das wollte ich nicht. Obwohl ich schon über sieben Jahre hier lebe, habe ich keine Lösung für meine Existenz, meine Familienexistenz, gefunden. Meine Frau lebt weiter als Flüchtling in Belgrad und ich in Berlin, wo ich nach einem Jahr meinen Aufenthalt verlängern muss und nachweisen muss, dass ich als Autor leben kann.
Das ist immer ein Stress, der sich wiederholt, das ist nicht gesund, und es ist psychisch bedrohlich. Aber es ist ein Überlebenskampf, der weiter geht. Ich fühle mich schon viel besser als in dem Krieg, ich habe keine Angst mehr getötet zu werden, aber ich suche immer noch nach einer Lösung für mein Leben.
Alles, was ich schreibe, muss übersetzt werden, wenn es veröffentlicht werden soll. Nur so kann ich mich als Autor zeigen, ein Stipendium bekommen oder zu einer Lesung eingeladen werden. Ich lebe davon, weil ich keine andere Arbeit habe.
Anfangs dachte ich, dass ich nach einem Jahr zurückkehren kann. Aber wie in früheren Fällen zeigt das Exil seine Eigenschaft, andauern zu wollen. Darüber hat schon Brecht in seiner Zeit als Exilant geschrieben. In einem anderen Land zu leben, mit einer anderen Sprache und Kultur, ist immer eine große Herausforderung.
Ich kam nach Deutschland, weil ich die Sprache schon konnte, etwas übersetzt hatte und interessiert war, die Sprache weiter zu lernen. Ich schreibe im Exil für ein unbestimmtes Publikum. Ich schreibe, was ich schreiben muss, ich versuche, meine Erfahrungen dichterisch zu vermitteln und zu gestalten. Ich schreibe in meiner Sprache, die Serben, Bosnier, Kroaten, Montenegriner gemeinsam hatten. Aber auch die Sprache ist geteilt worden aus politischen Gründen. Ich bin gefangen in meiner Muttersprache, und mein Platz ist doch in erster Linie in der Literatur meiner Sprache. Ich kann eben nie ein deutscher oder englischer Schriftsteller werden. Aber die Übersetzungen sind sehr wichtig. Ich übersetze auch aus der deutschen Sprache.
Exil ist auch in dem Sinne eine neue Erfahrung, weil man die eigene Welt mit anderen Augen und aus der Distanz betrachtet. In diesem Sinne kann Exil auch positive Aspekte haben. Ich habe eine neue Gedichtsammlung geschrieben, die ‚Segen des Exils‘ heißen soll. Das ist zwar teilweise ironisch, aber nicht absolut ironisch. Jedes Exil ist eine bittere Erfahrung, notwendigerweise bitter. Aber es bringt auch eine Art Heilung. Ich konnte meine Haut retten und mich wieder sammeln und über alles nachdenken. Und darüber habe ich geschrieben.

Ali Al-Nasani: Es gibt ein Gedicht „Reise nach Paris“, in dem eine angekündigte Reise, um der Kriegssituation zu entfliehen, als Paradies dargestellt wird.

Stevan Tontić: Das Gedicht ist ziemlich dokumentarisch, es ist ungefähr so gewesen: ich hatte eine Einladung mit fünf Kollegen aus Sarajevo für drei Wochen nach Paris. Wir haben uns eines Tages in einem Gebäude in Sarajevo versammelt und haben dort mehrere Tage auf die Erlaubnis gewartet, dass wir die Stadt verlassen dürfen. Wir bekamen diese Erlaubnis aber nicht, und so mussten wir nach Hause zurückkehren, ohne dass ich in der Zwischenzeit melden konnte, weil keine Telefone vorhanden waren, dass wir eigentlich immer noch in der Stadt sind und dass wir nach Hause kommen. Das war der Anlass für dieses Gedicht, das so sehr ironisch das Geschehene behandelt.
Das wurde durch das Adjektiv „sogenannte“ ausgedrückt, nichts war mehr wahrhaftig, alles war entstellt, nichts mehr glaubhaft, darüber handelt das Gedicht. Die Behörden, die UNO, die staatliche Macht und ganz Europa, sozusagen die ganze Welt, außer einer Person, der Frau dieses Künstlers in dem Gedicht, nur sie war eine redliche Person, also glaubwürdig. Es ist ein ironisches Gedicht über diese Zeit und über Europa und darüber, was die große Welt in Sarajevo alles gemacht hat während des Krieges.

Ali Al-Nasani: Sie sind mit über hundert Schriftstellerinnen und Schriftstellern durch das „sogenannte“ Europa gefahren. Ist da ein Traum wahr geworden? Welche Erfahrung haben Sie auf dem „sogenannten“ Literaturexpress gemacht?

Stevan Tontić: Es war so etwas wie ein Traum, vielleicht noch mehr für die Leute, die nicht in dem Zug waren, die aber fahren wollten oder den Wunsch hatten. Das hat mir übrigens ein Kollege aus Belgrad gerade so gesagt: ‚Weißt du lieber Freund, du bist in diesem Zug, und du lebst in Berlin, aber weißt Du wie viele Kolleginnen und Kollegen aus Belgrad in dem Zug sein wollten.‘ Das war zwar eine Frage, aber es klang fast wie eine Rüge.
Das Projekt des Literaturexpress war groß angelegt, vielleicht zu groß, dadurch war es wie ein Traum und auch ein bisschen verrückt. Aber es war sehr interessant und sehr schön, obwohl am Ende auch sehr anstrengend. Wir waren in sechs Wochen in elf Ländern und zwanzig Städten. Es war wie ein Rennen durch Europa von Lissabon bis Sankt Petersburg und Moskau und am Ende bis Berlin.  
Für mich war das sehr schön im Grunde genommen. Ich wollte so etwas erleben, aber schon jetzt – zwei Monate danach – habe ich gemerkt, dass alles schon ein wenig in Vergessenheit geraten ist, weil es eben zu viel war. Für mich persönlich war es sehr bedeutend, ich war zum ersten Mal in Ländern wie z.B. Portugal und Spanien und in den baltischen Ländern, und ich habe sehr schöne Städte gesehen z.B. Lissabon und Madrid oder Vilnius, Tallin, Riga. Ich war vor über zwanzig Jahren zweimal in Russland immer für eine Woche, und ich habe jetzt eine große Veränderung feststellen können, die großen Städte Sankt Petersburg und Moskau sind viel bunter geworden.
In dem Literaturexpress waren 105 Autoren, fast zu viele. Obwohl wir sechs Wochen zusammen waren, war es nicht möglich, dass wir uns gut kennen lernen. Etwa 20 Autoren sind mir völlig unbekannt geblieben. Es war auch interessant zu sehen, dass sich kleinere Gruppen gebildet haben, z.B. die Autoren aus dem Balkan oder auch die Leute aus dem ehemaligen Jugoslawien. Wir waren oft zusammen, und es ging alles ohne Probleme. Ganz angenehm saßen wir oft zusammen.
Es war auch interessant, dass unsere gemeinsame Sprache also serbokroatisch elf Vertreter hatte, Französisch hatte drei Vertreter und Deutsch sogar nur zwei, weil die deutsche Jury eine kroatische Schriftstellerin benannt hatte. Dubravka Ugresic, eine bekannte kroatische Schriftstellerin war in der deutschen Delegation, nicht in der kroatischen. Das ist ein Paradoxon des neuen Europa, dass serbokroatisch mit elf Schriftstellern vertreten war, weil jeder Staat drei Autoren delegieren konnte, und so konnte auch der kleinste Staat so viele Autoren senden wie der größte Staat und manchmal eben mehr.
Die Literatur ist in dem Zug ein bisschen zu kurz gekommen, es gab zwar viele Lesungen und Veranstaltungen, aber oft wollte man debattieren und diskutieren über die politischen Probleme und weniger über Literatur und Poesie, so dass wir manchmal unzufrieden waren, z.B. in Paris wollte man keine Gedichte oder Geschichten hören, sondern nur debattieren.

Ali Al-Nasani: Haben Sie im Literaturexpress auch Anregungen für Ihr persönliches Dichten bekommen, wurde nicht nur der Dichter, sondern auch die Gedanken transportiert und weiter vorangebracht?

Stevan Tontić: Ja, es war alles sehr lebendig, aber ich habe kein Gedicht geschrieben während der Reise und bisher noch kein Gedicht über diese Reise. Ich weiß noch nicht, ob später etwas entsteht. Bisher habe ich nur ein paar Notizen, die ich während der Reise anfertigte. Vielleicht werde ich ein paar Texte schreiben, aber bisher habe ich es noch nicht geschafft.

Ali Al-Nasani: Wenn ich nochmals den Spannungsbogen auf unser Thema davor zurückschlage, auf das Exil: wie ist das Verhältnis von Reise und Exil, ist man auf der Reise noch im Exil?

Stevan Tontić: Nein, ich glaube auf der Reise, auf dieser Reise auch, habe ich mich nicht als einer im Exil gefühlt. Die Reise gab mir immer schon ein Gefühl von Entbunden-Sein, also frei, vielleicht ein trügerisches Gefühl, aber angenehm. Im Exil hat man so ein Gefühl nicht. Wenn ich so in meiner Wohnung bin, in der ich allein lebe, dann wünsche ich mir schon, auf einer Reise zu sein. Ich möchte mich bewegen und neue Gesichter sehen und neue Menschen kennen lernen, und eine Reise - besonders so eine mit so vielen Teilnehmern - bringt etwas Neues. Man hat so eine schöne Illusion, aber es ist nicht nur eine Illusion, denn wenn man in Lissabon ist, ist man wirklich in dieser Stadt, in der ich früher nie gewesen war. Du siehst ganz komplette Bilder, so dass du Lust kriegst, noch einmal zurückzukommen.

Ali Al-Nasani: Welches Gefühl überwiegt im Exil, die Unsicherheit, das Nicht-Dazugehören, das Freisein oder das Fremde?

Stevan Tontić: Manchmal ist es sogar schön, nirgendwohin zu gehören, besonders wenn du siehst, dass viele deiner Bekannten, deiner Landsleute oder auch deine Freunde zu stark zu etwas gehören, wozu man eigentlich nicht gehören dürfte, z.B. einer Partei oder einer Bewegung, die nicht demokratisch ist. In diesem Sinne ist das Nicht-Dazugehören ein gutes Gefühl, aber es ist nicht gut, wenn du kein Land hast, zu dem du gehören möchtest.
Das Schlimmste ist die existentielle Ungewissheit: du hast keinen unbefristeten Aufenthalt, du kannst bald zurückgeschickt werden, du hast kein Recht zu arbeiten, hast keine Wohnung. Du hast keine sichere Existenz. Das alles gibt dir ein Gefühl einer vollkommenen Unsicherheit und Ungewissheit. Das ist sehr schlimm und psychisch bedrohlich. Du kannst kaum deine Ruhe finden, die du nötig hast, wenn du dichten möchtest oder etwas anderes schaffen möchtest. Es ist schwer, diese erwünschte Ruhe zu erreichen, um dann schöpferisch tätig zu werden.
Ich hatte bisher ein paar Stipendien in Deutschland, und ich bin dankbar, dass ich sie hatte. Das hat mich gerettet. Und auch jetzt habe ich von Oktober bis Dezember ein Stipendium in einem Dorf in Niedersachsen. Ich freue mich, dass ich für ein paar Monate gesichert bin. Aber das zeigt wiederum auch, dass ich wie ein Nomade lebe. Viele Exilautoren leben eine Nomadenexistenz. Sie ist vielleicht interessant für die jüngeren Leute, teilweise auch für mich, doch wenn sich das über viele Jahre so hinzieht, ist es nicht mehr so attraktiv, immer woanders nur für ein paar Monate mit deinen zwei Koffern zu wohnen.

Ali Al-Nasani: Wo sehen Sie bei der Übersetzung Ihrer Gedichte Probleme?

Stevan Tontić: Es ist ja bekannt, dass es bei Übersetzungen und Nachdichtungen viele Probleme gibt. Hauptproblem ist, dass ich keinen deutschen Dichter kenne, der serbisch oder kroatisch kann und der vielleicht dann auch meine Gedichte übersetzen könnte, oder dass ein Verlag bei ihm eine Übersetzung bestellen könnte. Es gibt zwar viele Slawisten, die unsere Sprache gut beherrschen. Aber das reicht noch nicht für Poesie, um eine gute Übersetzung oder besonders eine Nachdichtung zu erhalten. Besonders mit gereimten Gedichten ist das sehr schwierig, aber jeder Dichter, der in einem anderen Land lebt, in einer anderen Sprache, ist sozusagen ausgeliefert. Manch einer kann Glück haben, wenn er einen guten oder sogar kongenialen Übersetzer oder Nachdichter haben darf. Aber die anderen müssen sich auf ihre Art und Weise mit der Situation abfinden. Es ist nicht einfach für einen Lyriker, einen Verlag zu finden. Das Interesse für Lyrik ist nicht sehr groß, weil man damit kein Geld verdienen kann.


Stevan Tontić
Eines Tages entdeckte ich (1993)

Als die Brüder anhoben einander zu morden,
als Blut spritze auf den Marktplätzen und in den letzten Winkeln,
und man es bei manch einem Herrn anfing zu trinken,
hatte ich noch an die letzten Reste von Verstand geglaubt,
an die Kraft der Reue,
und gehofft: die Brüder würden sich doch noch
um den Tisch setzen.

In meiner Küche gab es dafür einen Tisch
noch fettglänzend von früherem Überfluss,
fettglänzend vom Glück häuslichen Lebens,
schimmernd vom Gespräch unter den Freunden.

Nicht einmal als Schrapnelle die Hausmauern durchlöchert,
war meine Hoffnung versiegt,
nicht Hunger, Kälte, Erniedrigung noch die Gemetzel
hatten ihr etwas anzuhaben vermocht.

Eines Tages entdeckte ich,
dass die Veilchen in unserer Wohnung gewelkt
- Veilchen, Dauerwachposten des Blühens! -
dass die Schlange schlief auf den Manuskripten,
dass der Rabe über dem Küchentisch krächzte,
und der Mörder dem Nachbarsmädchen zugurrte,
auf das er ein Auge geworfen,
- erst da war mir klar,
dass hier für uns keine Bleibe war.


(in: Handschrift aus Sarajevo, Verlag Landpresse, Weilerswist 1998, übersetzt von Bärbel Schulte)



Stevan Tontić
Affirmation (1987)

Für Jovan, zum dritten Todestag

Als uns der Tod
das Beste nahm,
weil Gott die, die er liebt,
jung zu sich nimmt,
ließ der Vater des Toten, der selten den Mund aufmachte,
das Reden für immer.

Seiner Meinung nach hatte ihn Gott,
da er ihm Jovan nahm,
schrecklich verraten,
seine Hände besudelt
und, da er den Vertrag brach,
auf unrühmliche Weise sich selbst widerrufen.

Ich traute mich nicht, ihm zu sagen,
dass dieses Mal, meiner Ansicht nach,
der arme Gott Bestätigung bei den Tontić gesucht hatte,
die für alle Zeiten verlorene Schafe sind
und die man von Zeit zu Zeit daran erinnern muss
wo und was sie sind und wem sie gehören.


(in: Handschrift aus Sarajevo, Verlag Landpresse, Weilerswist 1998, übersetzt von Angela Richter)


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