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Alexandra Bernhardt: Zwischen den Zeilen

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
Zwischen den Zeilen
Leo Strauss und die Kunst des Schreibens in Zeiten der Verfolgung

von Alexandra Bernhardt


Die Kunst des verdeckten Schreibens

Als Stefan Andres 1935 seine Erzählung El Greco malt den Großinquisitor schrieb, befand sich Deutschland im Zustand der Barbarei. Die Allgegenwärtigkeit des sogenannten Dritten Reiches zwang nonkonforme Künstler und Intellektuelle in die Defensive; wer nicht ins Exil gehen konnte oder wollte, dem blieb nur das, was späterhin als Innere Emigration bezeichnet werden sollte. Das Mittel, das den regimekritischen Schriftstellern jener Ära blieb, ihre Zeit gegen die Gefahr von Zensur und Übergriff künstlerisch zu erfassen, war dabei einzig das des verdeckten Schreibens.
      Was 1939 Bertolt Brecht fordern sollte, daß nämlich derjenige, der unter Umständen wie denen des Faschismus gegen Lüge und Unwahrheit anschreiben will, sich mit vor allem fünf Schwierigkeiten konfrontiert sieht, galt bereits Jahre zuvor für Andres: Jener nämlich muß „den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird; die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List, sie unter diesen zu verbreiten.“
   Entsprechend bedient sich auch Andres in seiner Erzählung einer List, näherhin der historischen Camouflage. Nur vordergründig beherrscht das historische Faktum der Arbeit El Grecos am Portrait des Kardinalinquisitors Don Fernando Niño de Guevara die poetisch ausgeschmückten Erzählung; in Wirklichkeit thematisiert Andres den Totalitarismus des Dritten Reichs, indem er eine Parallele zwischen der eigenen Epoche und jener der spanischen Inquisition zieht.
      Jene Technik, das heißt, die, wie Werner Bergengruen es auf den Punkt brachte, „immer mehr sich verfeinernde Kunst des Schreibens [...] zwischen den Zeilen“, sollte 1952 ein deutsch-stämmiger Philosoph der nahezu gleichen Generation wie Andres zum Gegenstand eines Essaybandes machen: Leo Strauss.


Lesen zwischen den Zeilen

Anders als Andres, der erst 1937 und lediglich im faschistischen Italien Exil fand, konnte Leo Strauss aufgrund günstiger Umstände tatsächlich und frühzeitig emigrieren.
     1899 im hessischen Kirchhain als Sohn orthodox geprägter jüdischer Eltern geboren, studierte Strauss zunächst an den Universitäten Marburg, Frankfurt am Main, Berlin und zuletzt Hamburg Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften, bevor er 1921 bei Ernst Cassirer in Philosophie promovierte. Anschließend hörte er in Freiburg im Breisgau Husserl, Ebbinghaus und Heidegger. Nachdem er seit 1925 Mitarbeiter der Akademie für die Wissenschaft des Judentums in Berlin gewesen war, verschlug es ihn im Jahr 1932 im Zuge seiner Hobbes-Forschungen zuerst nach Paris und zwei Jahre später nach England. Von dort aus emigrierte Strauss 1938 in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er künftig in New York City und Chicago sowie als Emeritus in Annapolis, Maryland, lehrte. Ebendort verstarb Leo Strauss im Jahr 1973.
     In seiner Arbeit, die neben theologischer vor allem der politischen Philosophie gewidmet war, orientierte sich Strauss vornehmlich an Platon, dem er sich auch in seinem Programm anschloß, die bloße Meinung in gewisse Erkenntnis zu verwandeln sei erste Aufgabe der Philosophie. Seine eigenen Erkenntnisse transportierte Strauss dabei hauptsächlich in Form der historischen Interpretation sowie des Kommentars, wobei er sich ebenso stet wie strikt gegen jeden Historismus verwehrte. In seinen Werken beschäftigte er sich mit so unterschiedlichen Denkern wie Nietzsche, Rousseau, Hobbes, Machiavelli, Maimonides, Al-Farabi, Thukydides, Xenophon und Platon respektive deren beider implizitem Sokrates.
    Die intensive Auseinandersetzung mit den Quellen islamischer und jüdischer Philosophie des Mittelalters brachte ihn dabei auf den Gedanken der Notwendigkeit einer ,sociology of philosophy‘ in Ergänzung zur ,sociology of knowledge‘. Nach Strauss’ Ansicht nämlich sind die Philosophen sämtlich nicht mit ihrer jeweiligen Zeit und deren Umständen in Einheit zu sehen, sondern mit allen Vertretern ihrer Zunft gleich welcher Epoche. Das sie einigende Moment näher zu untersuchen, insbesondere im Hinblick auf das problematische Verhältnis von Politik und Philosophie, gab schließlich einen der Anstöße für die Essaysammlung Persecution and the Art of Writing.


Verfolgung

Daß mit 1952 das Ersterscheinungsjahr von Persecution and the Art of Writing mit dem der Entstehung von Arthur Millers The Crucible zusammenfällt, ist, wenn man Strauss’ Forderung nach einem ,reading between the lines‘ auch in zeitgeschichtlicher Hinsicht folgt, kaum als Zufall zu werten. So heißt es im Klappentext der deutschen Erstausgabe von Hexenjagd im S. Fischer Verlag 1954: „An einem historischen Beispiel wird gezeigt, wie aus Angst, Mißtrauen, Massenwahn, Dummheit, Eigennutz und Hysterie Massenverfolgungen entstehen, sich ausbreiten und unschuldige Opfer fordern. Die Parallelen des Dramas mit unserer Zeit liegen unabweisbar auf der Hand.“ Das die McCarthy-Ära prägende House of Un-American Activities Committee (HUAC) hatte sich entsprechend bereits 1938 und damit im Vorfeld der Entstehung aller in dem Essayband veröffentlichten Schriften etabliert.
     Die Hauptthese, die sich im Straussschen Postulat nach einem Lesen zwischen den Zeilen bereits andeutet, ist die, daß es seit je eine ,Kunst des sorgfältigen Schreibens‘ (Heinrich Meier) gibt, die sich insbesondere am Paradigma gesellschaftlicher und politischer Verfolgung zeigen läßt, und die zu entdecken ein entsprechend sorgfältiges Lesen – ein ,close reading‘ – der jeweiligen Quellen erfordert. Im besten Falle enthüllt sich dem sorgfältigen Leser dann neben der exoterischen Lehre der rein rhetorischen Rede eine esoterische Lehre, die – metaphorisch gefaßt – zwischen den Zeilen verborgen liegt.
    Neben dem Essay über Verfolgung und die Kunst des Schreibens enthält der Essayband entsprechend drei weitere Aufsätze, in denen Strauss seine These gleichsam selbst zur Anwendung bringt. Dies geschieht, indem er seiner Herangehensweise besonders entgegenkommende Texte jeweils für sich interpretiert, namentlich den Führer der Unschlüssigen von Moses Maimonides, den Kusari von Judah ha-Levi und schließlich Spinozas Tractatus logico-politicus.
      Grundsätzlich ist Strauss der Ansicht, daß die Philosophie in einem Spannungsverhältnis zum politischen Gemeinwesen steht, wenn sie Gemeinplätze hinterfragt und allgemein verbreitete Überzeugungen nicht automatisch als evident hinnimmt.
    In Systemen repressiver Natur, die Strauss betont unspezifizisch ,in einer beträchtlichen An-zahl von Ländern‘ ansiedelt, konstatiert er das Phänomen, daß Lüge im Wechsel der Generationen zur vermeintlichen Wahrheit wird, wenn von scheinbar verläßlicher Stelle das Falsche nur oft genug wiederholt wird, um die Mehrheit, also oƒ pollo…, gerade der jüngeren Generation einzulullen. Bei einer Minderheit hingegen bilde sich ein eigenständiges Denken aus, welches sich auf die eine oder andere Art äußern müsse. Das heißt, selbst bei extremer Unfreiheit von Meinung und Rede wird ein unabhängiger, freier Geist immer den Gedanken formulieren können: ,Was aber, wenn alles ganz anders ist?‘
    Daß eine Lüge universalen Ausmaßes für die meisten unvorstellbar ist, hindert also keinesfalls ihre Entlarvung. Tatsächlich hält Strauss es für schlichtweg unmöglich, den freien Geist zu unterdrücken. Denn im Zweifelsfalle werde sich ein solcher eben nur vertrauenswürdigen Personen gegenüber äußern.
   Eine erfolgversprechendere Ausdrucksmöglichkeit in Zeiten von Repression und Verfolgung ist allerdings das verdeckte ,Schreiben zwischen den Zeilen‘.


Die Kunst des Schreibens

Am Beispiel eines insgeheim liberalen Historikers in einem totalitären Staat veranschaulicht Strauss die Möglichkeit, in einem scheinbar ,linientreuen‘ Werk den entscheidenden Hinweis für den idealen oder Modell-Leser zu verbergen: der Historiker wird endlos gegen den Liberalismus der Dissidenten wettern, an einer bestimmten Stelle aber seine eigene, der abweichlerischen durchaus entsprechende Meinung dadurch andeuten, daß er die heterodoxen Ansichten und Argumente in einer Klarheit anführt, wie dies zuvor niemals getan wurde. Kein Problem in Bezug auf etwaige Zensur, denn der betreffende Historiker fungiert ja nur als Advocatus diaboli. Ein geschulter und aufmerksamer Leser jedoch wird sich an bestimmten Stellen stoßen, das Buch immer wieder zur Hand nehmen, weitere Andeutungen entdecken und so von der Wahrheit entflammt werden, die er in der Abhandlung des Historikers erahnen kann.
    Der springende Punkt ist, daß sich diese ,peculiar technique of writing‘ lediglich an ein äußerst exklusives Publikum wendet – ebenso vertrauenswürdige wie verständige Leser nämlich.
  Daß der Autor unter ungünstigen Umständen belangt werden könnte, sieht Strauss dabei als ausgeschlossen an. Zu unabdingbar wie unmittelbar evident scheint ihm für diese Art des codierten Schreibens die Voraussetzung, daß der Zensor den inkriminierten Gegenstand seiner Untersuchung nicht finden wird, denn: „thoughtless men are careless readers, and only thoughtful men are are careful readers“ (Seite 25). Zudem können, da Tugend Erkenntnis voraussetzt, im Anschluß an Sokrates, wahrhaft weise Menschen nicht schlecht sein.
  Im schlimmsten Falle also, das hieße bei einer tatsächlichen Überprüfung des betreffenden Werkes mit dem Ziele der Zensur, stünden die verbotenen Aussagen einfach nicht da oder eben nur als Zitat. Zudem dürfte es einem Zensor schwerfallen, dem Autor dessen absichtsvolle Stümperei in Stil oder Argumentation als gedankliche Subversion nachzuweisen. Ein Gedanke nebenbei, der sich auch in Karl Kraus’ Diktum wiederfindet, daß Satiren, die der Zensor versteht, mit Recht verboten werden.
 Unwürdige, wie etwa Historisten, haben nach Strauss keine Aussicht darauf, jemals zur Wahrheit zu gelangen. Sie werden immer treu das a=b der exoterischen Lehre für wahr nehmen, auch wenn noch so oft zwischen den Zeilen a≠b gesagt wird – wenigstens solange sie sich weigern, die Existenz eines Codes auch nur in Betracht zu ziehen.
   Strauss führt zu diesem Problem und dem damit verbundenen geschichtlichen Wandel weg von der Vernunft verschiedene Beispiele an, etwa den Umstand, daß sich die Sichtweisen zu Autoren wie Hobbes oder Montesquieu über eine relativ kurze Zeitspanne hinweg völlig verkehrten, nur weil man ihre esoterischen Möglichkeiten übersehen hatte. Besonders Hobbes mißt Strauss dabei exemplarische Bedeutung bei. Im Zusammenhang mit jenen Vertretern einer aufklärerisch orientierten Richtung der Philosophie, die sich im besonderen der Bildung des Nachwuchses verschrieben hatten, bemerkt er, daß es in deren Büchern vergleichsweise einfach sei, zwischen den Zeilen zu lesen, und zitiert hierzu explizit Hobbes mit „paulatim eruditur vulgus“. Wie Friedrich Niewöhner einmal bemerkte, verstand Strauss seine Untersuchungen zu Hobbes dabei offensichtlich selbst als eine Art Einführung in den Führer der Unschlüssigen, entstanden doch parallel zu The Political Philosophy of Hobbes. Its Basis and Its Genesis Studien zu Maimonides. Insofern der Führer der Unschlüssigen in Briefform gehalten ist, drängt sich der Verdacht eines Codes im Straussschen Sinne jedenfalls geradezu auf. In der Tat diente der literarische Brief zu allen Zeiten auch der Verkleidung des Gesagten, wie etwa die besonders im 18. und 19. Jahrhundert populären Reisebriefe anschaulich belegen.
   Ein weiteres Beispiel für die Virulenz in der Beschränkung auf die explizite Lehre von Denkern ist die nahezu gänzlich vernachlässigte Bedeutung des Umstandes, daß Platon, neben seinen heute rezipierten exoterischen Schriften, eine esoterische Prinzipienlehre vertrat, wie wir etwa durch Aristoteles wissen. Daß diese Lehre tatsächlich von beträchtlicher Bedeutung war, beweist nicht zuletzt Platons berühmte Schriftkritik. Seit Schleiermachers Interpretation jedoch spricht kaum noch jemand von Ideenzahlen und ¢rca….
  Strauss konstatiert in diesem Zusammenhang denn auch, daß Philosophen eigentlich nie in günstigen Umständen leben. Zumeist sind sie zu ihrer Zeit verfolgt, gesellschaftlichen Ächtungen unterworfen oder doch wenigstens mißverstanden. Daß dies auch für das vergangene 20. Jahrhundert und auch in sogenannten liberalen Systemen Geltung hat, belegen Namen wie Martin Heidegger oder Ernst Jünger, denen im Zusammenhang mit der Ideologie des Nationalsozialismus zeitweise eine Art ,Ächtung‘ unter umgekehrten Vorzeichen widerfuhr und widerfährt.


Schreiben ohne Verfolgung

Für die Gegenwart – und zwar speziell diejenige demokratischer Länder ohne offizielle politische Verfolgung – könnte man ansetzen, daß unliebsame Ansichten einfach nicht in Druck gehen oder anderweitig publik gemacht und verbreitet werden – ganz legal und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entsprechend. Ein Beispiel von legaler Zensur der jüngeren Vergangenheit stellt etwa die Weigerung des Rowohlt-Verlages dar, das eigentlich zur Veröffentlichung angenommene Manuskript Endstufe des Autors Thor Kunkel auch tatsächlich zu drucken. Ohne über Inhalt und Bedeutung des schließlich bei Eichborn untergekommenen Buches spekulieren zu wollen und die betreffende seinerzeitige öffentliche Diskussion unbesehen, bleibt die schlichte Feststellung, daß Verlagen eine nicht zu unterschätzende Machtposition im weiten Feld der freien Rede zukommt.
   Ungleich wichtiger noch scheinen der Einfluß der Medien auf das verfassungsgemäß garan-tierte Recht auf freie Meinungsäußerung wie auch ihre Fähigkeit, eben in Anwendung dieses Rechtes die öffentliche Meinung zu bilden.
   Gerade im weiten Feld medialer Meinungsspektakel kann regelmäßig beobachtet werden, wie leicht Mißverständnisse Raum greifen, wenn man es weder mit dem gesprochenen noch mit dem geschriebenen Wort allzu genau nimmt. Eine verzerrte Darstellung von Kernaussagen, aus dem Zusammenhang gerissene Argumente oder willkürlich gesetzte Vermutungen über die Provenienz provokanter Thesen sind dann auch eine Gefahr für die Philosophie. Wenig überraschend war es gerade Leo Strauss, der mit seiner „Theorie von der Kunst des doppelten Schreibens“ (Friedrich Niewöhner) noch bald 30 Jahre nach seinem Tod in eine bisweilen absurde Kontroverse um die Bedeutung seiner Lehre geraten ist.


Schreiben zwischen den Zeilen

Wie Strauss in Persecution and the Art of Writing so überaus anschaulich aus- und vorführt, ermöglicht es die Technik der verdeckten Schreibweise, über das exoterische Werk zwei Lehren zu verbreiten: „a popular teaching of edifying character, which is in the foreground; and a philosophic teaching concerning the most important subject, which is indicated only between the lines.“ (Seite 36) Die vielfältigen Möglichkeiten des Codes – etwa „obscurity of the plan, contradictions, pseudonyms, inexact repetition of earlier statements, strange expressions“ (ibidem) oder sogar „omission of important links of the argument“ (Seite 31) – sind geeignet, die wenigen anzusprechen, die hören w o l l e n, beziehungsweise, den philosophischen Nachwuchs zu rekrutieren und zu bilden. Die Gestalt der ,edlen Lüge‘ ist Strauss zufolge Ausdrucksform des wahrhaft weisen (und verantwortungsvollen) Philosophen, insofern er mit ihrer Hilfe denjenigen, die den entscheidenden Einsichten intellektuell gewachsen sind, zur ungleich edleren Wahrheit verhilft.
    Daß ein derart elitäres Konzept sich Feinde machen muß, liegt auf der Hand. Ironischerweise und gleichsam als Bestätigung der Straussschen Gedanken über Verfolgung und die Kunst des Schreibens, hatte sich sich im Zuge der amerikanischen Außenpolitik noch zu Anfang dieses Jahrhunderts ein regelrechtes Strohfeuer an Debatten, Extrapolationen und Verschwörungstheorien rund um den Philosophen selbst und das politisch wie philosophisch bunte Kaleidoskop derer, die sich als straussians bezeichnen, entzündet.
   Das besonders Bemerkenswerte an Persecution and the Art of Writing ist dabei, daß Strauss selbst einige der von ihm beschriebenen Techniken in seinem Essay anwendet. Wenn er etwa bezüglich der problematischen Beziehung von Politik und Philosophie von logica equina und Swifts Houyhnhnms spricht, so ist das nicht nur für seine Argumentation eigentlich unerheblich, sondern er hebt zudem implizit auch auf die Yahoos ab – mit allen gewünschten Implikationen. Das Beispiel eines unter totalitären Umständen mit dem Liberalismus sympathisierenden Historikers wählt der Liberalismus-Kritiker Strauss wohl auch kaum zufällig. Und die Beantwortung der Frage, die Strauss am Schluß seines Essays stellt, nämlich von welchem Nutzen diese Form exoterischer Literatur in liberalen Gesellschaften sein könnte, fällt – mit einem Wort – obskur aus: „Education“, so heißt es am Ende des Essays, sei nach Ansicht der Philosophen, „the only answer to the always pressing question, to the political question par excellence, of how to reconcile order which is not oppression with freedom which is not license.“ (Seite 37)
   Auf diese Weise gelingt es Strauss auch nach seinem Tode, sich der falschen Vereinnahmung seiner Person und seines Werkes aufs wirkungsvollste zu entziehen. Denn weder der Versuch, irgendeine Form realer Politik anhand der Straussschen Werke zu legitimieren, noch hysterische Unterstellungen wie die von Chauvinismus, Faschismus, Machiavellismus et cetera hielten einer ernsthaften Überprüfung irgend stand.
   Und schließlich, was genau Strauss für eine Meinung vertrat, ob er sich bei Abfassung seiner Arbeit gar selbst verfolgt wähnte, ob er sich an die vielen wandte, an den Zensor oder doch nur an den „intelligent and trustworthy reader“, den es aus dem Schlaf der Vernunft zu wecken gilt, muß jeder selbst herausfinden – denn die crux des ,writing between the lines‘ bleibt zuletzt deren wahrer Adressat und damit die Frage: mass or class?


Literatur

- Andres, Stefan. El Greco malt den Großinquisitor. Mit einem Nachwort von Wilhelm Große. Stuttgart: Reclam, 1994.

- Eco, Umberto. Lector in fabula. La cooperazione interpretativa nei testi narrativi. Milano: Bompiani, 1979 (deutsch: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München: Hanser, 1987).

- Miller, Arthur. The Crucible. New York: Viking, 1953 (deutsch: Hexenjagd. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1954).

- Strauss, Leo. Persecution and the Art of Writing. Chicago; London: University of Chicago Press, 1952 (Neuauflage: 1988).


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