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Alexander Moritz Frey: Der Mensch und andere Erzählungen

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Bernd Lüttgerding

Alexander Moritz Frey: Der Mensch und andere Erzählungen. Herausgegeben von Paola Mayer und Rüdiger Mueller. Coesfeld (Elsinor Verlag) 2021. 320 Seiten. 20,00 Euro [D]).

Menschen und was sie treibt


Man behauptet, Dummheit regiere die Welt. Wollen wir nicht lieber sagen, Schreck regiert und zerstört sie? Nicht der Schrecken, sondern das Erschrecken. Aus ihm explodiert alles weitere. Erschrick - und dann verbreite den Schrecken! Die milde Dummheit, sie wäre zu langsam auf ihrem Weg um die Erde.
A. M. Frey

Oft, wenn über Krieg geredet wird, muss ich an Alexander Moritz Frey denken, der zwei Weltkriege erlebt hat, oder dessen Erwachsenenleben vielmehr ganz mit Krieg belegt war. Sein erstes Buch (Dunkle Gänge. Zwölf Geschichten aus Nacht und Schatten) war 1913 erschienen, als 1914 sein erster Roman Solneman der Unsichtbare herauskam (Neuauflage im Elsinor Verlag, Coesfeld 2010 und als Sonderausgabe mit einem Vorwort von Sibylle Lewitscharoff 2021) ging es los mit Krieg und Kriegskommunikation. Frey ist im Ersten Weltkrieg als Pazifist weder in die Schweiz, noch nach Norwegen gegangen, sondern hat sich zum Sanitätsdienst einziehen lassen. Und als er am 24. Januar 1957 starb, war immer noch Krieg, zwar inzwischen erkaltet, doch kalt ging er weiter.

Alexander Moritz Frey scheint ein eigensinniger Mensch gewesen zu sein. Er war Vegetarier und verteidigte Tierrechte, aber anders als Hitler und Savitri Devi war er kein Nazi, sondern im Gegenteil entschiedener Pazifist und Gegner des Faschismus. Konsequent war er auch gegen Jagd und trank keinen Alkohol. Und trotzdem gelang es ihm bis zum Ende seines Schriftstellerlebens, das Dümmste, das Absurdeste oder Grausamste mit noch nicht mal besonders bitterem Humor zu beschreiben. Während des ersten Weltkriegs hatte Frey tatsächlich Hitler (wohl eher flüchtig) im Schützengraben kennengelernt. Der belästigte ihn später mit der Bitte um Unterstützung für die "Bewegung", was Frey veranlasste, am 15. März 1933 schließlich doch zu emigrieren, zunächst nach Österreich, dann in die Schweiz.
       Übrig von diesem Schriftstellerleben blieben neben unzähligen Rezensionen und anderen Zeitungsarbeiten zehn Romane und zwölf oder dreizehn Bände mit Erzählungen.
         Mit Hölle und Himmel (Zürich, 1945) schrieb er einen der besten Exilromane, in dem er die Grausamkeiten der Zeitläufe in einer besonnenen Schweizer Träumerei aufgehen lässt. Er ist eben ein unbestechlicher Humorist, dem es gelingt, sich nie in Blasen einzurichten, der immer hingeguckt hat, die Absurditäten der Wirklichkeit geschluckt und sich anverwandelt, so dass er seinem Abscheu ein Lächeln in den Mundwinkel stecken konnte, wenn er ihn erzählte.
       Gut aber sind alle seine Romane seit der überdreht rebellischen Phantastik von Solneman: die Robinsonade zu Zwölft (München 1925), Neuauflage im Elsinor Verlag, Coesfeld 2014, worin ein lustiges Gesellschaftsexperiment nach einem Flugzeugabsturz im Himalaya erzählt wird, der Billy-Wilder-wilde Roman Viel Lärm um Liebe (München 1926), die sarkastische Biographie-Satire Das abenteuerliche Dasein (Berlin 1930), die überragende Robinsonaden-Variation Spuk auf Isola Rossa (Zürich, 1945) in der Robinson von einer Touristenmasse heimgesucht wird, die das relative Paradies seines Gestrandetseins zerstört. Ich lasse die unvollständige Reihe enden mit Verteufeltes Theater (Wiesbaden 1957), Neuauflage bei Elsinor, mit einem Nachwort von Paola Mayer und Rüdiger Mueller, Coesfeld 2019, einem Mephisto-Roman, in dem Frey noch einmal alle Register zog, eh er noch vor Erscheinen des Buchs einem Schlaganfall erlag.

Anfangen aber sollte man heute mit Die Pflasterkästen. Ein Feldsanitätsroman. (Berlin 1929) (Neuauflage im Elsinor Verlag, Coesfeld 2011, 2. Auflage, Coesfeld 2021), dem besten deutschsprachige Antikriegsroman des 20. Jahrhunderts.
      (Franzosen erklären oft mit Nachdruck und vorsorglich gegen Widerspruch eingezogenem Nacken, der beste Antikriegs-roman überhaupt sei Ernst Jüngers In Stahlgewittern, worauf ich inzwischen gewohnheitsmäßig diplomatisch mit der Ergänzung reagiere, "aber nur, wenn man ihn nach Freys Pflasterkästen liest!" - Bezeichnend ist auch, dass Jünger sich direkt nach dem Krieg an die Arbeit machte, um die posttraumatische Depression zu überwinden, Frey hingegen das Erlebte zehn Jahre lang verdaute, eh er es niederschrieb.)

Der Erste Weltkrieg hatte ja mit vielen anderen Kriegen gemeinsam zwei Gesichter, das sorgenvolle Pastorengesicht der Öffentlichkeitsarbeit und die handfesten wirtschaftlichen und geopolitischen Hintergründe. Erinnernswert ist das anfängliche Gejubel in der Bevölkerung aller Parteien, die glauben wollten, für eine gerechte Sache auszuziehen, die es diesmal wirklich nötig mache, zu den Waffen..., usw.  – Arthur Ponsonby, ehemaliger Page der Queen Victoria, untersuchte und beschrieb in seinem Buch Falsehood in Wartime (1928), deutsch als Absichtliche Lügen in Kriegszeiten (Seeheim, 1967), die Techniken der Kriegspropaganda aller am Ersten Weltkrieg teilnehmenden Staaten. Schon dort steht der vielzitierte Satz: „When war is declared, truth is the first casualty“. Das musterhafte Vorgehen, das Ponsonby feststellt, hat die belgische Historikerin Anne Morelli 2001 systematisiert und aktualisiert in ihrer Schrift Principes élémentaires de propagande de guerre. Utilisables en cas de guerre froide, chaude ou tiède (Brüssel 2001), deutsch als Die Prinzipien der Kriegspropaganda (zuletzt Springe, 2014), zu zehn Punkten:

1.    Wir wollen den Krieg nicht.
2.    Das gegnerische Lager trägt die alleinige Verantwortung für den Krieg.
3.    Der Führer des Gegners hat dämonische Züge.
4.    Wir kämpfen für eine gute Sache.
5.    Der Gegner kämpft mit verbotenen Waffen.
6.    Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, bei uns handelt es sich um Irrtümer aus                 Versehen.
7.    Unsere Verluste sind gering, die des Gegners enorm.
8.   Angesehene Persönlichkeiten, Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere                 Sache.
9.   Unsere Mission ist heilig.
10. Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, steht auf der Seite des Gegners und ist ein               Verräter.

Der Held der Pflasterkästen verdient diese altmodische Bezeichnung tatsächlich, sein Heldentum liegt in seiner ratlosen Distanz gegenüber der Öffentlichkeitsarbeit und der Begeisterung, die sie erzeugt, in seinem Versuch, unter den gegebenen Umständen das Richtige zu tun, und in seinem schmerzenden Sinn für die Absurdität, für Grausamkeit und verschwenderische Zerstörung, wo ein Ökonom vielleicht schon von Verträgen für den Wiederaufbau träumt...

Die vorliegende Sammlung nun wird angeführt von der Erzählung Der Mensch (erstmals: Amsterdam, 1940), einer weiteren Robinsonade in Freys robinsonadenreichem Œuvre; diesmal erscheint sie als Parabel über "schöpferische Zerstörung" und "Innovation" im modernen "postfamiliären" Rahmen. Es geht da um gerissene Traditionslinien, in dem entwurzelte und gestörte Eltern vollkommen gestörte Kinder hervorbringen, deren Erfolg auf ihrem Unverständnis für ihre Vergangenheit gründet, ein Gedanke, den, glaube ich, vor ein paar Jahren dann Peter Sloterdijk in seinem Buch Die schrecklichen Kinder der Neuzeit umkreist hat.
      Ebenso parabelhaft sind auch die übrigen Erzählungen, satirische Denkspiele eines notorischen Erzählers. Schön ist die thematische Anordnung unter Titeln, die diese Lesart unterstreichen: Menschen gegen einander: Ideologien / Menschen unter einander: Gesellschaft, Beziehungen / Menschen unter Tieren: Hinterfragungen und Menschen in sich: Psychologie. Und selbst die künstlerisch vielleicht schwächeren der hier vorgestellten Erzählungen machen Spaß, weil sie wie Vorstudien wirken zu den Problematiken in Freys Romanen.
          Dieser Sammlung geht es nicht darum, Frey als Könner bekannter zu machen. Sie will uns tiefer in sein Denken hineinführen. Das gute, ausführliche Vorwort der Herausgeber Paola Mayer und Rüdiger Mueller tut dazu ein Übriges.

Sieben Bände von Alexander Moritz Frey hat der Elsinor Verlag schon wiederveröffentlicht. Ich hoffe, es ist mir gelungen, hier deutlich zu machen, wie sehr ich mich darüber freue.
     Aber was es auf längere Sicht braucht, lieber Elsinor Verlag, ist eine sorgfältige Gesamt-ausgabe in Textileinbänden und mit Lesebändchen, die uns bestenfalls auch mehr Einblicke in Freys Nachlass gäbe. Ich würde sofort subskribieren.
 


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