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Alexandra Pâzgu: Gib alles (Auszug)

Gedichte > Lyrik heute
Alexandra Pâzgu

Gib alles

(Aus dem Gedichtband "dă tot ce ai" (Gib alles), Tracus Arte Verlag)
(Sofia-Nădejde-Preis für Frauenliteratur, Lyrikdebüt)

Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke


33.
es kommt ein moment im leben jeder frau in dem
sie zwischen leben und projekt entscheiden muss
sagte susan sontag

dieses eine mal ist gekommen
und du fühlst dich komplett unvorbereitet so eine entscheidung zu treffen

männer müssen diese entscheidung nicht treffen

und du kannst nicht alle männer auf der welt deswegen hassen
und du kannst ab jetzt nicht nur frauen lieben
oder das was frauen tun

wie kann man weiter an liebe glauben
im leben weiterkommen
ohne die angst
etwas falsch gemacht zu haben

wie soll man das richtige tun
jeden tag
in diesem leben
in diesem projekt

und nichts bedauern


34.
die stunden eines tages sind gezählt
die meisten menschen leben zwischen arbeit und freizeit
zwischen dem gegenwärtigen rennen und dem projektion ihres lebens

ferien, leidenschaften bedeuten realitätsflucht

wenn man in einem zustand lebt der für den rest der welt
realitätsflucht heißt
ohne einen realen dialog zu führen, mit seinen mitmenschen
deren talent außer frage steht
dann sind die stunden der tagen gezählt


und die stunden und die stunden und die stunden
die stunden! virginia
es ist immer zu spät
zu spät für jedes kapitel
das für alle anderen bereits erfasst ist


emotionales und finanzielles gleichgewicht

job und familie

gesellschaft und intellekt

romane, geschichten

meine texte schreiben sich

selbst.

ich wiederhole sie so oft jeden tag,
dass meine stimme zu der stimme
der täglich erlebten sachen wird
mitten in einer emotionalen realitätsflucht


36.
marguerite duras meint man kann nur dann schreiben, wenn man einsam ist
und wenn man einsam ist muss man schreiben
und die einsamkeit ist ein haus
das man jahrelang bewohnt
das man einrichtet
in das man dann später seine freunde einladen kann.

aber alle werden fremde, wenn sie bei dir sind
und der einzige ort
an dem man zu hause ist
ist der schreibtisch
die gewohnheiten die sich rund ums schreiben bilden
die zimmer, die man mit protagonistengeschichten bevölkert

heute bin ich nach hause gegangen
und alle meine charaktere-geschichten
laufen ziellos auf den straßen herum
bevölkerten die städte in denen sie leben

meine einsamkeit wird erwidert
meine einsamkeit wird verschwendet

duras ist gestorben

jelinek lebt
aber jelinek kenne ich nicht
und alle meine protagonistengeschichten laufen herum
ohne ziel auf den straßen
bevölkern die texte die ich nie beende

weil das was einen schriftsteller heute ausmacht
nicht einsamkeit ist
nicht ein haus mit einem schreibtisch
kein fenster mit blick
a room of ones own wie virginia das sagt

es sind die menschen die auf den straßen herumirren
sagt jeli
die ganze welt weiß sowohl das was jeli sagt
als auch das was die ganze welt sagt über das was jeli sagt
was wichtiger ist als das was jelinek über die welt sagt
zumindest in der stadt in der ich lebe

literatur handelt von literatur

literatur kommt im fernsehen, sie ist eine show
das rumänische „the voice“ ohne smiley

bachmann sagt, man müsse sich nicht ändern
egal was käme

besser stirbt man

lyriker haben die fähigkeit
ewig in ihrer verrücktheit zu beharren

meine kolleginnen aus dem museum sagen
dass jeder job besser sei als

gar kein job

es ist eine feine sache morgens aufzuwachen
und genau zu wissen was man zu tun hat
und eine komplett andere keinen ort zu haben von dem man zurückkehrt
und das ist besser als gar nichts

wirklich

meine freundinnen aus der echten welt sagen,
dass man einmal pro woche etwas für sich tun muss
für seinen körper
(die seele ist eh hinüber ist)
sich sonnen,
zum yoga gehen
laufen gehen

meine freundinnen sagen,

dass gedichte und theater boring sind

meine mutter sagt man muss nicht immer

den schwierigsten weg der welt wählen

die geschichte der frauenliteratur und die aufzeichnungen
über die schicksale der frauen die schriftsteller sind

obwohl sie nie margueritte duras oder lauren elkin
gelesen hat

meine mutter ist die poetin des unterschieds, die meisterin des flanieren
und der strengste autodidakte
kritiker

oh gott, herta, wie du in die herzen
der rumänen eingetreten bist und vor allem
in die herzen unserer mütter
die dich in übersetzung lesen und dich so sehr
schätzen.

hier folgt eine leere seite
damit sich die leser überlegen können

was sie sagt.


Alexandra Pâzgu, geb. 1985 in Sibiu (Hermannstadt), Rumänien, lebt als Autorin und Dramaturgin in Wien. Sie schreibt poetische und performative Texte und interessiert sich für Post-Repräsentation, Sprache, interkulturelles Leben und Artistic Research. Sie ist Mitgründerin des balanders theaterkollektiv und des Kollektiv Weiter in Wien. 2011 absolvierte sie ein Masterstudium für Szenisches Schreiben in Târgu-Mureș und 2018 promovierte sie im Bereich Theater und Bühnenkunst binational an der Universität Gießen und der Babeș-Bolyai-Universität in Cluj-Napoca. Erste deutschsprachige Texte schrieb sie im Rahmen des Writers Room der Wiener Wortstaetten. Seit 2017 ist sie Mitglied des europäischen Netzwerks Fabulamundi – Playwriting Europe. 2020 wurde ihr der Sofia-Nădejde-Preis für Dramaturgie (scena.ro) verliehen. 2021 erhielt sie ein Stipendium des Deutschen Kulturfonds im Rahmen des Projekts Neustart Kultur. Im gleichen Jahr wurde im Tracus Arte Verlag ihr Debütgedichtband Dă tot ce ai/Gib alles veröffentlicht, der mit dem Alexandru-Mușina-Sonderpreis ausgezeichnet wurde. Sie erhielt außerdem das jährliche Wiener Stipendium für Dramaturgie, um über Arbeit und Migration aus einer post-humanistischen Perspektive zu forschen und zu schreiben.
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